Kurt Tucholsky – Gesammelte Werke – Prosa, Reportagen, Gedichte

- -
- 100%
- +
»Na, und sonst, Karlchen?« – »Sonst hat sich Jakopp Pastillen gekauft, weil er doch so viel raucht. Und wenn er raucht, dann hustet er doch so. Du kennst das ja – es ist ein ziemlich scheußlicher Anblick. Und jetzt hat er sich gegen das Rauchen ein Mittel besorgt: Fumasolan heißen die Dinger. Hm –« – »Na und? Helfen sie?« – »Nein, natürlich nicht. Aber er sagt: seit er das nimmt, verspürt er eine merkwürdige Steigerung seiner Manneskräfte. Das stört ihn sehr. Ob sie ihm die falschen Pastillen eingepackt haben?« – So ging alles in Jakopps Leben zu, und wir hatten viel Freude daran.
»Gib mal eine Karte. Was wollen wir ihm denn …?« Endlich hatte ich es heraus. Wir wollten ihm eine Telegrammkarte schicken, weil das tägliche Telegramm, das ihn gestört und herrlich aufgebracht hätte, zu teuer gewesen wäre. Wir telegraphierten also fortab auf Karten entsetzlich eilige Sachen – heute diese:
hergeflogenes karlchen soeben fast zur gänzeeingetroffen drahtet sofort, ob sofort drahtenwollt stop großmutti leider aus schaukel gefallengroßvatiDiese schwere Arbeit hatten wir hinter uns … nun ruhten wir aus und sagten erst mal gar nichts. Da kam die Prinzessin.
Sie hatte vielerlei Knöpfchen eingekauft; es ist rätselhaft, was für eine Fülle von Waren Frauen noch in den kleinsten Ortschaften entdecken. Und Geld hatte sie auch nicht mehr, und ich zog mit gefurchter Stirn die Brieftasche und tat mich sehr dick. Dann legten wir uns ins Gras.
»Geht euch das eigentlich auch so«, sagte Karlchen, der hier schon völlig zu Hause war, »daß ihr euch so schwer erholt? Erholung ist eine Arbeit, finde ich. Man macht und tut, auch wenn man gar nichts tut – und man merkt es erst hinterher, wie …?« – »Hm«, machten wir; wir waren zu faul, zu antworten. Es knisterte. »Steck die Zeitungen weg!« sagte ich. »Habt ihr gelesen …?« sagte er. Und da war es.
Da war die Zeit.
Wir hatten geglaubt, der Zeit entrinnen zu können. Man kann das nicht, sie kommt nach. Ich sah die Prinzessin an und zeigte auf die Zeitung, und sie nickte: Wir hatten heute nacht davon gesprochen, davon und von der Zeit und von dieser Zeit … Man denkt oft, die Liebe sei stärker als die Zeit. Aber immer ist die Zeit stärker als die Liebe. »Gelesen … gelesen …«, sagte ich. »Karlchen, was liest du jetzt eigentlich für eine Zeitung?« – Er nannte den Namen. »Man soll nicht nur eine lesen«, lehrte ich weise. »Das ist gar nichts. Man muß mindestens vier Zeitungen lesen und eine große englische oder französische dazu; von draußen sieht das alles ganz anders aus.« – »Ich muß mich immer wundern«, sagte die Prinzessin, »was unsereiner da so vorgesetzt bekommt. Seht mal – Zeitungen für uns gibt es eigentlich gar nicht. Sie tun immer alle so, als ob wir wer weiß wieviel Geld hätten – nein, als ob es gar kein Geld auf der Welt gäbe … dabei wissen sie genau: wir haben nur wenig – aber sie tun so. Was sie uns da alles erzählen … und was sie alles abbilden!« – »Geronnene Wunschträume. Du sollst schlafen, du sollst schlafen, du sollst schlafen, liebes Kind!« – »Nein, das meine ich nicht«, sagte die Prinzessin. »Ich meine, sie sind alle so furchtbar fein. Noch wenn sie den Dalles schildern, ist es ein feiner Dalles. Sie schweben eine Handbreit über dem Boden. Ob mal ein Blatt sagt, wie es nun wirklich ist: daß man am Zwanzigsten zu knapsen anfängt, und daß es mitunter recht jämmerlich und klein ist, und daß man sich gar nicht so oft ein Auto leisten kann, von Autos kaufen überhaupt nicht zu reden, und mit ihrer lächerlichen Wohnungskultur … haben wir vielleicht anständige Wohnungen?«
»Die Leute fressen einen auf«, sagte ich. »Das Schlimmste ist: sie stellen die Fragen und sie ziehen die Kreise und sie spannen die Schnüre – und du hast zu antworten, du hast nachzuziehen, du hast zu springen … du kannst dir nichts aussuchen. Wir sind nicht hienieden, um auszusuchen, sondern um vorliebzunehmen – ich weiß schon. Aber daß man lauter Kreuzworträtsel aufbekommt: Rom gibt dir eins auf und Rußland eins und Amerika und die Mode und die Gesellschaft und die Literatur – es ist ein bißchen viel für einen einzelnen Herrn. Finde ich.«
»Wenn man sich das recht überlegt«, sagte Karlchen, »sind wir eigentlich seit Neunzehnhundertundvierzehn nicht mehr zur Ruhe gekommen. Spießerwunsch? Ich weiß nicht. Man gedeiht besser, wenn man seinen Frieden hat. Und es kommt alles nach – es wirkt so nach … Weißt du noch: der allgemeine Irrsinn in den Augen, als uns das Geld zerrann und man ganz Deutschland für tausend Dollar kaufen konnte? Damals wollten wir alle Cowboys werden. Eine schöne Zeit!«
»Lieber Mann, wir haben das Pech, nicht an das zu glauben, was die Kaffern Proppleme nennen – damit trösten sie sich. Es ist ein Gesellschaftsspiel.«
»Arbeiten. Arbeit hilft«, sagte die Prinzessin.
»Liebe Prinzessin«, sagte Karlchen, »ihr Frauen nehmt das ja ernst, was ihr tut – das ist euer unbestrittener Vorzug vor uns andern. Wenn man das aber nicht kann … Immerhin: eine so schöne junge Frau …«
»Sie werden ausgewiesen, wenn Sie so reden«, sagte die Prinzessin. »Vestahn Sei Plattdütsch?« – Karlchen strahlte: er sprach Platt wie ein hannöverscher Bauer, und jetzt schnackten sie eine ganze Weile in fremden Zungen. Was sagte sie da? Ich horchte auf. »Das hast du mir doch noch gar nicht erzählt?«
»Nein …? Habe ich das nicht?« Die Prinzessin tat furchtbar unschuldig. Sie log sonst gut – aber jetzt log sie ganz miserabel. »Also?«
Der Generalkonsul hatte es mit ihr treiben wollen. Wann? Vor zwei Monaten. »Bitte erzähl.«
»Er hat gewollt. Na, ihr wollt doch alle. Verzeihen Sie, Karlchen, außer Ihnen natürlich. Er hat eines Abends … also das war so. Eines Abends hat er mich gefragt, ob ich länger bleiben könnte, er hätte noch ein langes Exposé zu diktieren. Das kommt manchmal vor – ich habe mir nichts dabei gedacht; natürlich bin ich geblieben.« – »Natürlich …«, sagte ich. »Ihr habt ja sonst den Achtstundentag.« – »Quackel nicht, Daddy – wir haben ihn natürlich nicht, ich habe ihn nicht. Das ist eben in meiner Position …« – »Darüber werden wir uns nie einigen, Alte. Ihr habt ihn nicht, weil ihr ihn euch nicht erkämpft. Und ihr kämpft nicht – ach, ich habe jetzt Ferien.« – »Gibt es dafür Ferien?« fragte Karlchen. »Also«, fuhr die Prinzessin fort, »Exposé. Wie das fertig ist, bleibt er mitten im Zimmer stehn – wissen Sie, Karlchen, mein Chef ist nämlich furchtbar dick – bleibt mitten im Zimmer stehn, sieht mich mit so ganz komischen Augen an und sagt: Haben Sie eigentlich einen Freund? Ja, sage ich. Ach, sagt er, sehn Sie mal an – und ich hatte gedacht, Sie hätten gar keinen. Warum nicht? sage ich. Sie sehn nicht so aus, also ich meine … Na, und dann kam er langsam damit heraus. Er wäre doch so allein, das sähe ich doch … zur Zeit hätte er überhaupt keinen Menschen, und er hätte mal eine langjährige Freundin gehabt, die hätte ihn aber betrogen –«. Karlchen schüttelte bekümmert den Kopf, wie so etwas wohl möglich wäre. »Na, und was hast du gesagt?«– »Du alter Affe – ich habe nein gesagt.« – »Ach?« – »Ach! Hätte ich vielleicht ja sagen sollen?« – »Na, wer weiß! Eine gute Position … Hör mal, ich habe da einen Film gesehn.« – »Da bezieht er nämlich seine Bildung her, Karlchen. Würden Sie mit Ihrem Chef was anfangen?« – Karlchen sagte, er würde mit seinem Chef nie etwas anfangen. »Das ist ja alles Unsinn«, sagte die Prinzessin. »Männer verstehen das nicht. Was hat man denn davon? Ich müßte seine Sorgen teilen wie seine Frau, arbeiten wie seine Sekretärin, und wenn die Börse fest ist, dann bleibt er eines Abends bei einer andern mitten im Zimmer stehn und fragt die, ob sie vielleicht einen Freund … Ach, geht mir doch los!« – »Und an mich hast du gar nicht gedacht?« sagte ich. »Nein«, sagte die Prinzessin. »An dich denke ich erst, wenn der Mann in Frage kommt.« Und dann standen wir auf und gingen an das Seeufer.
Das Schloß schlief dick und still; überall roch es nach Wasser und nach Holz, das lange in der Sonne gelegen hatte, nach Fischen und nach Enten. Wir gingen am See entlang.
Und ich genoß diese beiden; dies war ein Freund, nein, es waren zwei Freunde – und ich verriet die Frau nicht an den Mann, wie ich es fast immer getan hatte; denn wenn da ein Mann war, mit dem es etwas zu erzählen gab, dann ließ ich die Frau liegen, als ob ich nicht noch eben mit ihr geschlafen hätte; ich gab sie auf, kümmerte mich nicht mehr um sie und verriet sie voller Feigheit an den ersten besten. Dann ließ sie los. Und dann wunderte ich mich.
Die zwei sprachen sich in ihren Dialekten über ihre Heimat aus. Sie sagten, wo man das r aussprechen müsse und wo nicht; sie ergänzten ihre Schimpfwörterverzeichnisse; sie wußten beide, was das ist: niederdeutsch. Es ist jener Weg, den die deutsche Sprache leider nicht gegangen ist, wieviel kraftvoller ist da alles, wieviel bildhafter, einfacher, klarer – und die schönsten Liebesgedichte, die der Deutsche hat, stehen auf diesen Blättern. Und die Menschen … was es da im alten Niederdeutschland, besonders an der Ostsee, für Häuser gegeben hat, eine Traumwelt von Absonderlichkeit, Güte und Musik, eine Käfersammlung von Leuten, die alle nur einmal vorkommen … Vieles davon ist nun in die Hände dummer Heimatdichter gefallen, die der Teufel holen möge – scheinbar gutmütige Bürger, unter deren rauchgeschwängerten Bärten der Grog dampft und die die kraftvolle Männlichkeit ihrer alten Sprache in einen fatalen Brei von Gemütlichkeit umgelogen haben –: Oberförster des Meeres. Manche haben sich den Bart abrasieren lassen und glauben nun, wie alte Holzschnitte auszusehen – aber es hilft ihnen nichts; kein Wald rauscht ihnen, kein Meer rauscht ihnen, ihnen rauscht der Bart. Ihre Gutmütigkeit verschwindet im Augenblick, wo sie etwas verwirrt in die neue Zeit starren und auf den politischen Gegner stoßen; dann krabbelt aus ihnen ans Licht, was in ihnen ist: der Kleinbürger. Unter ihren Netzhemden schlägt ein Herz, im Parademarsch.
Das ist nicht unser Plattdeutsch, das nicht.
Niederdeutschland aber geht nicht ein – es lebt und wird ewig leben, solange dieses Land steht. Dergleichen hat es außerhalb Deutschlands nur noch einmal gegeben, aber da auf dem Rücken einer dienenden, nicht gut behandelten Kaste: in Kurland. Doch der Niederdeutsche ist anders. Seine Worte setzt er bedächtig, und sie sind gut. Und darüber sprachen die beiden. Und ich wußte: das Beste an der Prinzessin stammte aus diesem Boden. Und ich liebte in ihr einen Teil dieses Landes, das einem so sehr schwer macht, es zu lieben. Dessen ratlose Seelen es für eine Auszeichnung halten, gehaßt zu werden. Da war die Zeit, da war sie wieder. Nein, für uns gibt es wohl keine Ferien.
Die beiden aber schnackten unentwegt. Jeder pries sein Plattdeutsch als das allein wahre und schöne, das des andern wäre ganz falsch. Jetzt waren sie bei den Geschichten angelangt.
Die Prinzessin erzählte die vom Schuster Hagen, dem der Amtsverwalter sein Prost Neujahr zugerufen hatte: »Ick wünsch See uck veel Glück taut niege Johr, Meisting!« – Und der andre hatte dann verehrungsvoll über den ganzen Marktplatz zurückgebrüllt: »Ins Gegenteil! Ins Gegenteil, Herr Amtsverwalter!« Und jene vom Schulzen Hacher, der seinen Ochsen auf die Ausstellung brachte und dazu sprach: »Ick dau dat nicht för Geld. Ick dau dat blodsen för de Blamasch!«
Und dann wieder Karlchen: wie Dörten, Mathilde und Zophie, die neugierigsten Mädchen in ganz Celle, ihn gefragt hatten, wer denn der junge Mann wäre, der jetzt immer morgens durch die Straßen ginge. Er konnte es ihnen nicht sagen. Und dann hatte er sie nachts geweckt, das ging gut, denn sie wohnten Parterre – und als sie ganz erschreckt ans Fenster kamen, alle drei: »Ich wollte den Damen nur sagen: der Herr von heute morgen hat fromme Bücher verkauft.«
Und dann sangen sie schöne Lieder, immer eines nach dem andern. Die Prinzessin:
»Auf dem Berge Sinai, da sitzt die Mutter Pietschen, und wenn sie nichts zu essen hat, dann …
Karlchen, wie ist das mit einem Lullerchen Schlaf, heute nachmittag?« fragte sie plötzlich. Karlchen sang grade:
»Sie trug ein buntkariertes Kleid,mir tut mein Geld noch heute leid –Nein«, sagte er. »Heute nachmittag tun wir einen schönen Spaziergang. Das ist gut für den Dicken, und wir schlafen dann nachts besser.« Der Dicke war ich. Wohlwollend musterte mich sein Blick. »Wenn man euch junges Volk so sieht … gut erholt seid ihr –!« Und so fühlten wir uns auch. Ich wackelte schweigend neben den beiden her, denn junges Glück soll man nicht stören.
Begehrte er sie –?
Natürlich begehrte er sie. Aber dies war ungeschriebenes Gesetz zwischen uns: Totem und Tabu … Unter welchem Tier wir geboren waren, wußten wir nicht; aber es mußte wohl das gleiche sein. Und die Frauen des andern: nie. Rational gemacht hatten wir das so: »Deine Bräute … also wenn man die schon sieht – herzlichen Glückwunsch!« Und wieder fühlte ich, zum hundertsten Male in so vielen Jahren, das Unausgesprochene dieser Freundschaft, das Fundament, auf dem sie ruhte. Ich kannte den Urgrund seiner Haltung. Ich wußte, weil ich es mit angesehen hatte: was der Mann alles erlebt hatte (»Über mich ist ein bißchen viel hinweggebraust!« pflegte er zu sagen); ich sah seine unbedingte Selbstbeherrschung; wenn’s schiefging, der konnte die Ohren steifhalten. Oft, wenn ich nicht weiter wußte, dachte ich: Was täte Karlchen jetzt? Und dann ging es wieder eine Weile. Eine richtige Männerfreundschaft … das ist wie ein Eisberg: nur das letzte Viertel sieht aus dem Wasser. Der Rest schwimmt unten; man kann ihn nicht sehn. Klamauk – Klamauk ist nur schön, wenn er auf Ernst beruht.
»Plattdeutsch predigen«, hörte ich Karlchen grade sagen, »nein – nein.« – »Das ist doch Unfug, Herr Karlchen«, sagte die Prinzessin. »Warum denn nich? Den Bauern vestehn es doch viel besser. Natürlich euern Platt … aber unsen Plattdeutsch …« – »Schöne junge Frau«, sagte Karlchen, »das ist es nicht. Die Bauern verstünden es schon – und eben deswegen mögen sie es nicht. In der Kirche wollen sie nicht die Sprache ihres Alltags; vor der haben sie keine Achtung – was kann an dem sein, was sie im Stall sprechen? Sie wollen das andre, das Ungewöhnliche, das Feierliche. Sonst sind sie enttäuscht und nehmen den Pastor nicht für voll. Na, und nun gehn wir ja wohl im Chantant3 … Fritzchen, weißt du noch?«
Und ob ich es wußte! Das stammte von Herrn Petkoff aus Rumänien, vom rumänischen Kriegsschauplatz, den wir gemeinsam bevölkert hatten. Herr Petkoff pflegte Geschichten zu erzählen, die sich durch besondere Pointenlosigkeit auszeichneten, aber sie endeten alle im Puff. »Sagt er zu mir: Petkoff, du Schwain, komm, gehn wir im Chantant!« Und was da nun war, wollte die Prinzessin gern wissen. Karlchen machte vor: »Petkoff sagte und schlug sich dabei auf die Oberschenkel: Hier ein Mättchän und da ein Mättchän …« – »Aber Karlchen«, sagte die Prinzessin, »da muß ich ja ganz rot werden!« – »Er hatte eine Freundin, der Petkoff. Die hatte vor seiner Zeit dreizehn Geliebte gehabt.« – »Dreizehn Geliebte«, lobte die Prinzessin. »Und wieviel schnelle Männer –?«
So schritten wir selbander dahin.
Da blieb die Prinzessin stehn, um sich zu pudern. »Ich begreife nicht, wie man sich in Gottes freier Natur pudern kann«, sagte ich. »Die Luft hat doch … der Teint ist …« – »Du gewinn den Nobelpreis und halt den Schnabel«, sagte sie. »Hör mal, ich sage dir das wirklich …« – »Daddy, das verstehn die Männer nie – und wir verstehn uns doch wirklich gut. Jeder seins, lieber Daddy. Du schminkst dich nicht, und ich genieße des Puders. So ist das!« Nun setzten wir uns auf eine Bank. Ich brummte: »They are all the same …«, dieser Satz Byrons machte meinen halben englischen Sprachschatz aus. »Sei mal nett zu ihr!« sagte Karlchen, und die Prinzessin war begeistert und nickte ihm fröhlich zu: »Nicht wahr?« – »Wer seine Braut zu seinem Weibe macht«, sagte Karlchen, »der soll auch das Weib zu seiner Braut machen!« – »Nun gebt euch einen Kuß!« sagte ich. Das taten sie. »Sei wirklich nett zu ihr!« sagte Karlchen noch einmal.
Er war ein Vorübergehender. Der Vorübergehende ist stets milde und weise, hat für alles gute und kluge Worte und geht vorüber. Wir, die wir bleiben … Aber gleich war diese kleine Wolke vorbei. Weil Karlchen das gescheite Wort sprach: »Bei uns zu Hause sagen sie immer: Zur Heirat gehört mehr als nur vier nackte Beine ins Bett.«
»Karlchen«, sagte ich unvermittelt, »was wird aus uns mal? Ich meine … so später … im Alter …?«
Er antwortete nicht gleich. Dafür die Prinzessin: »Daddy, weißt du noch, was auf der alten Uhr stand, die wir in Lübeck zusammen gesehen haben und die wir damals nicht kaufen konnten?« – »Ja«, sagte ich. »Es stand drauf: Lasset die Jahre reden.«
Ich sah sie an, und sie gab den Blick zurück: Wir faßten uns mit den Augen bei den Händen. Sie war bei mir. Sie gehörte dazu. Sie sorgte für mich.
Als wir aber nach Hause kamen, lag da für die Prinzessin ein großer Strauß aus Mohrrüben, Petersilie und Sellerie. Der war von Karlchen, denn so liebte er, wenn er liebte.
2»Das laßt man Frau Direktor sehn!« sagte das Stubenmädchen Emma. »Die ist heute grade in der richtigen Laune!«
Das Gelächter der vier kleinen Mädchen verstummte jäh. Eine bückte sich scheu nach den Büchern, mit denen sie sich eben geworfen hatten. Hanne, die dicke Hanne aus Ostpreußen, setzte zu einer Frage an. »Was ist denn? Ist Frau Direktor …?« – »Na, macht nur!« sagte das Mädchen und lachte schadenfroh. »Ihr werdt ja sehn!« Und ging eilig davon. Die vier standen noch einen Augenblick zusammen, dann verteilten sie sich rasch im Korridor. Hanne war die letzte. Sie hatte grade die Tür des Schlafzimmers aufgemacht, in dem die andern schon standen und ihre Badesachen zusammensuchten, als man die schrille Stimme der Frau Adriani aus dem untern Stockwerk vernahm – wie laut mußte sie sprechen, daß man das so deutlich hören konnte! Die Mädchen standen wie die Wachspuppen.
»So? Ach! Das hast du nicht gewußt! Das hat das gute Lieschen nicht gewußt! Habe ich dir nicht schon tausendmal gesagt, daß man seinen Schrank nicht offenstehn läßt? Was? Wie?« – Man hörte, wie aus einer Watteschachtel, ein ganz leises Weinen. Oben sahen sie sich an und atmeten, sie schauerten vor Angst zusammen. »Du bist eine Schlumpe!« sagte die ferne Stimme. »Eine dreckige Schlumpe! Was? Der Schrank ist allein aufgegangen? Na, da hört doch … Und – was ist denn das hier? Wie? Seit wann bewahrst du dir denn Essen in der Wäsche auf? Wie? Du Teufelsbraten! Ich werde dir –«
Nun wurde das Weinen lauter, so laut, daß man es deutlich hören konnte. Schläge konnten sie nicht hören –: Frau Adriani pflegte nicht zu schlagen, sie knuffte. »Hier – und da – und jetzt … Ich werde euch überhaupt mal alle …« Fortissimo: »Alle runterkommen! In den Eßsaal!«
In die Wachspuppen oben kam Leben; sie warfen ihre Badesachen auf die Betten, sie hatten plötzlich hochrote Köpfe, und einer, der ewig blassen Gertie, standen Tränen in den Augen. Man hörte, rasch hervorgestoßen: »Macht doch! Fix!«, dann gingen sie hinunter, sie liefen fast, schweigend.
Aus allen Türen kamen die Mädchen; sie hatten erschrockene Gesichter, eine fragte leise: »Was ist denn …« und wurde gleich zur Ruhe verwiesen; wenn es gewittert, soll man lieber nicht sprechen. Auf den Treppen trappelte es, Schritte, Poltern, Türenklappen … nun war der Eßsaal voll. Als letzte kam Frau Adriani, eine rote Wolke, mit der weinenden Lisa Wedigen an der Hand.
Das Gesicht der Frau war gerötet, ihr Lebensmotor lief auf Touren; sie lebte doppelt, wenn sie in solcher Erregung war. »Alle da –?« Sie sah über die Mädchen hin, mit jenem Blick, von dem jede glaubte, er hätte sie, grade sie gemeint. Hart: »Lisa Wedigen hat Essen gestohlen!« – »Ich …«, was die Kleine sagen wollte, erstickte in Geschluchz. »Lisa Wedigen stiehlt. Sie hat von unserm Essen gestohlen«, sagte Frau Adriani mit Nachdruck, »gestohlen, und sie hat es in ihrem Schrank versteckt. Der Schrank war natürlich in einer scheußlichen Unordnung, wie immer bei Dieben: die Wäsche vom Essen beschmutzt, die Schranktür war offen. Wer nicht hören will, muß fühlen. Ihr wißt, wie ich es euch gleich am Anfang gesagt habe: wenn hier eine was falsch macht, dann büßen alle. Das ist Gerechtigkeit. Ich werde euch …! Also:
Lisa hat heute abend Essenentzug. Sie darf die nächsten acht Tage nicht mit uns spazierengehen, sondern bleibt zu Hause auf dem Zimmer. Morgen bekommt sie nur das halbe Essen. Das Baden fällt heute aus. Ihr macht alle Schreibübungen. Lisa schreibt besonders vier Kapitel aus der Bibel ab. Ihr seid eine ganz verlotterte Bande! Marsch – auf die Zimmer!«
Schweigend und beklommen tropfte die Schar aus den beiden Türen; manche sahen sich bedeutungsvoll an, die Abgehärteteren schlenkerten mit den Armen und taten unbekümmert-trotzig; zwei weinten. Lisa Wedigen schluchzte, sie sah niemand an und wurde von niemand angesehn. Das Kind blickte auf –
Der große Abreißkalender an der Wand zeigte eine 27, eine schwarze 27. Als sich das Kind mit den andern durch die Tür schob, blätterte der Zugwind im Kalender … so viele Blätter waren das, so viele Blätter. Und wenn dieser Kalender verbraucht war, dann hängte Frau Adriani einen neuen auf. Der Blick des Kindes fiel auf das Bildnis Gustav Adolfs, das im Korridor hing. Der hatte es gut. Er war hier, und er war doch nicht hier. Dem taten sie nichts. Merkwürdig, daß die Menschen den Sachen nichts tun. Das Kind dachte: Noch einmal so, und ich laufe fort, ich laufe aus dem Haus …
In den Stuben herrschte eine stille Geschäftigkeit. Die Badeanzüge und die Handtücher wurden fortgelegt, zitternde Hände rissen Schubladen auf und kramten hastig darin umher, ein Flüsterwort unterbrach diese Geräusche.
Unten im Eßsaal stand die Adriani, allein.
Ihr Atem ging rasch, sie hatte sich, anfangs kalt, in eine Wut hineingesteigert – wie sie meinte: zu pädagogischen Zwecken, und jetzt war sie wütend, weil sie wirklich wütend war. Ihr beißender Ärger besänftigte sich erst, als sie an die Vorstellung dachte, in der sie soeben aufgetreten war. Sie hatte so ein aufmerksames Publikum gehabt … alles kam darauf an, ein Publikum zu haben. Sie sah sich um. Hier war alles, bis zum Bewurf an der Mauer, dem Kitt in den Ritzen der Fensterscheiben, dem Linoleumbelag und den Türangeln – alles war gezählt, kontrolliert, aufgeschrieben und beaufsichtigt. Hier gab es nichts, das nicht ihrer Herrschaft unterstand. Sie fühlte: wenn sie den brennenden Herd scharf anblickte – er würde leiser brennen. Hier war ihr Reich. Deshalb ging auch Frau Adriani mit den Kindern nicht gern aus; sie vergällte ihnen die Spaziergänge, wo sie nur konnte, denn die Natur stand nicht stramm vor ihr. Ihr Wille tobte durch das geräumige Landhaus, das sie längst nicht mehr als gewöhnliches Haus ansah – es war ein souveränes Reich, eine kleine Welt für sich. Ihre Welt. Sie knetete die Kinder. Sie formte täglich an vierzig Kindern, den Dienstboten und ihren Nichten – der Mann zählte nicht; mit so vielen Figuren spielte sie ein lebendiges, ein schmerzvolles, ein lustvolles Spiel. Und setzte immer die andern matt. Und siegte immer. Das Geheimnis ihres Erfolges war keines: sie glaubte an diesen Sieg, konnte arbeiten wie ein Bauernpferd und sparte ihre Gefühle für sich selbst.
Sie kam sich sehr einmalig vor, die Frau Adriani. Und hatte doch viele Geschwister.
3Es war ein bunter Sommertag – und wir waren sehr froh. Morgens hatten sich die Wolken rasch verzogen; nun legte sich der Wind, und große, weiße Wattebäusche leuchteten hoch am blauen Himmel, sie ließen die gute Hälfte unbedeckt und dunkelblau – und da stand die Sonne und freute sich.
»Wir gehn heute auch nicht in die Heija«, sagte Karlchen, der merkwürdigerweise nach dem Essen nicht schlafen wollte. »Sondern wir gehen nicht schlafen und vielmehr gehn wir in die Felder. Hoppla!«
Auf und davon. Bauern kamen vorüber, wir grüßten, und sie sagten etwas, was wir nicht verstanden. »Bielern dich man blodsen nich ins Schwedsche!« sagte die Prinzessin. »Wenn man ierst die Landessprache päffekt kann, denn is das nich mehr so schoin. Denn den Baum des Wissens is nich ümme den des Lebens.« – »Lydia«, sagte ich, »wir wollen doch mal bei dem Kinderheim längs gehn!« Und wir gingen.
Um den See herum, an den Chausseen entlang; einmal kam uns ein Auto entgegengetorkelt, man kann es nicht anders nennen, so sehr fuhr es im Zickzack. Ein junger Herr saß am Steuer, mit jenem dämlich-angespannten Gesicht, wie es Neulinge am Steuerrad haben. Er war ganz Aufmerksamkeit, Krampf und Angst. Sein Lehrer saß neben ihm. Wir sprangen beiseite, denn der junge Herr hätte sicherlich lieber uns drei überfahren als eine Ameise, die er wohl grade sah … Dann gingen wir von der Chaussee ab, in den Wald.
Die Wege in Schweden führen manchmal grade durch kleine Anwesen, die Zauntür ist offen, und man geht über den Hof hinweg. Da standen kleine Häuschen, still und sauber … »Guck – das wird das Kinderheim sein!« sagte Karlchen.