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Die hohen Brücken bewirken, dass die tiefen Täler nicht mehr beachtet werden, dass sie schlussendlich nicht existieren. In Eile saust der Verkehr über die Brücken, weiss nichts von den Tälern und von der Mühe, Täler zu durchqueren. Will nichts wissen, will eiligst von einem Ort im andern sein. Die Brücken sind die grossen Hexerinnen: Sie verkürzen die Zeit, lassen die Täler verschwinden, verändern den Himmel. Beispiel Punt Gronda. (Offiziell, wenn ich mich nicht irre, heisst diese Brücke Punt Russein, früher auch Punt Travaulta. Aber das Volk hat Namen, die es fallen lässt.) Diese Brücke, die drei Brücken ist, verbindet den Verkehr, trennt den Himmel vom Tal mit dem Rhein. Die Punt Gronda trennt weiter streng die Materialien: Brücke 1, Holz. Brücke 2, Beton. Brücke 3, Stein. Diese Brücke, die drei Brücken ist, trennt politisch die Cadi in Sursassiala, das sind die Gemeinden gegen Lukmanier und Oberalp hinauf, und in Sutsassiala, das ist der Rest der Cadi: Sumvitg, Trun, Breil, Schlans. Die Punt Gronda ist weiter die Grenze zwischen Sumvitg und Disentis. Doch dieser ganze Namenwirrwarr interessiert niemanden, der über ein von der Konsum- und Tempogesellschaft vergessenes Tal rast.
Der Zug
Am gemütlichsten schlängelt sich der Zug die Landschaft hinauf, zuerst lange dem Rhein entlang, dann, in Trun, schwenkt er langsam in die Wiesen und hinter Rabius tadác tadác in den Hang. Gewohnt, von Bahnhof zu Bahnhof anzuhalten, und gezwungen, sich an einen Fahrplan zu halten, fährt er im Rhythmus des Immergleichen, ohne den Stress des Wettbewerbes, der auf der Strasse herrscht. Er geht tadác immerfort einfach sein Tempo, zieht über Eisenbrücken, schleicht durch Galerien, verschwindet in Tunnels, fährt über elegante Viadukte, die da sind, ohne das Landschaftsbild allzu sehr zu stören, gibt dem Fahrgast die Möglichkeit anzuschauen, wo er ist und sich hinbewegt. Anders als aus dem Auto: «Was das eilige Auge aus dem Automobil gesehen hat, kann nicht behalten werden, und wie jede Spur in ihm verschwindet, so verschwindet es ohne jegliche Spur» (Adorno).
Disentis / Mustér ist Endstation zweier Eisenbahnen: der Rhätischen und der Furka-Oberalp-Bahn. In den Sechziger-, Siebzigerjahren war das leicht zu sehen. Die Züge der Rhätischen waren grün, die der Furka rot. Dann hat die Rhätische einen roten Zug bekommen, einen neuen und schnelleren, und alle wollten mit dem roten fahren, und irgendwann sind alle Züge rot gewesen, wie sie es jetzt sind.
Im Winter unterscheiden sich die Lokomotiven, die vom Berg herunterkommen, von den anderen, die von unten heraufkommen, dadurch, dass sie strapaziert, weiss vom Schneestieben sind, man sieht, dass diese Maschinen alles gegeben haben, um durch Sturm und Schneemassen zu kommen, und sie werden zu wohlwollenden Tieren, den Menschen sympathisch und von ihnen respektiert. Ohè, die schneeverstaubten Lokomotiven der Furka-Oberalp sind der Beweis dafür, dass es Maschinen mit einer Seele gibt, selbstbewusste, solche, die wissen, dass sie unersetzlich sind.
Über dem Bahnhof erstreckt sich das Kloster, ebenfalls weiss wie eine winterliche Lokomotive, kurzum: wie ein fünfstöckiger Zug, bereit, talabwärts zu fahren. Aber was wollte Disentis sein klosterlos, um Gottes Willen, ohne das Kloster, diese christliche Lokomotive, diese Kulturfestung, diese Fassade mit hundert Fenstern, diesen Ort der betenden Mönche und der lernenden Studenten.
Ideen
Für den Touristen gilt gemäss Reiseführer das Folgende: «Die Region Bündner Oberland oder die Surselva, wie die Region im Rätoromanischen genannt wird, umfasst das Gebiet des Vorderrheintals zwischen dem Flimser Wald und dem Piz Badus, wo der Vorderrhein entspringt, sowie die Seitentäler, Lugnez, Safien und Val Medel.» Das wird auch so in der Schule gesagt. Für denjenigen, der von unten heraufkommt, ist der Grosse Wald zwischen Trin und Laax das Tor zur Surselva: Was über diesem Wald ist, ist die Surselva, was unter diesem Wald ist, ist die Sutselva. Von hier aus wurde die Gegend ein erstes Mal bevölkert. Von unten herauf kam auch die römische Kultur, später die deutsche, dann die Reformation. Die Christianisierung kommt mit Sandalen über den Oberalp, mit den Mönchen, den Missionaren, wie es die Legende will. Über den Lukmanier kommt die Gegenreformation. Die Revolution kommt 1799 mit Kanonen über den Oberalppass und kurz später noch von unten herauf, unterwirft und brandschatzt. Die Gegenrevolution kommt in der Person eines alten Generals über den Panixerpass, plündert das Dorf, frisst alles auf, tötet die Haustiere, vergewaltigt die Frauen, wird 1999 von den Panixern gefeiert. So sind die Ideen, die Ideologien, das Tal herauf gegen den Rhein oder die Pässe herunter mit den Rheinen gekommen und haben sich zum Teil miteinander vermischt. Einzig die Aufklärung vermochte kaum von Frankreich über die Pässe zu blasen, wie der Historiker des Klosters Disentis, Pater Iso Müller, mit Befriedigung konstatiert: «Der kalte Hauch der Aufklärung wehte in der Cadi wenig oder gar nicht.» Cadi ist das Haus Gottes, das Kloster und die Gemeinden in seinem Umkreis bis und mit Breil.
Über die Pässe sind die Walser gekommen, hinunter ins Safiental, hinunter ins Valsertal, nach Obersaxen, Medel und Tujetsch. Ohne grosse theoretische Ideologien sind sie gekommen, um zu leben und zu bleiben, haben ihre Holzhäuser zu bauen begonnen, das Landschaftsbild revolutioniert. Sie haben ihre Höfe in die Wildnis gestellt, Haus und Stall auf diesen Hang, Haus und Stall auf jenen Hang. Ganz anders als die geschlossenen Dörfer der romanischen Bevölkerung. Mag dies ein abgedroschenes Klischee sein, für beide Kulturen galt das Axiom des Vriner Architekten Gion Antoni Caminada (*1957): «Bauen ist Leben und das Leben ist die Norm des Architekten. Wer das vergisst, verfällt der Beliebigkeit. Für das Bauen wesentlich ist der Ort, denn aus ihm kommt der Entwurf. Auch im Wechselspiel mit dem Fremden. Das Neue, welches entsteht, weist zum Ort und deutet zugleich über den Ort hinaus. Das war schon immer so …» Es wurde später vergessen. Die Hochkonjunktur hat andere Gesetze gehabt. Sie hat aus Bauzeichnern «Architekten» gemacht, die gezeichnet und gebaut haben nach dem Stil: «Baufreiheit für uns Bauzeichner, die wir Architekten sind, und für alle Bauherren», und «Jeder kann bauen, wie und wo er will, er muss es ja selber bezahlen.» Die Hochkonjunktur hat nicht wissen wollen, dass jedes Gebäude in einer Landschaft steht und also eine öffentliche Dimension hat. So kommt es, dass die Bauten der letzten Jahrzehnte den Geschmack der Bauzeichner widerspiegeln. Das ist die absolute Autonomie des einzelnen Bürgers und Bastlers. Die Demokratie des Privaten, die zum Terror wird für ganze Generationen, weil sie gestraft sind, solche Pfuschereien ein Leben lang anzusehen. Jeder Bürger hat seinen eigenen Stil fabriziert, darum haben viele Dörfer keinen Stil mehr. Es herrscht dort ein Tuttifrutti von Bauereien, ein Gebastel von Stilen. Andere Dörfer haben Charakter behalten, Charakter entwickelt. Beispiel Vrin: Wenn Bauen Leben ist, hat Bauen allein einfach und funktional zu sein, keine Kopie, keine Kulisse, nicht Maske, nicht Schnörkel. Die Architektur wird zur öffentlichen Sache, wird selbst funktional, indem sie den Bergdörfern Struktur, Infrastruktur gibt; indem sie dafür sorgt, dass der Bauer, dass der Arbeiter, dass die Strasse, dass die Kirche, die Lebenden, die Toten im Dorf bleiben; indem sie möglichst mit den vorhandenen Materialien – Holz und Stein – arbeitet und so die Arbeit im Dorf behält. Architektur ist nicht mehr Selbstdarstellung des Bauzeichners oder des Bauherrn.
Die Pässe
Über die Pässe sind also Ideen gekommen, Immigranten, aber auch Sarazenen zu Pferd, Militär. Unsere Leute gingen in die andere Richtung sul cuolm («über den Berg»), wie man sagte. Der Pass war der Berg: Die Alten sagten Cuolm d’Ursera (Urserenberg), nicht Pass Alpsu (Oberalppass), sagten für den Gotthard il Cuolm Avelin (Vogelberg). Noch heute sagen die Walser Valserberg, Safierberg. Also Berg als Ort des Durchgangs. Aber ir sul cuolm hiess auch, für immer zu gehen, in das gelobte Land, wo es vielleicht keine Berge gab und Ängste und Schrecken. Heute heisst ir sul cuolm nach Lugano fahren und schnell einen Café trinken, in Lederrüstung mit Nieten und Fransen. Auf der Passhöhe mach einen Halt, trink und friss und schau herum, zum Beispiel mit den Augen eines Saxofonisten. Werner Lüdi: «… Falafelstand. Der steht neben der Würstchenbude. Diese steht neben dem Gelato-Paradiso. Dem T-Shirt- und Mützentreff. Dem Postkarten- und Souvenirshop. Mountainbiker keuchen die Tremola herauf … Schwere Motorräder heulen auf. Wohnmobile werden in Parklücken eingewiesen. Autocars verbreiten Benzinschwaden. Väter strecken ihr müdes Kreuz … Mütter wickeln Säuglinge, Langläufer auf Rollbrettern ziehen an Picknickern vorbei, Jogger trinken aus Pappbechern.»
Die Berge
Die hohen Berge haben die Fremden verherrlicht, und wegen ihnen haben wir gemerkt, dass sie um uns sind. Sie sind für uns nicht majestätische Kathedralen, ewige, reine. Zwar vielleicht schon ewiger als der ewige Schnee, aber die Berge sind Berge, nicht Freiheitssymbole, nicht intakt, nicht virginal, keine Kontraste zur Zivilisation. Wir wissen noch heute kaum ihre Namen. Das interessiert uns nicht. Weil die höchsten überhaupt nicht vom Rheintal aus zu sehen sind, sind sie irgendwie virtuell. Vom Tödi reden alle respektvoll, fast leise, wie wenn sie über den Everest reden würden, er ist schliesslich auch unser Everest. Und von beiden Bergen wissen wir gleichviel, nämlich nichts. Fazit: Tödi und Oberalpstock sind zwar respektable Grössen, aber unbekannte, darum brauchen wir auch fast exklusiv ihre deutschen Namen statt der romanischen Russein und Tgietschen.
Der Berg ist für uns also anonym. Von der Masse der Berge um uns kennen wir weder Silhouette noch Name. Sie verstehen sich für uns von selbst, ohne Etikette. Sie gehören zu uns. Wir sind die Berge. Landschaften ohne Berge wären für uns keine richtigen Landschaften. Sind das überhaupt Landschaften? Gibt es überhaupt solche? «Gibt’s Länder, Vater, wo nicht Berge sind?» Das ist die Frage, die den Bergler am besten charakterisiert. Hier hat es Schiller auf den Punkt gebracht. So fühlen wir. Aber wenn er, vom Nebel des deutschen Idealismus umhüllt, «Auf den Bergen ist Freiheit!» posaunt, dann ist das ein Flachländer, der etwas behauptet; dann verwandelt er sich in einen Touristen oder im schlimmsten Fall in einen Werbeagenten, der seine Platte aufgelegt hat. In den Bergen, meinen jene, sei die Freiheit in dem Sinne zu verstehen, dass sie tun können, was sie wollen: zelten, ihre Hunde frei und ungehindert herumspringen lassen, hinter jedem Stein die Hosen runterlassen etc. Für uns sind die Berge Tyrannen, die Perspektive, Geist und alles eingrenzen und einengen. Jahrhunderte haben sie uns im Winter – das ist das halbe Jahr – von der Aussenwelt abgeschnitten, isoliert. Immer haben sie mit Lawinen gedroht. Eingeschlossen zu sein, war normal. Heute sind wir daran nicht mehr gewöhnt. Die Strassen haben offen zu sein, damit die Fremden abhauen können, wenn es darauf ankommt. Lawinen, ja cool, aber bitteschön nicht, wenn wir Ferien machen.
Neben den grossen Bergen mit ihrer Aura des Unerreichbaren ist eine andere Sorte Berge zu nennen, eine Art volkstümlicher Berge. Wenn man von unten heraufkommt und durch Flims hindurch im Stau steht und vor den Deutschen Acht gibt, die auf die Klötze treten und mit dem Blinker weder ein noch aus wissen, ist da einmal der Flimserstein mit seiner titanischen Wand über dem Dorf; würdige Wand, um daran einen himmelstürmenden Prometheus zu schmieden, ein horizontaler Berg ohne Spitze, der oben eine Ebene ist, eine Alp. Er ist immer noch ein Handlungsort für verschiedene Märchen und Sagen, wo Berge stürzen, Blitze blitzen, Kühe verschwinden, wo Hexen ihre Rituale machen, wo uralte Eulen landen und ihre kauzigen Kommentare geben.2 Dann, schaut man geradeaus, erblickt man den Crap Sogn Gion und den Crap Masegn, jetzt magische Kulthügel für Snöber und Carver. Diese bedauernswerten Berge müssen im Winter täglich Tausende von bunten Leuten ertragen, die über sie hinwegflitzen. Wäre es nach den Touristikern gegangen, hätte man sie in Crap I und Crap II umbenennen sollen, scheinen doch diese Bergkuppen mit ihren zungenbrecherischen Namen gegen die hektische Invasion zu protestieren. Wenn die Show der Meute vorbei ist, wenn die Sonne untergegangen ist, beginnen die Pistenmaschinen den Berg hinaufzuschaben. Und jetzt, wenn unser Auto diese «Topregion des Tourismus» hinter sich lässt und gegen Ilanz fährt, sehen wir bald vor uns den vierten volkstümlichen Berg, den Péz Mundaun, den Eckpunkt zwischen dem Rheintal und der Val Lumnezia, von den Lehrern seines Panoramas wegen als Bündner Rigi bezeichnet, jedem surselvischen Schüler der obligatorischen Schulreise wegen, die er mit kurzen Hosen einmal nach dorthin gemacht hat, bekannt.
Eine ganz spezielle Sorte von Bergen sind die heiligen Berge. Heiliger Berg meint hier nicht das Numinose, welches jedem Berg anhaftet, meint auch nicht Berge mit aufgepflanztem Kreuz, womöglich mit romanischen oder lateinischen Sprüchen daran, z.B. E montibus salus – diese Kreuze der Kreuzfahrer mit ihrer Wahnidee, erobern zu müssen. Die heiligen Berge sind im besten Fall mit Antennen und Schirmen bespickt, nationale Berge, je näher dem Gotthard desto hohler.
Die Murmeltiere
«Gibt es hier auch Wild?» Standardfrage des Touristen. «Ja es gibt hier auch Wild», sagt der Jäger, «aber lesen Sie lieber Adorno. Sie sehen aus wie einer, der Adorno liest!» Jäger zitiert feierlich Adorno mit romanischem Akzent: «Wer einmal den Laut von Murmeltieren hörte, wird ihn nicht leicht vergessen. Dass er ein Pfeifen sei, sagt zu wenig: es klingt mechanisch, wie mit Dampf betrieben. Und eben darum zum Erschrecken. Die Angst, welche die kleinen Tiere seit unvordenklichen Zeiten müssen empfunden haben, ist ihnen in der Kehle zum Warnsignal erstarrt; was ihr Leben beschützen soll, hat den Ausdruck des Lebendigen verloren. In Panik vorm Tod haben sie Mimikry an den Tod geübt.»
Tourist ist von diesen Beobachtungen Adornos begeistert. Jäger denkt für einen Moment daran, Touristen eventuell mitzunehmen, um das echte Murmeltier zu zeigen, die Gemse, den Steinadler. Steinadler ist für Touristen die Krone der Tiere der Alpen. Er würde verwundert fragen: «Steinadler hat es?» Aber die Frage wird gar nicht gefragt. Der Respekt vor dem Murmeltier des Philosophen lässt den Fremden selbst den sonst so begehrten Steinadler vergessen.
Die Murmeltierwachen stehen wie Hydranten oder Buben mit langen Pelerinen oben in den Geröllhängen. Drehen einzig manchmal mechanisch den Kopf um fünfzehn, um dreissig, um fünfundvierzig Grad, während der Körper ganz still Männchen macht.
Die Heimat
Die Surselver sind stolz auf die Surselva, das ist ihre Heimat, nicht die Schweiz. Nicht einmal im Ausland würden viele Surselver, wenn sie gefragt würden, sagen, dass die Schweiz ihre Heimat sei. Einzig, wenn sie in einem Chor sind, singen sie das mit klaren Stimmen, sie sind also nur im Männerchor Schweizer Patrioten. Dies, weil sie, was sie singen, nicht verstehen wollen und weil sie, sich der Autorität des Dirigenten unterwerfend, nicht wagen zu sagen: «Diesen Text singen wir nicht.» Die Texte der Lieder machen mit unseren Sängern, was sie wollen. Die absolute Autorität des gereimten Wortes. Für die Surselver, wenn sie nicht singen, hat die Schweiz etwas mit Eidgenossen, Lanzen und Hellebarden zu tun, mit Bern, mit Sempach, mit Zürich, aber nicht mit der Surselva. Für die romanischen Surselver ist Surselva noch mehr Heimat, wegen ihrer Sprache, die nach der Landschaft das Sursilvan genannt wird. Heimat hat also auch etwas mit Sprache zu tun – nein enger –, mit Dialekt. Die Engadiner sprechen ja auch Romanisch, aber nicht unser Romanisch. Darum ist das Engadin nicht die Heimat der Sursilvans. Im Engadin fühlt sich der Sursilvan als Deutscher. Er wird deutsch angesprochen, hat Preise wie die Touristen zu bezahlen, müsste von allem begeistert sein. In Laax auf der Piste sind die Einheimischen, die im Umkreis von zwanzig Autominuten wohnen, Touristen, man redet deutsch mit ihnen, sie haben Preise wie die Fremden zu bezahlen, sollten von der Landschaft begeistert sein, welche ein Zirkus zu sein hat, «Weisse Arena», alpiner Kampfplatz des surselvischen Amphitheaters. Die Imperatoren des weissen Schnees haben die Berge geglättet, den Gletscher behandelt, Steine liquidiert, Wald umgeworfen, Erde aufgewühlt, Kanonen aufgerichtet, Natur beleuchtet. Das wollen die Gäste so und wer zahlt, befiehlt: die Alemannen, die Deutschen, die Italiener, die Holländer, die einheimischen Touristen. Unsere Landschaft ist Produkt geworden. Wie ist es merkwürdig, Tourist in der Heimat zu sein. Arena ist nicht Heimat. Heimat ist dort, wo du nicht Tourist bist, dort, wo du keine Souvenirs kaufst, wo du nicht ständig den Fotoapparat dabei hast, wo du die Museen nicht kennst. Vielleicht dort, wo du dich zu Tode schuftest. Nein, dort ist es schon nicht mehr Heimat. Das wissen die Sursilvans in der Fremde am besten. Dieser Typ von Sursilvan ist aus ökonomischen Gründen in die Schweiz ausgewandert, wegen besserer Lohnperspektiven, der Karriere wegen. Er macht Ferien in der Heimat, besitzt dort ein Maiensäss, eine Wohnung, kommt im Sommer, um Servelas zu grillieren, und im Winter, um Ski zu fahren. Er ist einheimischer Tourist, eine Art sanfter Tourist. Er erzählt ständig, wie es früher hier war. Heimat ist das, was du meinst gehabt zu haben, «was die Zeit unter ihrem Schutt zudeckt; was wir verlieren, ohne vergessen zu können», sagt Iso Camartin. Dann hätte Heimat auch etwas mit Erinnerungen zu tun. Surselvische Heimat ist dort, wo ich das Bild der Dörfer, die Lawinenzüge, das Abschüssige der Hänge, die Bahnen der Pisten, die Neugier der Steinböcke, die Umrisse der Berge kenne oder zu kennen meine, wo ich weiss, an welchen Ecken Geschwindigkeitskontrollen gemacht werden, wo es richtige capuns zu essen gibt. Die Tarotkarten sind Heimat, die Musikgesellschaft, die Jungmannschaft, der Skiclub, das Jagdgesetz.
Das Klischee
Auch wenn die Heimat des Sursilvans nicht die Schweiz ist, wie bewiesen wurde, könnte er nur schwerlich behaupten, dass er selbst nicht ziemlich schweizerisch sei. Sein Tun und Lassen, seine Denkweise sind ganz und gar die eines Schweizers: nichts riskieren, gesichert und versichert sein, nach einer sicheren Stelle lauern. Er ist loyal, konfliktunfähig, autoritätshörig, provinziell, exakt, liebt Geld, ist korrekt, generell langweilig, ehrenwert, pünktlich, pedantisch, ordentlich, mäht am Samstagmorgen den Rasen, ist frisch geduscht, will ja nicht auffallen, ist neutral, perfekt, beobachtet, aber sagt nichts, behält seine Meinung für sich, lässt die anderen Entscheidungen fällen, ist ängstlich, hat keinen Humor, wartet ab, traut nichts, schaut niemandem direkt in die Augen, will seine Ruhe haben, hat einen Zaun ums Haus, ist Cumuluspunktesammler und Regagönner, zieht nach fürobig den Trainer an.
Die Surselver sind weiter Schweizer in dem Sinne, dass sie keine Einheit bilden. Da sind erstens die Walser, zweitens die Romanen, drittens die niedergelassenen Alemannen, welche nicht bereit sind, sich zu integrieren, viertens die Fremdarbeiter. Wäre Graubünden, von der Bevölkerung und von der Perspektive der Kultur mit seinen verschiedenen Sprachen und der verschiedenen Herkunft der Leute her gesehen, so etwas wie eine Minischweiz, dann wäre die Surselva noch einmal ein Minigraubünden. Das ist wie eine Matrioschka mit Kopftuch, jedes Mal ein bisschen kleiner. In der Schweiz haben wir den kalten Frieden zwischen den Sprachen und den Kulturen, man nennt das «kulturelles Nebeneinander», das heisst: Jeder mischt seine Kultur und ignoriert den Nachbarn. Über den Nachbarn wissen wir nichts und meiden ihn. Das ist typisch schweizerisch, typisch bündnerisch, typisch surselvisch. In diesem Sinne ist der Surselver ein typischer Schweizer und der Schweizer ein typischer Surselver.
Die Kapellen
Die alten Jungfern der Architektur sind die Kapellen. Während die Kaplane verschwunden sind, haben diese sich behauptet. Auf Hügeln und Höhen, aus den Ebenen, von den Hängen herab, an Strassen, hinter Wegkrümmungen, in den Dörfern, auf den Feldern, auf den Alpen, Weiden, allgegenwärtig, geben sie der Landschaft einen Ton. Riechen tun alle gleich: nach Kalk und Weiss die alten, nach Eisenbeton die neuen. Das ist ihr Grundduft, gemischt dann mit dem Duft von leeren Weihwasserkesseln und von fehlendem ewigem Licht, Duft von Altären und Nischen und Schränken und Bildern, Statuen und Spinnen, Gold und Staub, heiligen Tüchern, gefolgt vom bunten Duft von Heiligen mit Mitren, Kronen und komischen Kappen auf dem Kopf, mit krummen Stöcken, Stäben, Schwertern, Zweigen, Kelchen in der Faust, Büchern in der Hand. Die Kapellen riechen nicht nach Menschen. Heilige, männlich und weiblich, um einen Hauptheiligen beherrschen sie. Da hat der Herrgott wenig zu sagen. Alle Kapellen sind Individualistinnen: die runden gemütlichen, die mahnenden, die duckenden, die buckelnden, die kauernden, die ohne Hals, die kauzigen, die spitzen, die hochgewachsenen, die schmalen, die untersetzten, die seriösen, die naiven, die perplexen, die wachen, die mit oder ohne oder einem halbem Turm, der hier selbstbewusst aus dem Dach wächst, dort schüchtern vom Dach späht. Ach, es ist schlimm für eine Talkapelle, keinen Turm zu haben, das macht sie gehemmt und verloren. Auf den Bergen sind Kapellen ohne Hals etwas anderes: graue Schreine mit steilen Dächern in der kargen Landschaft. Es sind Schnecken, die den Kopf so selten herausstecken, dass noch niemand es gesehen hat.
Kapellen sind toleranter als die Kirchen, sind mehr von dieser Welt, wissen noch auf diskrete Art und Weise von der heidnischen Zeit. Edle alte Jungfern mit weggefegten Spinnennetzen oder exotische Wesen, eine jede nach ihrer Art? Beides sind unsere Kapellen. Sieh sie, wie du willst. Sie haben nichts dagegen. Sie sind Meisterinnen darin, sich nicht um die Vergangenheit zu kümmern. So überleben sie, während die anderen kleinen Gebäude: die Bildstöcke, die Wasch- und Backhäuschen, die Heubargen und Heustadel verschwunden sind oder nur noch Geranien auf Fenster und Gesims oder Gebsen und alte Werkzeuge an den Wänden haben.
Die Lawine
Die Lawinen muss man nehmen, wann sie kommen. Sie überfallen den Bergler mit Angst, Tod und Zerstörung. Er lebt mit der Lawine, weiss, dass sie immer wieder vom Berg heruntergekommen ist, weiss aber auch, dass sie immer wieder den Berg hinaufgegangen ist im Frühling. Das ist das einfache Wissen des Berglers, welches er gebraucht hat, um auszuharren und zu überleben.
Den Journalisten kommen sie als Sensation. Den Gemeinden bringen sie Arbeit und Subventionen. Unsere Lawinen kann man im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr zu negativ sehen, ausser man muss sie am eigenen Leib erfahren. Sie sind Bewegung und Änderung, Eigenwille. Die Zumthor-Kapelle in Sogn Benedetg verdankt ihre Existenz einer Lawine, welche die alte Kapelle zerstört hat. Ganz korrekt wäre: dem Gemeindevorstand, der das Tal mit Bauschutt auffüllen liess, sodass die Lawine gegen die Kapelle hingeführt wurde. Die Lawine also, in Zusammenarbeit mit dem Gemeindevorstand, als Kulturförderin. Der Teufel, der eine Wand der uralten Kapelle zierte, wurde zerstört, später wieder zusammengefügt und treibt jetzt im Pfortengang des Klosters seinen Schabernack. Ein Teufel, nackt wie ein Frosch, der steif auf seinem Thron sass als einer, der weiss, dass jemand ihn fotografieren will, breitbeinig, die Krallenhände auf die Oberschenkel gestemmt, dazwischen ein Bauch mit Augen, zwischen den Beinen das schwarze Loch eines kleinen offenen Mundes und hinunter bis zum Boden ein schrecklich langer Schwanz, ein Rüssel, der den Leib eines nackten Sünders umklammert. Dies scheint der Gehörnte ganz lustlos und ohne Gier zu tun, schaut uns wie ein Esel mit dem unschuldigen Gesicht eines Kindes an. Seine lächerlichen Schafsohren stehen gerade ab, aber leicht hängend, was zeigt, dass er ein Gewissen hat. Du, Teufel von Sogn Benedetg, wie viele Generationen haben mit Schrecken auf deinen Unterleib, dann in dein Gesicht geschaut und gesehen, dass es ganz so unerbittlich doch nicht sein kann.