Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41

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Rekurriert man auf den ›frame of reference‹ der gegenwärtigen Philosophiediskurse, so muss festgestellt werden, dass die Philosophie Adornos »unterdessen [von] einer Furie des Verschwindens«3 heimgesucht worden ist. Abgelöst wurde sie durch unterschiedliche Konzepte, die sich heute als philosophischer Mainstream darstellen. Diese Konzepte sind im Einzelnen:
Zum Ersten die sprachtheoretische Wende, der linguistic turn in der Philosophie, der die alte Subjekt-Objekt-Relation als epistemologische Grundlage der Welterfahrung aufgekündigt hat, um nunmehr die Sprache, ihre Weltdarstellungsfunktion als letztbegründende Bedingung für Welterkenntnis vorauszusetzen. Adorno hat die sprachtheoretische Wende, diesen epistemologischen Wechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie, nicht mitvollzogen. Gleichwohl hat er sich gegen jeden nachidealistischen Vorrang einer erkenntniskonstitutiven Subjektivität starkgemacht, weil sie »vom Einheitsprinzip und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs«4 ausgeht. Er ist niemals einem Sprachdenken gefolgt, das einer freien, der Autonomie und Spontaneität des Subjekts folgenden signifizierenden Zuordnung von Sprachzeichen zu ihren realen Sachverhalten das Wort geredet hat. Was er als eine Form der philosophischen Sprache entworfen hat, ist vielmehr eine nichtrepräsentative, auf sprachlich erzeugte Konfigurationen zielende Ausdruckssprache, die man als eine kritisch-sprachproduktive Neuanordnung philosophischer Termini bezeichnen kann, um deren tradierte »trügende Ontologie«5 zu entlarven.
Zum Zweiten der Radikale Konstruktivismus, der alle Welterfahrung als konstruktive Leistung aus einer vorausgesetzten Beobachterperspektive begründet. Erkenntnisse sind danach nichts anderes als wahrnehmungszentrierte Konstruktionen eines Welttatsachen erst konstruierenden Beobachters. Dass diesen konstruktiven Leistungen begriffliche Operationen zugrundeliegen, die nicht aus der konstruktiven Schöpfung des Beobachters resultieren, sondern ihrerseits ein begriffsgeschichtliches Sediment besitzen, wäre für Adorno sicherlich der begriffskritische Einwand gewesen.
Zum Dritten der Dekonstruktivismus, der sich im Sinne Derridas als ›penser autrement‹ versteht, um etablierte, das heißt bereits kanonisierte Philosopheme der Philosophie aus den Angeln zu heben. Dort geht es gewissermaßen um eine Neuschöpfung auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte, die nicht bei deren verschwiegener Intertextualität ansetzt, sondern die Identität philosophischer Begriffe destruierend entgrenzt. In der Zerstörung der fraglosen Identität überkommener philosophischer Termini liegt die bis heute nicht ausgelotete Übereinstimmung des Dekonstruktivismus mit der Begriffskritik Adornos.6
Zum Vierten der Neonaturalismus, der – John Searle zufolge – Bewusstseinsphänomene auf neuronale Verursachungen zurückführt; also »den biologischen Charakter mentaler Zustände betont«7. Das Substrat lebensweltlicher Erfahrungen philosophisch so zu erklären ist jenseits dessen, was Adorno als »den Primat inhaltlichen Denkens« einforderte, um so zu konkretem Philosophieren »bündig zu gelangen«8. Adorno hätte vermutlich gegen diese neue Geistphilosophie eingewandt, was er dem Empirismus ins Stammbuch geschrieben hat: »ein konsequenzloser Zusammenhang bloßer Dies-da-Bestimmungen«, der »keinerlei kritisches Maß mehr hergibt«9. Und mit Blick auf das, was philosophisches Denken über ein reduktionistisches Erklären hinaus sein will, sagt er: »Die Denkformen wollen weiter als das, was bloß vorhanden, ›gegeben ist‹«10. Die philosophische Reflexion inhaltlicher Welterfahrung ist nicht das Spiegelbild, das die neuronale Matrix als Abbild auf den ›Monitor‹ des Geistes wirft; sie ist eine gedanklich-figurative Übersetzung von Welterfahrungen im Darstellungsmedium philosophischer Sprache – mehr nicht, aber auch nicht weniger.
Aufs Ganze gesehen kann man folgern, dass Adorno »zum Kronzeugen dieser neuesten Paradigmenwechsel kaum […] geeignet«11 ist. Ausgehend von der Nicht-mehr-Aktualität der Schriften Adornos muss die Frage beantwortet werden: Warum noch Adorno lesen, speziell seinen philosophischen Schlüsseltext, die Negative Dialektik? Eine erste Antwort kann nur lauten: weil sie, die Negative Dialektik, »den scheinbar fest gefügten ›frame of reference‹ philosophischer Debatten [immer noch, T. J.] in Frage zu stellen«12 vermag; weil die gedankliche Subversivität dieses Werkes unweigerlich »eine kritische Denkbewegung« inauguriert, »die eingespielte Begriffsverwendungen untergräbt«13; und weil sie – gegen den gegenwärtigen Mainstream, Adornos Denkens zu vergessen – zu den philosophischen Klassikern des 20. Jahrhunderts zählt. Ein philosophischer Klassiker zu sein stellt keine posthume Nobilitierung des Autors dar. Klassisch ist dann ein Werk, wenn es zum »Wiederlesen« auffordert, wenn es »die Macht hat, einen Samen [des Nachdenkens] zu hinterlassen« und schließlich, wenn es sich derart »als unvergesslich behaupten« kann, sodass es »unablässig eine Staubwolke kritischer Reden über sich selbst hervorruft«14. Die bis heute ungebrochene Rezeptionsgeschichte der Negativen Dialektik beweist, dass dieses Werk zweifelsfrei ein philosophischer Klassiker ist.
Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf eine Kernfrage, die sich auf einen Leitgedanken der Negativen Dialektik bezieht: Wie kann konstellatives Denken sprachtheoretisch, genauer begriffstheoretisch, begründet werden? Konkreter gefragt: Wie ist der rätselhafte Satz in der Negativen Dialektik: »An ihr ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszulangen«, aufzulösen? Zielt diese Formulierung nur auf ein methodologisches Verfahrensmodell? Oder ist sein kryptisch wie paradox klingender Satz vielleicht dadurch aufzuhellen, dass man sich auf eine andere, ebenso rätselhafte Formulierung Adornos stützt, die da lautet: »Sprache als Organon des Denkens wäre der Versuch, das rhetorische Moment kritisch zu retten«15? Es geht darum, diese zwei Stellen aus der Negativen Dialektik systematisch so aufeinander zu beziehen, dass sie das Begriffslose, das Adorno als das Nichtidentische gekennzeichnet hat, begreifbar machen. Positiv gefragt: Ist das semantische »Mehr«16, das nicht in prädikativen Urteilssätzen aufgeht, vielleicht nur in Form semantischer Konfigurationsbildungen, ergo durch rhetorische Begriffsfigurationen einholbar?
Der Weg zur Beantwortung dieser Frage wird folgender sein: Zunächst soll ein Kerngedanke, ein Grundmotiv der Negativen Dialektik dargestellt werden, damit die Grundidee der Begriffskritik Adornos deutlich wird. Um den philosophiegeschichtlichen Hintergrund der Argumentationsstruktur Adornos zu verdeutlichen, werden die philosophischen Referenzen benannt, von denen sich die Negative Dialektik kritisch abstößt, indem sie diese verarbeitet. Diese sollen nur umrissen, angezeigt bzw. skizziert werden, um die bezeichnete Kernfrage angehen zu können. Diese wird in drei Argumentationsschritten aufgelöst: Erstens sollen die Lesarten des Begriffs ›Nichtidentisches‹ bzw. ›Begriffsloses‹ rekonstruiert und befragt werden, zweitens soll der Terminus ›Nichtidentisches‹ im Hinblick auf die Kategorie Sprachtranszendenz bezogen werden, und drittens soll einer der zentralen Begriffe der Negativen Dialektik, die Konstellationsbildung, als ein begriffstranszendierendes Verfahren auf der Basis rhetorischer Kategorien ausgelegt werden. Diese rhetorischen Kategorien sind solche des figuralen und nicht des persuasiven Sinngehalts. Das Verfahren selbst stützt sich auf den Terminus Begriffstranszendenz, der vom Begriff der Sprachtranszendenz abgehoben wird. Mit dieser Auslegung bzw. Interpretation einer Schlüsselkategorie Adornos wird abgesehen von Rezeptionsweisen, die die Negative Dialektik bisher traktiert haben: etwa die gesellschaftskritischen, die erkenntniskritischen, die messianischen, die praxisorientierten und letztlich die philosophiegeschichtlichen Lesarten. Der Impuls, sich nochmals des Konstellationsbegriffs anzunehmen, diesen im Lichte einer sprach- wie begriffskritischen Argumentation zu interpretieren, vermutet etwas Ungedachtes im Werk der Negativen Dialektik. Für dieses Ungedachte gilt die Anweisung Heideggers: »Je größer das Denkwerk eines Denkers ist, das sich keineswegs mit dem Umfang und der Anzahl seiner Schriften deckt, um so reicher ist das in diesem Denkwerk Ungedachte«17. Diese Unabgeschlossenheit, diese potenziell unbegrenzte Deutbarkeit liegt im Werk Adornos vor; sie ist es auch, die eine Reaktualisierung der Negativen Dialektik immer wieder antreibt.
2. Die Grundidee der Begriffskritik
Aufs Ganze gesehen ist die Negative Dialektik ein Schwarzbuch des tradierten philosophischen Denkens – weil sie dessen Zwang zum System aufkündigt, aber auch, weil sie dem katastrophalen Ereignis des 20. Jahrhunderts philosophisch Rechnung trägt. Wie? Indem sie der Willkür des begrifflichen Identifizierens, dem Identifikationszwang im Denken das widerständige Motiv des Nichtidentischen entgegensetzt. Entgegen jeder philosophischen Ontologisierung des Seienden insistiert sie auf der Singularität des Seienden, bevor es im identifizierenden Begriff seine Eigenart, seine Individualität verliert. Epistemologisch gesehen ist die Negative Dialektik eine radikale Erkenntniskritik: Sie will die begriffliche Subsumtion des Einzelnen, seine Singularität unter ein Erkenntnisschema, aufgehoben wissen. Mit anderen Worten: »Adorno will zeigen, daß Erkenntnis, die diesen Namen verdient, mehr ist als nur regelgeleitete Unterordnung von Sinnen- und Gedankenmaterial unter die logische Systematik«18. Im argumentativen Zentrum dieser radikalen Erkenntniskritik steht zwar eine Kritik des identifizierenden Denkens, aber die eigentliche Stoßrichtung seiner Kritik geht auf das Begriffsdenken, das den konstitutionellen Schein einer Identität von Denken und Inhalten aufrecht erhält. In nuce ist deshalb die Negative Dialektik eine ›philosophische Begriffskritik‹, um die problemlose Abschattung von qualitativen, das heißt sinnlichen Erfahrungsmomenten durch den identifizierenden Begriff kenntlich zu machen. Adornos Einforderung der konkret faktischen Erfahrung, ihrer sinnlichen Qualitäten setzt aber nicht etwa bei einer phänomenalen Konkretion an, so als wäre dies der Königsweg einer ungeschmälerten Erkenntnisweise. Das Credo seiner Begriffskritik lautet deshalb: »Beim Begriff anzuheben, nicht bei der bloßen Gegebenheit«19. Gerade das argumentative Ausspielen des Nichtbegrifflichen gegen das Begriffliche ist – neben anderen Motiven der radikalen Kritik – eine zentrale Idee der Negativen Dialektik, denn »philosophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff«20.
Mit dieser Grundidee korrespondiert eine alternative Denkform, die Adorno dem philosophischen Denken gewissermaßen als ein Therapeutikum vorschlägt: das Denken in begrifflichen Kohärenzen, in konstellativen Begriffsanordnungen, die, so die Vorstellung Adornos, »um die zu erkennende Sache sich versammeln«, damit es der eigentlichen »Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken«21, endlich zum Ausdruck verhilft. Einher geht damit, dass sich der Begriff der Philosophie sachlich ändern muss. Konkret heißt dies: Die Philosophie soll nicht mehr idealistisch oder materialistisch, schon gar nicht seinsontologisch sein; sie soll gegen den Strom des philosophischen Mainstreams eine Philosophie der Nichtidentität im Namen eines bisher unterdrückten Rechts des Begriffslosen, des im Erkenntnisprozess als subaltern Abgewiesenen sein: »Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen«22. In dieser veränderten Philosophie ist die exakte Darstellung philosophischer Erfahrung an eine Ausdruckskompetenz gebunden, die das Unbegriffliche, das Inkommensurable, sprachlich zu verobjektivieren versucht – mithin eine sprachästhetische Produktionsweise, deren Analogon in der Kunstproduktion angelegt ist.
3. Philosophische Referenzen
Die hier vorgenommene kurze Skizzierung der Grundidee der Negativen Dialektik spart notwendigerweise weitere Denkmotive aus, die dieses Werk durchziehen. Der adornitische »Geist des notwendig Nichtidentischen«23 setzt vorwiegend an der Abbreviatur philosophischer Begriffssystematik an, um deren Logik puristischer Bedeutungssprache ins Schwimmen zu bringen. Im Rahmen dieser Abhandlung können die philosophischen Referenzen, auf die Adorno rekurriert, um sie einerseits zu kritisieren, andererseits aber argumentativ gewendet für die Grundintention der Negativen Dialektik in Beschlag zu nehmen, nicht in Gänze referiert bzw. reinterpretiert werden. Nur zwei maßgebliche philosophische Bezüge sollen hier dargestellt und verhandelt werden: derjenige, der sich auf Kant, und derjenige, der sich auf die Dialektikkonzeption von Hegel bezieht. An beiden Referenzphilosophen arbeitet Adorno die Kritik ab, die er in seiner Frühschrift Die Aktualität der Philosophie als »Krise des Idealismus«24 gekennzeichnet hat.
Der Idealismus vertrat die unerschütterliche Idee, dass das Sein sich im Denken völlig abzubilden habe. Dies heißt nichts anderes, als dass alles Seiende im Sinne eines Totalitätsanspruchs erfassbar wäre. Ausgehend von den nachidealistischen Philosophien konstatiert Adorno: »Die Angemessenheit von Denken an Sein als Totalität aber hat sich zersetzt, und damit ist die Idee des Seienden selber unerfragbar geworden, die einzig über einer runden und geschlossenen Wirklichkeit als Stern in klarer Transparenz stehen könnte«25. Und bezogen auf die Erkenntnisprämisse des Idealismus heißt es: »Die autonome ratio – das war die Thesis aller idealistischen Systeme – sollte fähig sein, den Begriff der Wirklichkeit und alle Wirklichkeit selber aus sich heraus zu entwickeln. Diese Thesis hat sich aufgelöst«26. Wenn diese Thesis sich aufgelöst hat, so wäre dies – und Adorno folgert so – nicht nur eine Liquidation der genuin philosophischen Erfahrungsbegründung, sondern mehr noch »die Auflösung der Philosophie in Einzelwissenschaft« bzw. die Umwandlung der Philosophie in wissenschaftstheoretische Legitimationsarbeit.27 Da aber Philosophie keine Forschungsanleitung ist, vielmehr Deutungsarbeit, um die »Rätselfiguren des Seienden«28 zu dechiffrieren, bleibt die philosophische Durchdringung der phänomenalen Welt immer noch zu leisten. Nicht etwa, um »die Wirklichkeit sinnvoll darzutun und zu rechtfertigen«, sondern deren »Rätselgestalt blitzhaft zu erhellen und aufzuheben«. Dies heißt konkret, die Rätselfiguren des Wirklichen als konstellative »Antwort« auf die philosophische Deutungsfrage »lesbar« zu machen.29
Die Quintessenz von Adornos Kritik am Totalitätsdenken des Idealismus ist nicht dessen völlige Liquidation. Gemessen an den Vorgaben Kants und Hegels, die er für die Negative Dialektik reklamiert, ergibt sich eine argumentative Doppelstrategie: »Mit Kant gegen Kant, aber auch mit Hegel gegen Hegel, dies macht eines der Hauptmotive des Adornoschen Denkens aus«30. Substanziell bedeutet dies:
»Indem Adorno der Hegelschen Dialektik in ihrem wesentlichsten Punkt – der Geistkonzeption – nicht folgt, indem er aber gleichwohl an einem Verständnis von Dialektik festhält, demzufolge letztere nicht nur ein methodisches Instrument darstellt, sondern etwas mit der Sache selbst zu tun hat, ist er Nicht-Hegelianer und Hegelianer zugleich. Insofern Adorno andererseits Kant dahin gehend folgt, dass auch für ihn alles Erkennen vorgängig an Begriffe gebunden ist, über die das erkennende Subjekt nicht frei verfügt, die ihm vielmehr erst einmal vorgegeben sind, weshalb das ›Ding an sich‹ in der Tat (erst einmal) nicht zu erfassen ist, ist er Kantianer. Zugleich aber ist er auch Nicht-Kantianer, denn: Die alle Erkenntnis vorgängig bestimmenden Begriffe versteht Adorno nicht als Begriffe, die dem Subjekt transzendental und damit nicht hintergehbar vorgegeben sind, sondern er versteht sie als historisch entwickelte und deshalb als sehr wohl hintergehbare«31.
Die Auseinandersetzung mit Kant und Hegel ist für die Negative Dialektik elementar, denn Kants numinos bleibendes ›Ding an sich‹ konstituiert sich erst durch die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, mithin durch subjektive Begriffsbildungskompetenz. Damit wird aber erschlichen, dass alles Seiende unter eine begriffliche Subsumtion fällt, die auf das Vermögen eines transzendental operierenden Subjekts zurückweist. Zwar ist das ›Ding an sich‹ bei Kant unbestimmt, das heißt begrifflos unbegriffen, jedoch ohne es gäbe es keine verstandeskategoriale Abbreviatur durch einen dieses ›Ding an sich‹ bezeichnenden Begriff. Die Crux, die Adorno an Kant festmacht, ist die, dass dieser »mit dem Ding-an-sich an der ›Idee der Andersheit‹ festhalte«32, aber die Vermitteltheit von Subjekt und Objekt ausblende. Die Rehabilitierung der Andersheit, die alles einzelne Seiende für sich hat, ist aber der systematische Ansatzpunkt, den Adorno in der Auseinandersetzung mit Kant reklamiert. Die Negative Dialektik setzt, indem sie den kantischen Vorrang des erkennenden Subjekts und damit dessen begriffliches Subsumtionsbegehren durchstreicht, auf die Erfahrbarkeit der »Verflochtenheit« mit dem Seienden; denn nur so kann ersichtlich werden, »daß alles mehr sei, als es ist«33. In der Auseinandersetzung mit Kant wird der Begriff in seiner Erkenntnisfunktion zurückverwiesen auf das, was ihm unbegrifflich zugrunde liegt: Referenz auf materiale-sinnliche Erfahrungen. Ob diese konstellativ-begrifflich einzuholen sind, bleibt die Kernfrage dieser Abhandlung.
Adornos Kritik an Heideggers Seinsdenken zeigt dessen Leugnung jedes dialektischen Denkens auf. Wird das Seiende in den umfassenden Begriff des Seins völlig eingezogen, verschwindet nicht nur jede Differenz von Sein und Seiendem, es kann auch die Vermittlung von Sein und Seiendem nicht begriffen werden. Das Urteil lautet: »Die Dialektik von Sein und Seiendem: daß kein Sein gedacht werden kann ohne Seiendes und kein Seiendes ohne Vermittlung, wird von Heidegger unterdrückt: die Momente, die nicht sind, ohne daß das eine vermittelt wäre durch das andere, sind ihm unvermittelt das Eine, und dies Eine positives Sein«34. Die Differenz aber, und hier nimmt Adorno das dialektische Denken Hegels ernst, wird ausgetragen, wenn man das Seiende, seine vorgängige Nichtbegrifflichkeit, nicht zugunsten einer identitätsstiftenden Vermittlung aufhebt. Dies jedoch wird durch die positiv bestimmte Dialektik Hegels konterkariert: »Hegel beutet aus, daß das Nichtidentische seinerseits nur als Begriff zu bestimmen sei; damit ist es ihm dialektisch weggeräumt, zur Identität gebracht«35. Während Heidegger die Differenz von Sein und Seiendem ontologisch wieder glättet, indem das Sein das ›mythisch‹ Umfangene ist, geht Hegel zunächst von der Nichtidentität, von der Andersartigkeit des Seienden aus: Es ist unbestimmt und in dieser Unbestimmtheit konstituierendes Moment seiner begrifflichen Identifizierung. Gerade weil das einzelne Seiende (als Einzelnes) eine Negation des umfassenden Ganzen ist, dieses jedoch wiederum – weil das einzelne Seiende Teil des Ganzen ist – eine Negation der Negation bildet, wird das Nichtidentische konstitutives Moment einer Dialektik von Identität; so das hegelsche Diktum: »Wahrhaft ist ohne Nichtidentisches keine Identität«36. Die Dialektik – so Adorno – »trägt die Dialektik des Nichtidentischen nicht aus«; Hegel »eilt darüber […] hinweg«, weil »sein eigener Begriff des Nichtidentischen bei ihm Vehikel« wird, »es zum Identischen, zur Sichselbstgleichheit zu machen«37. Indem das Nichtidentische in seiner dialektischen Verwiesenheit zum Identitätsmoment im identifizierenden Begriff aufgehoben wird, verliert es, was ihm zukommt: seine Unbestimmtheit, seine Bestimmungslosigkeit. Hegel hat zwar die Dialektik von Identität und Nichtidentität entfaltet, jedoch alles Nichtidentische in die Totalität des Identischen zurückgesetzt: eben weil das »Totale bei ihm doch den ontologischen Vorrang an sich reißt. Dazu hilft die Erhebung der Vermitteltheit des Nichtidentischen zu dessen absolut begrifflichem Sein«38. Die Konsequenz ist die begriffliche Zurüstung alles Wirklichen, ist der Denkzwang durch identifizierende Allgemeinbegriffe, »alles qualitativ Verschiedene«39 einzuebnen. Dem anfänglich Widersprüchlichen, Gegensätzlichen, das zwischen dem begrifflichen Denken und den Gegenständen bzw. den Sachverhalten der Welt besteht, wird durch eine Identitätsdialektik der Stachel gezogen. Erst wenn die Dialektik nicht mehr »im Bann des Gesetzes, das auch das Nichtidentische affiziert« steht, wenn sie vielmehr »die vom Allgemeinen diktierte Differenz des Besonderen vom Allgemeinen entfaltet«, dann »gäbe [diese] das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte«40. Im kritischen Durchgang durch die Dialektikkonzeption Hegels gewinnt Adorno die Gestalt der Negativen Dialektik, weil in ihr der Begriff des Nichtidentischen zum Angelpunkt wird für den »Nachweis der Insuffizienz einer begrifflichen Bestimmung angesichts des von ihr erfaßten Gegenstandes«41. Zugleich wird das Nichtidentische zum Platzhalter für das Inkommensurable, den unbegrifflichen Rest, der durch die hegelsche »Logik der Denkbestimmungen« ausradiert wird; letztlich »um sie den Sachen überzustülpen«42. Da die hegelsche Begriffslogik die Erkenntnis als begriffliche Fixierung des Realen, des Objektiven, versteht, muss die Programmatik der Kritik der Negativen Dialektik ihre identitätslogische Entsprechung aufbrechen. Nicht, um fälschlicherweise zur reinen Anschauung, zur konkreten Unmittelbarkeit, zurückzukehren, sondern um das Bewusstsein von Nichtidentität, die als referentieller Schatten jeder Begriffsbildung wirkt, in Begriffen gegen den Begriff selbst auszuspielen. Mit der Umwidmung der Begriffsdialektik von Hegel zu einer negativen Dialektik des Begriffs bewegt Adorno sich im kritischen Fahrwasser dessen, was er an der hegelschen Konzeption gewinnt: dass die Negation der Negation nicht zugunsten seiner Positivität gedacht werden muss, sondern als prinzipielle Differenz, die die »absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität«43 sprengt. Die Rettung des einzelnen Seienden vor seiner ontologischen Einebnung ins umfassende Seinsgeschick oder seine Glättung durch die Aufhebung seiner Negationskraft qua identifizierenden Begriffs sind die Einsprüche, die Adorno gegen Heidegger und vor allem gegen Hegel formuliert. Dass er dabei nicht beim Gegenstand ansetzt, sondern bei dem Begriff, der diesen zu erfassen sucht, ist der argumentative Ausgang seines kritischen Durchgangs durch die beiden philosophischen Referenztheorien.
Will man einen zentralen Argumentationstopos der Negativen Dialektik herausstellen, um die Idee der konstellativen Begriffsbildung zu verhandeln, so ist es der Doppelaspekt, den Adorno am Begriff festmacht: Einerseits die Begriffskritik als Destruktion der Falschheit der Begriffsfunktion, ihrer Logik der Identitätsstiftung, andererseits dasjenige, was durch diese Logik wegfällt, weggeschnitten wird: das ›Mehr‹ am Begriff, das nur in einer Transzendierung seiner selbst zu begründen ist. Man kann diesen Doppelaspekt des Begriffs auch als Paradoxon seiner Bestimmung auffassen, und dann ergibt sich, was der Titel dieser Abhandlung programmatisch verspricht: »die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen«44. Wie aber ist diese Transzendierung mit und durch den Begriff zu leisten, ohne in einer Aporie erkenntnistheoretischer Art stecken zu bleiben? Meines Erachtens nur, indem man dieses begriffliche Transzendieren sprachtheoretisch entfaltet; nicht aber, wie Adorno meinte, durch eine erkenntnistheoretische und seinstheoretische Kritik allein.45
4. Die Lesarten des Nichtidentischen
Das Nichtidentische, der durch keine positive Vermittlung zu identifizierende Rest des Seienden, ist in den Werkinterpretationen der Negativen Dialektik in verschiedener Weise interpretiert, gekennzeichnet bzw. in seiner begrifflichen Aporetik verhandelt worden. Meines Erachtens lassen sich vier Lesarten auseinanderhalten, die jeweils eine andere Interpretation des Begriffs des Nichtidentischen vorlegen.
Erstens gibt es Reinterpretationen, die mehr oder weniger begriffliche Analogisierungen vornehmen, indem das Nichtidentische anhand der vorgegebenen Terminologie Adornos begrifflich variiert wird. Danach ist das Nichtidentische das Begriffslose, das Partikulare, das Besondere, das Individuelle, das Qualitative am Objekt, das unmittelbar Gegebene, das Andere, das Unentstellte, das Gewordene usw. Alle diese Termini kreisen zwar um einen identischen Bedeutungsgehalt, bringen aber außer einem Bündel lexikalischer Differenzen keine befriedigende Erklärung. Im Grunde können keine divergenten Merkmale des Begriffs des Nichtidentischen ausgemacht werden, sondern nur synonyme Bedeutungsüberschneidungen. Die Konsequenz solcher Unmöglichkeit, das Nichtidentische zu erklären, führt dann dazu, es als methodologischen Grenzbegriff auszuweisen, wobei dieser nur zu einer besonderen Erkenntnishaltung gegenüber den Objekten des Denkens verpflichtet ist: »Nichtidentisches wird nicht als das der Sache Anderes wahrgenommen, sondern bezeichnet einen anderen Blick auf die Sache; den, der sich ins Detail versenkt, sich des Besonderen, Individuellen in ihr annimmt«46. Gleiches gilt, wenn man für die Erfahrung des Nichtidentischen eine besondere epistemologische Einstellung einfordert: diejenige, die »gegenüber dem Objekt eine größere Aufmerksamkeit intellektuell aufbringt«47. Alle diese Versuche sind Verlegenheitsversuche, die die begriffskritische Reflexion der Negativen Dialektik entschärfen.