Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41

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Zweitens wird aus einer genetischen bzw. genealogischen Perspektive, letzteres unter Berufung auf die Leibphilosophie Nietzsches, die Adorno in die Negative Dialektik hat einfließen lassen,48 das Nichtidentische als sinnlich-somatisches Moment bezeichnet. Dieses Moment ist – so die Vorstellung – gleichsam unterschwellig, besser noch: subkutan im Begriff aufgespeichert. Unterhalb der abstraktiven Leistung des Begriffs ruhen Leib- bzw. Empfindungserfahrungen, die in die Begriffsbildung konstitutiv eingeflossen sind, aber im fixierenden, abstraktiven Begriff nicht mehr offen präsentierbar sind. Die genuine Unsinnlichkeit des Begriffs vermag die sinnlichen Qualitäten der Erfahrungsobjekte nicht direkt auszudrücken, allenfalls indirekt. Als Erfahrungsrudiment »schwingt […] die subjektive Empfindung im gewählten Begriff noch mit«, weil »der Gegenstand« dem »Subjekt eine affektive Reaktion aufzwingt«, wenn er »in der engsten Fühlung erlebt wird«49. Die These ist also, dass allein in der expressiven Schicht der Sprache die ursprünglich affektive Reaktion noch zu detektieren ist. Dies mag im Vermögen des sprachlichen Ausdrucks, seiner expressiven Natur, insbesondere dort, wo sie keine epistemologische Funktion, sondern nur poetische Darstellungswirkung haben soll, noch angehen – aber auch im philosophischen Begriff?
Zudem gibt es einen sprachtheoretischen Einwand. Zwar stehen erkennende Subjekte in einem sinnlichen Verhältnis zur Objektwelt; die Umformung zur Objekterkenntnis, zu deren begrifflicher Erschließung, ist jedoch nur im Medium der Sprache möglich. Die Restitution eines subjektiven Empfindungsvermögens in die Welterschließungsfunktion der Sprache bedeutet nichts anderes als ein Repräsentationsdenken, das die sinnliche Erfahrung durch die Begriffssprache – wenn auch hintergründig – abbildbar machen soll. Außerdem: Wenn Adorno das Nichtidentische auch als das Intentionslose bezeichnet hat, so beruht jede sprachliche Ausdrucksgestaltung von Empfindungen letztlich auf intentionalen Akten, die wiederum nur Bewusstseinsintentionen eines Subjekts sein können. Die argumentative Rückführung des Nichtidentischen auf sinnlich-somatische Erlebnisqualitäten kappt eine zentrale Pointe der negativ-dialektischen Kritik am Begriff: dass das Nichtidentische sich nur negativ bestimmen lässt und nicht in der Ausspielung des Sinnlichen gegen das Begriffliche. Der gewählte Umweg über die Reklamation eines subjektiven Empfindens, das vorrangig in die Begriffsbildung eingeht, unterschlägt dessen sprachtheoretische Klärung. Der Weg orientiert sich bei der Genese der Begriffsbildung immer noch kantianisch an der Synthese von Sinnlichkeit und Begrifflichkeit. Letztlich ist fragend anzumerken: Hat Adorno den Ausdruck ›Empfindung‹ nicht für alles unbegriffliche Denken, für falsch verstandene Konkretionen eines nur diffus erfahrbaren ›Unmittelbaren‹, reserviert?
Drittens existiert eine Lesart, die das Nichtidentische von den ethischen Implikationen her, die in der Negativen Dialektik argumentativ ausgestreut sind, bestimmt. Das Nichtidentische wird dadurch nicht mehr zum Verhandlungsterminus für eine negativ-dialektische Begriffskritik, sondern vielmehr dafür, was letztlich das Motiv adornoschen Denkens ist: rettende Kritik durch den Bruch mit der Identitätsdialektik. Erst nach dem Freiwerden vom tradierten Denken, das die Welt der Objekte begrifflich unter sich subsumiert, stellt sich ein, was die Programmatik negativdialektisch impliziert, wenn auch im kontrafaktischen Zustand. Diese Lesart schließt insofern an Adorno an, als dieser betont hat, negative Dialektik
»gäbe das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte. Versöhnung wäre das Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist. Der Versöhnung dient Dialektik«.50
Das Nichtidentische wird so zum Leitbegriff eines Versöhnungsdenkens in geschichtsphilosophischer Reichweite. Die epistemologische Korrektur, die erkenntnisreflexive Maxime der Negativen Dialektik wird eingebettet in einen Wahrheitsanspruch, den Begriffe einlösen sollen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit«51. Vom Standpunkt der philosophischen Referenz heißt dies:
»Die Adornosche negative Dialektik will nichts anderes. Materialistisch sucht sie, noch das Leiden in sich hineinzunehmen […], um einem veränderten Begriff von Erkenntnis den Weg zu bahnen. Genügen würde ihm erst eine solche, welche dem Leiden, das in ihren ›Begriffen sich sedimentierte‹, zum Eingedenken verhülfe«52.
Der Terminus ›materialistisch‹ gemahnt freilich an ein marxistisches Widerspiegelungstheorem in der Erkenntnisbegründung, dem Adorno vehement widersprochen hat: »Hinter jener These [des Materialismus] steht die Verachtung des Geistes zugunsten der Vormacht materieller Verhältnisse als des Einzigen, das da zähle«53. Zudem bleibt die aporetische Frage, die unterhalb einer ethischen Forderung an die Erkenntnis virulent ist, ungelöst: Wenn Leiden, zumal geschichtliches Leiden, in »Begriffen sich sedimentierte«, wie drückt sich diese Sedimentierung im Begriff aus? Und wie ist die Erfahrungsgeschichte in geschichtlichen Begriffen aufbewahrt, sodass sie als beredtes Leiden sich erneut artikulieren kann? Die Crux solcher Fragen liegt darin begründet, dass Begriffe, zumal die philosophischen Termini, aus diskursiven Praktiken stammen, diese aber nie selber direkte Übersetzungen erlebter Leidensprozesse sind. Zwar mögen sich diese diskursiven Praktiken, ihre semantischen Haushalte, durchaus aufgrund von realgeschichtlichen Ereignissen verändern bzw. umcodieren, jedoch sind sie keine kollektiven Gedächtnisbehälter, in denen geschichtliches Leiden eingelagert ist. Wäre dem so, hieße dies, dass geschichtliche Begriffe, zumal auf der Ebene philosophischer Terminologie, ihre semantischen Veränderungen direkt von diesen geschichtlichen Leidenserfahrungen erhalten, die sie widerspiegeln. Dies würde aber den diskursiven Veränderungspraktiken philosophischer Termini widersprechen, die gerade im Prozess intertextueller Auseinandersetzungen ihre originären Bedeutungsfestlegungen wie Wandlungen vollziehen. Der philosophische Begriff ›Freiheit‹ hat zum Beispiel seine eigene Geschichte von Bedeutungsverschiebungen, die aus den philosophischen Abarbeitungen seiner textuellen Auslegungspraktiken stammen, ist aber niemals ein direktes Sediment geschichtlicher Leidenserfahrungen. Zu meinen, dass in philosophischen Begriffen Leidenssedimente enthalten sind, macht diese Begriffe tendenziell zu Widerspiegelungsvokabularien von gesellschaftlichgeschichtlichen Leidensereignissen. Dies umgeht aber die begriffsgeschichtliche Deutungsmaxime, dass historische Begriffe nur der Niederschlag von vergangenen Artikulationspraktiken sind.54 Diese entwerfen niemals eine expressiv-sinnliche Textur geschichtlicher Leidenserfahrung selbst. Leidensgeschichten müssen ›erzählt‹ werden; dies ist ihre Beredsamkeit aus dem erlittenen Schmerz und Protest. Sie finden sich unter Umständen im historischen Quellenmaterial erzählend angezeigt, sedimentieren sich aber nicht im Schatten philosophischer Begriffe, die sich auf das Sinnganze der historischen Erfahrung auslegen.
Daher gilt: Historische Begriffe referieren auf eine vorgegebene textuelle Deutungspraxis, Leidenserzählungen referieren hingegen auf erlebte Geschichtsereignisse, die expressiv ›beredt‹ sein wollen. Die Hermeneutik philosophischer Begriffe ist nicht auf eine Resurrektion von Leidensartikulationen ausgelegt – ihr Ingenium ist es gerade, diese vergessen zu lassen. An historisch-philosophischen Begriffen kann nachträglich negativdialektisch nichts zum ›Eingedenken‹ gebracht werden. Es sei denn, man überdehnt sie in ihrer Bedeutsamkeit, sodass sie zu emphatischen Statthaltern einer ethischen Sollensforderung werden. Bei aller Sympathie dafür bleibt aber der Einspruch, dass ethische Forderungen nicht erkenntniskritische Bedenken und Reflexionen ersetzen können. Dies wäre auch für Adorno unzulässig. Das Fazit lautet daher: Der Begriff des Nichtbegrifflichen, der das Nichtidentische ausmachen soll, kann nicht dadurch gerettet werden, dass er zum materialistischen Schattensubstrat geschichtlicher Philosopheme erklärt wird. Die epistemologische Begriffskritik ist immer noch das Herzstück der Negativen Dialektik, auch wenn in ihr Appelle an die zivilisatorische Leidensgeschichte enthalten sind. Diese ist jedoch primär in der Dialektik der Aufklärung nacherzählt und geschichtsphilosophisch gedeutet.
Viertens gibt es Argumentationsweisen, die das Nichtidentische – ganz im Sinne der Intention der Negativen Dialektik – nicht fixieren, nicht versuchen, es begrifflich einzuholen. Für sie gilt, was der negative Reflexionsmodus der Negativen Dialektik intendiert: keine Klassifikation, keine Substantivierung durch den Begriff, um dem Begriffslosen endlich habhaft zu werden. Das Nichtidentische – und die paradoxale Formulierung muss hier sein – ist dasjenige, was nur im Abweisungsmodus kritisch-reflexiven Denkens sich als ein Entziehendes, als ein Nichtfassbares, als ein Unaussprechliches dem Begreifen widerständig zeigt. Der Terminus ›Nichtidentisches‹ ist eine Grenzmarkierung, ein Argumentationstopos, der sich der Identifikationsgewalt allen begrifflichen Denkens negativ-reflexiv inne wird: »Negative Dialektik ist nicht Reflexion auf die Sache unmittelbar, sondern Reflexion dessen, was daran hindert, der Sache selbst inne zu werden«55. Auch wenn das Nichtidentische gern zum Platzhalter für alle Begrifflichkeiten des Residualen herangezogen wird, so geht es in dieser Lesart nicht um so etwas wie das Übriggebliebene, wenn der Begriff versagt. Vielmehr wird ein negativ-kritischer Reflexionsmodus ins Spiel gebracht, der das Nichtbegriffliche gerade nicht benennt, es aber als selbstreflexives Widerspruchsmoment des begrifflichen Denkens rehabilitiert.
Solchermaßen geht vom Nichtidentischen der Odem des Unvollkommenen aus, das dem Begriff zu eigen ist. Unvollkommenheit ist aber, wie Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen besagt, nicht bloß das Schlechte, sondern in ästhetischer Hinsicht etwas, was sich erst noch herzustellen hat: »Das Unvollkommene im positiven Sinn entbehrt nur der weiteren Gestaltung, sich ganz als das zu zeigen, was es an sich schon ist«56. Was Adorno als Signifikationsfähigkeit des Begriffs kritisch detektiert, ist das Bestreben des Begriffs nach Vollkommenheit, wenn er zu seinem systematischen Abschluss strebt. Seine qualitative Unvollkommenheit jedoch, die sich als Erfahrungsnegation anzeigt, ist sein konstitutiver Mangel an sprachlicher Ausdruckskraft, an sprachlicher Poiesis. Die begriffliche Funktionalität der Welterschließung schattet ab, dass die Sprache in ihrer Vollkommenheit einen Mehrwert hat, der über den Begriff hinausgeht. Begriffssprache ist eben nicht alles, was die Sprache leistet.
Will man dieses »Mehr«57, dieses den Begriff Übersteigende, das sich erkenntnisreflexiv am Nichtidentischen anzeigt, kenntlich machen, das heißt versuchen zu erklären, so muss dieser Versuch sprachtheoretisch vorgehen. Dies klammert aus, was in der Negativen Dialektik »als untilgbare Differenz von Begriff und Realität […] bekräftigt«58 ist; denn sie ist das Mal, »das die unaufhebbare Nichtidentität von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis hinterläßt«.59 Adornos Begriffskritik stützt sich immer noch darauf, dass die Begriffsbedeutung im referentiellen Bezug zu ihrer Sache steht, und zwar so, dass diese als das Andere, als das durch den Begriff Nichtaufhebbare, gedacht wird. Die referentielle Abwesenheit der Sache im Begriff wird so zur Bestimmung des Nichtidentischen. Wenn aber der begriffliche Verweisungssinn der Begriffe auf die stumme Sache nicht mehr federführend ist, also der Einbezug der Objektreferenz ausgeklammert wird, müsste das Begriffslose, der andere Name für das Nichtidentische, auch für eine Interpretation offenstehen, die sich – sprachtheoretisch gewendet – als Reflexion der Begriffstranszendenz auslegt. Gerade weil sich »der Begriff des Nichtidentischen […] durch keine erkenntnistheoretische Aufklärung wegargumentieren läßt«60, müsste ein Versuch über die Sprachtheorie hilfreich sein. Die Begriffstheorie Adornos, die sich am Ausdruckscharakter der Sprache, an ihrer ästhetischen Darstellungsform orientiert, hätte ernst zu nehmen, was im Auseinandertreten von Ausdruck und Sache einzig Sache des Ausdrucks ist: »Sprache wird zur Instanz von Wahrheit nur am Bewußtsein der Unidentität des Ausdrucks mit dem Gemeinten«61. Die Sache des Ausdrucks ist aber die Sache der Rhetorik.
5. Sprachtranszendenz und/oder Begriffstranszendenz?
Eine Grundmaxime der Negativen Dialektik, die das Nichtidentische im Begriff, und zwar nur in diesem selber, zu detektieren sucht, lautet: »Philosophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff«62. Die sprachkritische Pointe, das Nichtidentische im Begriff zu denken, bezieht ihre kritische Volte aus einem Versagen der prädikativen Sprache, weil diese nicht identisch ist mit der semantischen Fülle der Sprache sowie ihrer sinnlichen Ausdrucksqualitäten.
Wenn Adorno das Unausdrückbare einfordert, um das sich die Philosophie zu bemühen habe, so liegt dies nicht im Jenseits, nicht im Übernatürlichen; auch nicht in einer existenzphilosophisch fabulierten Transzendenzerfahrung, für die Jaspers den Grenzbegriff ›Chiffre‹ reservierte. Schon gar nicht ist es mit dem religiös konnotierten Wort des ›göttlich Numinosen‹ zu vereinbaren. Der Transzendenzbegriff Adornos, dies zeigt sein Kunstverständnis, war immer innerweltlich bestimmt. Kunstwerke, so Adorno, »produzieren eine Transzendenz sui generis […]. Ihre Transzendenz ist ihr Sprechendes oder ihre Schrift, aber eine ohne Bedeutung oder, genauer, eine mit gekappter oder zugehängter Bedeutung«63. Das Unausdrückbare, für das der ästhetische Transzendenzbegriff einsteht, ist nicht durch eine Aufkündigung des Weltbezugs zu haben; er ist an die sprachliche Ausdruckskreativität geknüpft, die sich im Kunstwerk realisiert. Übertragen auf die Begriffstheorie der Negativen Dialektik heißt dies, dass die negativ-kritische Interpretation des Unausdrückbaren einzig sprachtheoretisch auszuweisen ist, indem das Ineinander, die wechselseitige Verwiesenheit von Begrifflichem und Unbegrifflichem aus ihrem ›internen Negationsverhältnis‹64 erklärbar wird. Dies gelingt nur, wenn erfasst wird, was über die urteilslogische Ist-Funktion der Sprache sprachlich ›hinausweist‹ bzw. diese transzendiert. Solchermaßen ist das Transzendente, das Adorno als die Sprachähnlichkeit der Kunstwerke bezeichnet, eine Ausdruckform, die das Unsagbare, mithin das Begriffslose, als ein sprachliches Transzendieren kennzeichnet. Folglich ist das Nichtidentische sprachtranszendent zu bestimmen.
Dies darzulegen, hat Glauner versucht.65 Sein Gedankengang, von dem es sich hier letztlich abzusetzen gilt, ist dabei folgender: Es gibt das sprachtheoretische Paradox, »daß wir den Gebrauch eines Zeichen zwar beschreiben, damit jedoch nicht seine Bedeutsamkeit erklären können«66. Was heißt dies genau? Die Erklärung kann durch die Kritik am gebrauchsorientierten Sprachverständnis, so wie es von der analytischen Sprachphilosophie verwendet wird, erfolgen. Die Bedeutung, also die Semantizität der Zeichen, ergibt sich durch die faktische Gebrauchsfunktion der Zeichen im Sinne von urteilslogischen Prädikationen, die den Sprache-Weltbezug auf diese Weise festlegen. Man kann also lebensweltliche Funktionen der Zeichenbedeutungen zeigen, das heißt beschreiben, nicht aber eigentlich die Bedeutsamkeit der Bedeutung im Sprache-Weltbezug selber. Anders formuliert: Man kann die sprachpragmatische Funktion der Semantizität aufzeigen, nicht aber die Bedeutung der Semantizität der Zeichen erklären. Es gibt also – wie Glauner konstatiert – so etwas wie eine »Unterbestimmtheit des Sprache-Weltbezugs«, die aussagt, dass letztlich das genuin Semantische nicht »im Sinn einer Letztbegründung objektiviert und so begründet werden«67 kann. Die Sprachkritik Adornos (wie auch die Heideggers) setzt hier an, indem sie einerseits die urteilslogische Identifikationsfunktion der Sprache als Verkürzung der Sprache selbst hervorhebt und andererseits auf einer ›Mehr‹-Qualität der Sprache insistiert. Das Urteil lautet deshalb: »Nicht zielt er auf Überhöhung der Unsagbarkeit zur Eigentlichkeit [wie etwa Heidegger, T. J.], sondern er versucht in der Reflexion des urteilstranszendenten Mehr des Gegebenen ›zu sagen, was sich nicht sagen lässt‹«68. Zu sagen versuchen, was sich nicht sagen lässt, heißt für Adorno, das »›Surplus des Materialen‹ in der Sprache aufzusuchen«69. Hier wie auch in anderen Lesarten des Nichtidentischen, mithin des Begriffslosen, dominiert die Frage der semantischen Transzendenz bei Adorno ›allein‹ im Sprache-Weltbezug, also auf der Ebene einer referentiellen Bezugnahme der Zeichen bzw. der Begriffe. Für Adorno ist die Sprachtranszendenz daran gebunden, und die Negative Dialektik liefert hierfür mehr als eine Belegstelle, dass das Überschreitende der urteilslogischen Sprachfunktion in der Verwiesenheit des Sprache-Weltbezugs auf ein Materielles begründet ist. Anders formuliert: Der sich in der Sprache anzeigende Mehrbestand resultiert nicht aus einem ›Innerhalb‹, sondern einzig aus einem ›Außerhalb‹ der Sprache. Die Semantizität bleibt am Referenzbezug kleben. Bei Adorno nimmt die Semantizität zudem noch das geschichtlich-materiale Moment des Sprache-Weltbezugs in sich auf. Die Crux dieser Konzeption der Sprachtranszendenz liegt nicht so sehr im Überschreitungsmodus einer urteilslogischen Sprache, auch nicht in der Annahme eines expressiven Mehrgehalts, das die Sprachtranszendenz ins Spiel bringt; sie liegt im Verständnis des Transzendenzbegriffs selbst. Entweder wird er so definiert, dass ein Sprachtranszendentes die Negation der urteilslogischen Identifizierungspraxis ist, also das Entzugsmoment; oder es wird durch ihn etwas bezeichnet, das jenseits der objektsprachlichen Bezugnahme allein und ausschließlich aus dem offenen Procedere von semantischen Ausweitungen des Begrifflichen besteht. Wenn man so will: eine Begriffstranszendenz, die sich aus der Polysemie von Begriffen konstellativ bilden lässt. Man muss also die Sprachtranszendenz, die Adorno für das Nichtidentische der Sprache einklagt, abgrenzen von einer Begriffstranszendenz, die das Nichtidentische der Begriffssprache aus dem gegenseitigen Verweisungszusammenhang, in dem Begriffe ständig stehen, herleitet. Auch dafür gibt es in der Negativen Dialektik eine argumentative Intonation, freilich schwächer und eher implizit angesprochen. Die Begriffstheorie Adornos ist nicht identisch mit seiner Sprachtheorie, gleichwohl haben sie in dem Grundprinzip des Transzendierens von bestehenden wie fixierten Bedeutungsinskriptionen ihre Gemeinsamkeit. Die Differenz beider aber liegt darin, dass die Sprachtranszendenz bei Adorno – so zeigt es jedenfalls Glauner auf – das ›Mehr‹ der Bedeutung auf ein materielles Moment des Sprache-Weltbezugs zurückführt, während die Begriffstranszendenz – so die These hier – allein das Überschreiten fixierter Bedeutungen anvisiert: »Die Begriffe einer Sprache haben ihre Bedeutung nicht aus dem Bezug auf einzelne Sachen« – also ihrem referentiellen Bezug –, »sondern wesentlich aus ihrer Beziehung zueinander; nur indem sie implizit aufeinander verweisen, können sie auf etwas an ihren Objekten verweisen«70. Bleibt der letzte Halbsatz gestrichen, hat man die Grundidee der Konstellationsbildung von Begriffen, die sich ausschließlich der Begriffstranszendenz verdankt.
6. Begriffstranszendenz durch Konfigurationsbildung
Adorno benutzt zwar den Terminus Konstellationsbildung, für eine sprachtheoretisch-rhetorisch reklamierte Begriffstranszendenz wird hier jedoch der Terminus Konfigurationsbildung gewählt. Figurationsbildung meint jetzt die begrifflichen Konstellationen durch Begriffstranszendenz. Zudem weist der Terminus Konfigurationsbildung nachdrücklich auf »das rhetorische Moment« hin, das Adorno, »entgegen der vulgären Ansicht«, für das dialektische Denken »kritisch zu erretten«71 trachtet.
Wir müssen nicht nochmals im Einzelnen auf die gängigen Lesarten des Konstellationsbegriffs bei Adorno eingehen. Festzuhalten bleibt, dass der Gebrauch dieses Begriffs eine gewisse Bedeutungsinkonsistenz aufweist. Federführend wird er dafür exponiert, dass die begriffliche Konstellation den Erkenntniszugang zum Singulären, zum Besonderen ermöglicht: gleichsam ein Universalschlüssel, besser noch eine »Nummernkombination«72, die »das Spezifische des Gegenstandes [belichtet], das dem klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist«73. Der Konstellationsbegriff fungiert als eine ›repräsentative Modellanordnung‹ für die Sache, die der Begriff zwar meint, die aber erst durch seine Begriffskonstellation erreichbar ist. Nicht umsonst formuliert Adorno, dass die Konstellation »von außen«, dasjenige repräsentiert, »was der Begriff im Innern weggeschnitten hat«74. Die Hypothek, die dieser Konstellationsbegriff auf sich nimmt, besteht darin, dass die Konstellation erkenntnistheoretisch ersetzen soll, was der klassifikatorische Begriff nicht einlöst: Die Besonderheit der Sache, die Singularität des Objekts erfahrbar zu machen.75 Nicht, dass die Sache selbst sich durch die Konstellation direkt abbilden würde – ein Gedanke, den Adorno gänzlich von sich weisen würde. Doch steht die Herstellung einer reflexiven Versuchsanordnung, also die Konstellationsbildung, ganz im Zeichen einer Aufschlüsselung dessen, was die Sache selbst ist. Anders ausgedrückt: Die durch den Begriff verursachte Abspaltung des sinnlich Materiellen soll durch die Konstellationsbildung rückgängig gemacht werden. Die für den Konstellationsbegriff leitenden Topoi sind deshalb auch bezeichnend: ›Vorrang des Objekts‹ und ›materialistischer Erfahrungsbezug‹.
Der Konstellationsbegriff wird somit systematisch und begründungstheoretisch in die vorausgesetzte Dialektik von Subjekt und Objekt zurückgebunden, und zwar so, dass sie erkenntniskritisch die Präsupposition des erkennenden Subjekts zugunsten eines Widerspruchscharakters des Objekts zurücknimmt. Der Konstellationsbegriff ist fundiert in einer rein erkenntnistheoretischen Kritik, die weniger sprachtheoretischer denn bewusstseinstheoretischer Natur ist. Das Begriffstranszendierende, das Nichtidentische oder auch Begriffslose wird als ein eigentlich sprachlich Immanentes, dadurch nicht mehr ausreichend, reklamierbar. Der Konstellationsbegriff wird auf eine reine referentielle Bezugnahme auf ein Erkenntnisobjekt ausgerichtet. Dies heißt aber, dass das Phantasma einer Objektrepräsentation, auch wenn sie nur modellhaft sprachlich sich darstellt, weiterhin gewahrt bleibt; was im Kern einem Repräsentationsdenken folgt. Das Versprechen der Konstellationsbildung lautete: Indem sich das Objekt »einer monadologischen Insistenz« öffnet, besteht »die Möglichkeit zur Versenkung ins Innere«; die jedoch »bedarf des Äußeren«76, also dessen, was durch Begriffe von ihm getrennt wird. Trügerisch ist diese konstellativ verfahrende Objektöffnung allemal, denn sie verlangt ein »Kommunizieren mit dem, wovon der Begriff es trennte«77. Dabei soll doch die Konstellation den »Begriff umkreisen, den er [der theoretische Gedanke, T. J.] öffnen möchte«78. Wenn die Konstellationsbildung nicht an das Objekt adressiert ist, sondern – wie Adorno sagt – einzig »lesbar als Zeichen der Objektivität: des geistigen Gehalts«79, dann erlaubt sie, worin sich der geistige Gehalt von Begriffen austobt: die philosophische Darstellung dessen, was die fixierten Begriffe verflüssigt, worauf sie in ihrem sprachlichem Mehrgehalt anspielen, wenn sie aus ihrem klassifikatorischen Identitätszwang befreit sind.
Der Konstellationsbegriff bei Adorno wird ein anderer, wenn er die konfigurative Kraft entbindet, die den Begriffen innewohnt und die die Begriffe über sich ›hinausgelangen‹ lässt. Diese andere Bestimmung des Konstellationsbegriffs geht einher mit dem, was Adorno in Analogie zum musikalischen Komponieren angeführt hat: Es gewinnt seine Objektivität durch einen musikästhetischen Zusammenhang, in dem einzelne Töne zu einem Gesamtwerk werden. Man muss noch einmal zurückgehen auf das, was Adorno früh schon in seiner Studie zu Kierkegaard als den Grundgedanken der philosophischen Konstellationsbildung vorwegnahm: »Kunstwerke gehorchen nicht der Macht der Allgemeinheit von Ideen. Ihr Zentrum ist das Zeitliche und Besondere, auf welches hin sie als dessen Figur sich ausrichten: was sie mehr bedeuten, bedeuten sie einzig in der Figur«80. Konstellationsbildung muss man in diesem Sinne begreifen: als Figuration, die sich durch sprachkreatives Konfigurieren von Begriffstranszendenzen herausbildet.