Meinetwegen kann er gehen

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Nachdem der gesamte Hofstaat, die Regierungsmitglieder und die Armee die absolute Zuverlässigkeit und sprichwörtliche Pünktlichkeit Kaiser Franz Josephs gewohnt waren und diese Tugend als Inbegriff dynastischer Höflichkeit empfanden, erregte Karl auch mit einer kleinen Schwäche viel Unmut – nämlich seiner Unpünktlichkeit. „Karl kam bei allen Gelegenheiten später als zur festgesetzten Zeit und Leute, selbst Erzherzoge, die zur Audienz nach Laxenburg oder Reichenau befohlen waren, mußten dort Stunden und Stunden über den bestimmten Zeitpunkt im Vorzimmer warten, ehe sie vorgelassen wurden, oder schließlich, was auch öfter geschah, nach stundenlangem Warten mit dem Bescheid abziehen, daß der Kaiser sie diesmal nicht empfangen könne … Es war drollig zu hören, wieviel der Kaiser täglich arbeite; vom frühen Morgen bis in die späte Nacht sollte er tätig sein, aber nichts kam vorwärts. Ich hatte den Eindruck, er wäre einer jener Leute, die für nichts Zeit finden, weil sie stets vollauf mit dem Gedanken beschäftigt sind, eine entsetzliche Menge Arbeit vor sich zu haben, und die daher in Wahrheit gar nichts tun. Alles geschah oberflächlich … es mangelte ihm auch an Interesse für die Dinge“,24 notierte Redlich in seinem Tagebuch.
Mehr und mehr fiel auch Karls Unruhe auf. Hohenlohe erzählte Redlich: „Die Unruhe und Hast und Überarbeitung des Kaisers sei beispiellos. Er, Hohenlohe, ist in größter Sorge, dass in einiger Zeit ein Kollaps eintreten werde: Weder physisch noch geistig sei der Kaiser diesen Anstrengungen gewachsen. Vorgestern ist er hier angekommen: von 8 Uhr Früh bis 9 Uhr abends hat er Audienzen erteilt. Heute ist er um 3 Uhr nachmittag wieder an die Front gefahren. Wozu, weiß niemand! Dort geht es geradeso zu: in der vorigen Woche … inspizierte er eine Division, die von 8 Uhr Früh bis 3 Uhr nachmittags auf ihn wartete: Zwei Stunden lang redete er mit jedem dekorierten Soldaten! Hier in Laxenburg und in Reichenau warten die Staatsmänner stundenlang, bis sie zur Audienz drankommen.“25 Auch Ministerpräsident Heinrich Lammasch äußerte sich besorgt ob der Impulsivität und der „dadurch hervorgerufenen schwankenden Verfahrensweise“,26 wie er es dezent ausdrückte.
Selbst Cramon berichtete besorgt nach Deutschland: „Besonders aufgefallen ist mir an Kaiser Karl die Unruhe, die ihn dauern beherrschte, die ihn völlig zwecklos im Land herumtrieb, ihn selbst am ruhigen Arbeiten hinderte und auch seine Umgebung – darunter den Generalstabschef – von ihrer Tätigkeit abzog. General v. Arz konnte tatsächlich häufig gar nicht wissen was beim AOK geschehen, angeordnet oder unterlassen war; er stand tagelang außerhalb der Dinge und mußte dann mit seiner Unterschrift Entschließungen decken, über deren Grundlagen und Zweckmäßigkeit er gar nicht unterrichtet war.“27 Diese Einschätzung offenbart das große Problem von Karls Herrschaft: Sicherlich von bestem Willen getrieben, stellte er alles auf den Kopf und zerstörte die Strukturen, die sicher hemmend waren – ohne jedoch neue aufzubauen –, und beschleunigte damit den Untergang der Monarchie.
Sogar sein Obersthofmeister und Vertrauter Konrad Hohenlohe schilderte den Kaiser in seiner Enttäuschung ganz ohne Beschönigungen. Er lobte seine Güte und Bescheidenheit, kritisierte aber seine Ideenlosigkeit und seinen fehlenden Sinn fürs Wesentliche. „Er hat einen unbezähmbaren Trieb sich zu informieren, weil er in allen Stücken das Gegenteil des Kaisers sein will, der nach seiner Meinung sich durch eine chinesische Mauer von der Welt abgesperrt hielt und in allen Stücken getäuscht wurde. Darum hört er jeden, der bis zu ihm vordringen kann. Wenn es jemand gelingt, an ihn heranzukommen, und wäre er auch der Niedrigste und käme mit den konfusesten Dingen, so hört er ihn nicht nur an, sondern handelt sogleich danach. So kommt es, dass ungeheure Massen von mehr oder weniger wichtigen Details seinen Kopf füllen. Aber er hat keine Ordnung darinnen, keine selbständige Kritik. Als ich Hohenlohe sagte, Koerber habe nach seiner Demission mir ihn so geschildert und gesagt, niemand werde diesen Mann leiten können, da er glaube, alles selbst besser zu wissen und zu verstehen, während er doch nichts versteht, meinte Hohenlohe, Koerber sei eben ein grundgescheiter Mensch, der den Kaiser richtig erkannt habe … Aus der ganzen Darstellung Hohenlohes entnehme ich, dass er den Kaiser für ganz unreif, ohne klare Ziele und Überzeugungen hält, dass er keine feste Persönlichkeit besitze, allen möglichen Einflüssen zugänglich sei.“28 Auch wenn man berücksichtigt, dass die einflussreichen Aristokraten vor allem auch um ihre bis dahin konkurrenzlose Macht und ihren Einfluss bangten, war diese Einschätzung für einen Kaiser ein vernichtendes Urteil.
Schließlich sorgten aber die Unsicherheit und überhasteten Entscheidungen sowie damit verbundenen ständigen Meinungswechsel für Frustration. „Der Kaiser war wiederholt gezwungen, seine Befehle zurückzuziehen oder abändern zu lassen, wodurch nicht nur seine Autorität empfindlichsten Schaden litt, sondern wodurch auch in immer weiteren Kreisen der Glaube an die Monarchie überhaupt ins Wanken geriet … Die zwei ihm anvertrauten Hauptaufgaben, die Beendigung des Krieges und den inneren Umbau der Monarchie, behandelte der Kaiser ebenso leichtfertig … (und) befasste sich damit nur hie und da, gelegentlich, wie mit einer Nebensache und mit dieser Lässigkeit stürzte er sein Reich ins Elend.“29
Dabei gab es sehr wohl Vertraute, die die akutesten Probleme sahen und ihm auch Gedankenanstöße darüber lieferten, was er dringend ändern müsste, um das Ruder noch einmal herumzureißen. Doch Karl war schließlich doch zu sehr Traditionalist und vor allem zu schwach, um große Veränderungen mutig anzugehen. Ein Beispiel war die dualistische Staatsform, die sich in Kriegszeiten als enorm problematisch, weil hemmend erwies. Kapazitäten und Ressourcen wurden vergeudet, Entscheidungen gefährlich in die Länge gezogen und nicht selten arbeiteten die parallel geführten österreichischen und ungarischen Stellen nicht mit-, sondern eifersüchtig gegeneinander – selbst in so wichtigen Fragen wie der Lebensmittelversorgung der hungernden Bevölkerung. So meinte Windischgraetz besorgt zu Karl: „Majestät, um in das Chaos der verschiedenen Kräftegruppen Ordnung zu bringen, müßte eine Zentralstelle bestehen. Was wir brauchen, wäre ein Reichskanzler … Majestät sind die einzige Zentralstelle, sind der Reichskanzler; aber der Monarch soll niemals persönlich in die komplizierte Maschine der Reichsverwaltung eingreifen und Detailbestimmungen auch nur vorschreiben. Dies kann die übelsten Folgen für ihn und die Dynastie haben. Wenn österreichische und ungarische Regierung, Ministerium des Äußeren und A.O.K. in ihrer Politik sich nicht decken, ist Politik ein Unsinn … Der König soll herrschen, aber nicht regieren …“30 Windischgraetz war der Ansicht, dass ein übergeordneter Außenminister oder eben eine Art Reichskanzler für beide Hälften der Monarchie effizienter und dringend notwendig wäre. Karl war angeblich begeistert: „Das ist es ja, was ich brauche. Ich will Reformen überall. Die größte Schwierigkeit ist, die so verschiedenen Richtungen in Ungarn wie auch in Österreich zu der so notwendigen Zusammenarbeit zu bringen.“31 Windischgraetz notierte in seinen Memoiren sarkastisch, dass sich Karl ganz einfach nicht zum ungarischen König hätte krönen lassen sollen – dann gäbe es all diese Probleme nicht. Sein verbitterter Nachsatz: „Natürlich geschah nichts … Das Unglück war, daß der Monarch keine verantwortungsfreudigen Staatsmänner besaß, die seine Politik offen und ehrlich vertreten wollten. Sein Fehler war, nicht mit allen ihm zu Verfügung stehenden Mitteln eine endgültige Lösung zu probieren. So ließ er sich allzu lang von den um ihre politische und physische Existenz besorgten Berufspolitikern immer wieder auf eine bessere Zukunft vertrösten.“32

Briefmarkenentwurf von Kolo Moser aus dem Jahr 1917, der nicht angenommen wurde.
Erschwerend kam hinzu, dass Karl in vielen Situationen instinktiv falsch reagierte. Sein Umfeld war zunächst verärgert, dann zunehmend fatalistisch: „Des Kaisers Wankelmütigkeit war umso verhängnisvoller, als er sofort und ohne viele Umstände einen neuerlichen Wechsel vornahm, wenn er jemanden nicht sogleich seinen Wünschen und Zumutungen willfährig oder entsprechen fand. So fühlte sich niemand vor plötzlichen Verstimmungen und Ränken sicher, niemand hatte den Ehrgeiz, mit Liebe und Tatkraft zu schaffen, denn die Frage: ,Wer weiß, ob ich morgen noch im Amt bin‘, lähmte alle besseren Regungen …“33 Das „unaufhörliche System des Personenwechsels“ wurde mit der Zeit sogar als „das einzig Beständige“ seiner Regierung bezeichnet.34 Dahinter steckte aber nicht Willkür, sondern offenbar vielmehr schlichtweg Bequemlichkeit. So schilderte Cramon: „Seine Energie reichte nicht dazu aus, um Schwierigkeiten zu überwinden, er begnügte sich damit, die Persönlichkeiten zu beseitigen, die ihm Schwierigkeiten machten.“35
Mit der Zeit begann man sogar sich in Anekdoten über die Unberechenbarkeit des Kaisers zu überbieten. Vor allem seine Sprunghaftigkeit in Personalentscheidungen wurde immer auffälliger. So gab die Suche nach einer Nachfolge für Außenminister Czernin, der im Zuge der Sixtus-Affäre zurückgetreten war, Anlass für folgende groteske Situation: Karl rief Botschafter János Pallavicini in Konstantinopel an und fragt ihn, ob er das Außenministerium übernehmen würde. Pallavicini bat den Kaiser, nach Wien reisen zu dürfen, um sich über die Situation zu informieren und dann Bescheid zu geben. Karl war einverstanden und Pallavicini reiste nach Wien – inzwischen entschied sich Karl jedoch für alle völlig überraschend für Burian.36 Windischgraetz schilderte die Szene, die ihm sein Cousin Graf Berchtold erzählt hatte, folgendermaßen: In einem Salon in der Burg zu Ofen. In der Mitte des Saales stand Karl mit Tisza und Burian im Gespräch, in einer Fensternische stand der Generaladjutant des Königs, Zdenko Lobkowitz, bei der Tür stand ein Lakai. Berchtold kam herein und begrüßte Lobkowitz, der ihm im Vertrauen sagte, dass sich in diesem Salon ein Minister des Äußeren präpariere. „,Wer kann es sein‘, flüstert Berchtold zurück. ,Ich nicht‘, hauchte Lobkowitz, ,ich verstehe nichts von Politik.‘ ,Um Gottes willen‘, sagte Berchtold, ,man wird doch nicht auf mich zurückgreifen?‘ – ,Tisza ist es bestimmt nicht‘, flüsterte Lobkowitz, ,der will sich nicht aus der ungarischen Politik ausschalten lassen. Dann bleibt nur der Lakai – und eventuell Burian; der Lakai sieht ganz intelligent aus …‘ ,Ich setze zwei zu eins auf den Lakai‘, sagte Berchtold rasch; dann eben trat der Monarch auf seine beiden Hofchargen zu und sagte: ,Ich habe Baron Burian zu meinem Minister des Äußeren ernannt …‘“37 So amüsant, wie die Situation geschildert wurde, war sie natürlich nicht. Vor allem nicht für Pallavicini, der, in Wien angekommen, erfahren musste, dass die Sache hinfällig sei. Allein, dass immer offener über das Vorgehen des Kaisers gewitzelt wurde, zeigt, dass man den Kaiser zunehmend für labil und unberechenbar hielt, was definitiv kein gutes Zeichen war. Der Unmut wurde nicht nur immer größer, sondern auch immer offener ausgesprochen. So notierte Demblin: „Pallavicini wird brutal abgesagt – für die Art, wie der Kaiser desequilibriert ist, ist der ganze Vorgang charakteristisch.“38
Letztendlich sorgte Karl mit seinen überraschenden Personalentscheidungen aber „nur“ für persönliche Kränkungen und Demütigungen – wie fatal seine Überforderung und seine unvorhersehbaren Meinungswechsel für die Monarchie – und das Leben tausender Menschen – ausgehen konnten, zeigt die Tragödie um den Waffenstillstand mit Italien 1918. Nach langem Ringen mit dem Staatsrat hatte sich der Kaiser, der vehement für einen Waffenstillstand eingetreten war, durchgesetzt. Er wollte ihn zwar nicht selbst unterschreiben und hatte daher kurzerhand das Oberkommando zurückgelegt, aber er hatte sich durchgesetzt. So wurde am 3. November um 2 Uhr früh im Auftrag des Kaisers eine Radiodepesche an General Weber in Italien gerichtet, dass alle Bedingungen angenommen werden und die Truppen den Befehl erhielten, die Feindseligkeiten sofort einzustellen. Der Befehl wurde umgehend an die Heeresgruppenkommandos weitergeleitet. Um 2:30 Uhr entschied Karl jedoch, den ausgegebenen Befehl zur Einstellung des Kampfes an der Front sofort zu widerrufen. „Der Kaiser schien nun doch Bedenken zu haben, die Einstellung zu befehlen, ohne zu wissen, was die Italiener verlangen“,39 notierte Möller. Doch der Befehl war bereits an die Truppen ausgegeben und konnte nicht mehr zurückgenommen werden.

Das Thronfolgerpaar mit Sohn Otto beim Begräbnis von Kaiser Franz Joseph, 30. November 1916.
Da die Italiener erst später antworteten, dass sie ab der endgültigen Unterzeichnung 24 Stunden benötigten, um den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen weiterzugeben – die Österreicher dies allerdings längst getan hatten –, betrug die Zeitdifferenz zwischen der österreichischen und der italienischen Einstellung 36 Stunden. In dieser Zeit rückten die Italiener vor und nahmen ohne einen Schuss 427.000 Mann gefangen.
Später rechtfertigte sich Karl für dieses Fiasko, dass der Waffenstillstand ein Trick der Italiener gewesen wäre, da „zum Zeitpunkt, als wir den Waffenstillstand anbefahlen, die italienischen Durchführungsbestimmungen mit der Zeitangabe des Einstellens der Feindseligkeiten noch nicht in Schönbrunn eingetroffen“40 waren. Bei aller Berücksichtigung der Hektik dieser Tage stellt sich schon die Frage: Hatte der Kaiser tatsächlich einen Waffenstillstand unterzeichnen und dann umgehend die Niederlegung der Waffen an die Front telegrafieren lassen, ohne den Zeitpunkt des Inkrafttretens zu kennen oder vereinbart zu haben? Fakt ist, dass eine solche „Panne“, die für zigtausend Soldaten Kriegsgefangenschaft bedeutete, Karls Führungsqualitäten mehr als in Frage stellt.
Viel zu lange bemühte sich sein Umfeld, den Kaiser in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Wo er auftauchte, wurden Jubel und Begeisterung inszeniert, und der Kaiser wähnte sich populär und die Bevölkerung trotz größter Entbehrungen positiv gestimmt. Die Realität sah bereits ganz anders aus und kritische Stimmen mehrten sich, die gerade darin eine große Gefahr sahen. So notierte Baernreither im April 1918 besorgt in seinem Tagebuch: „Gerüchte, Geschichten, Tratsch wuchern. K(aiser) und K(aiser)in in den Mittelpunkt … Ovationen f. K(aiser) und K(aiser)in gemacht. Einige hundert Detektive und gemietete Menschen winken mit weißen Sacktüchern. Selbst Hohenlohe äußert sich, es sei unverantwortlich, die Majestäten so zu täuschen.“41
Wie abgeschottet der Kaiser lebte und wie stark er vor allem in den letzten Monaten der Monarchie den Bezug zur Realität verloren hatte, geht aus zahlreichen Tagebucheintragungen hervor. Während den Politikern und selbst Aristokraten die militärische Niederlage und der damit verbundene Zusammenbruch der Monarchie schon klar waren und sich alle um die Zukunft Gedanken und Sorgen machten, sorgte der Kaiser mit guter Laune für Irritation. Daran war vor allem sein engstes Umfeld schuld, wie Redlich am 22. Oktober konstatierte: „Der Kaiser und die Kaiserin sind bis vor zwei Tagen guter Laune gewesen: sie haben sich durch Seidler (Ministerpräsident Ernst Seidler von Feuchtenegg) täuschen lassen, da sie diesem elenden Dummkopf vollkommen vertrauten.“42
Doch schließlich dämmerte es auch Karl: Der Untergang zeichnete sich ab und die Monarchie war in größter Gefahr. Aber Karl hatte nicht mehr die Kraft zu kämpfen. Je hektischer um ihn herum alle agierten, desto apathischer wurde der Kaiser. Besprechungen um dringende Entscheidungen verliefen für die Politiker absolut frustrierend. Lammasch war zum Kaiser, der sich bezeichnenderweise ausgerechnet jetzt nach Reichenau zurückgezogen hatte, gefahren, um mit ihm die dringende Antwort auf Wilsons Telegramm – de facto die Formulierung der Kapitulation – zu besprechen; er berichtete, „daß er zwei Stunden dem Kaiser vorgetragen habe, daß dieser zerstreut zuhörte, meinte, ja, er wisse, wie gefährlich die Lage sei, schließlich aber erklärte, er werde einige Tage überlegen“.43 Lammasch stellte schockiert fest, „offenbar hat der Kaiser die Entschlusskraft ganz verloren!“.44
Ähnlich resigniert erlebte ihn Josef Redlich, als er einige Tage später, am 27. Oktober, zum neuen Finanzminister ernannt wurde. Seine Antrittsaudienz beim Kaiser schilderte er schonungslos: „Ich blieb 20–25 Minuten beim Kaiser, der schlecht aussieht, bleich, kleines Gesicht. Er sprach über alles mögliche, streifte die Finanzen nur, über deren Hoffnungslosigkeit er sogar zu lächeln sich anschickte … Der junge Herr spricht leicht, aber man hat nicht das Gefühl, daß die großen Dinge ihn wirklich innerlich anders berühren als das tägliche Leben. Keine Nuancen im Sehen und Beurteilen der Vorgänge: Regentenlos.“45
Diese scheinbare Gleichgültigkeit – Ausdruck seiner Resignation und Hilflosigkeit – verstärkte sich in den ersten Novembertagen. Als die kaiserlichen Minister am 8. November ihren Rücktritt anboten, da die Macht bereits in den Händen des republikanischen Staatsrates lag, fanden sie den Kaiser beinahe emotionslos vor: Karl wirkte auf Redlich gefasst, aber innerlich abwesend: „wieder hatte ich das Gefühl, dass ihm all diese Dinge nicht ans Innerste greifen, das Gefühl einer eigentümlichen Leere, Unwirklichkeit des ganzen Wesens.“46
Am Ende, als um ihn herum schon alles zusammenbrach und Karl noch immer von seiner gerechten und treuen Vaterrolle für seine Völker sprach, sagte ihm Erdödy schonungslos, wie er in Wien genannt werde: „Karl der Letzte.“47
Auffallend ist, dass alle engen Wegbegleiter Karls nach dem Ende der Monarchie nicht nur ihre eigenen Wege gingen, sondern offenbar keinerlei Anteil mehr am Schicksal des Ex-Kaisers nahmen. Weder seine gescheiterten Restaurationsversuche noch sein Exil auf Madeira wurden kommentiert, sein Tod war – wenn überhaupt – den meisten nur eine Zeile wert. Das wohl vernichtendste Urteil fällte Josef Redlich in seinem Tagebuch: „Der Tod von Kaiser Karl hat mich doch einige Tage lang sehr beschäftigt: Wäre er nur ein wenig ,vollwichtiger‘ als Mensch gewesen, läge eine Tragödie vor. Aber er war – zu wenig, ein zu unwesentlicher Mensch.“48
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