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Von Anfang an (Descartes) tritt der Rationalismus als eine Grundlagentheorie des Menschen und der Wirklichkeit auf, die vor allem durch ein ganz neues Grundvertrauen in die Kompetenzen der Vernunft gekennzeichnet ist. Als Fundamente der Erkenntnis werden die dogmatischen Wahrheiten der Theologie nicht mehr akzeptiert. Damit gehört der Rationalismus in der Tat zum einen zur (Vor-)Geschichte der europäischen Aufklärung des 18. Jh., d. h. er stellt eine wichtige Grundlage ihres Menschenbildes dar (allerdings neben den auch stark empiristischen
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Zügen aufklärerischen Denkens). Die Befreiung des Menschen aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant, Was ist Aufklärung?, 1784) von Herrschaft, Tradition und Religion muss, will sie nicht sofort wieder angreifbar für neue Versuchungen sein, auf der Basis einer begründbaren Selbstermächtigung des Subjekts beruhen. Zum anderen verkörpert der Rationalismus auch im Zeitalter der Aufklärung eine wichtige Institution und Instanz der Aufklärung selbst: Gerade die epochale Philosophie Immanuel Kants als einer der zentralen Köpfe der Aufklärung beweist das.
An diese aufklärerische Bedeutung des Rationalismus muss deshalb erinnert werden, weil gerade in der neueren Aufklärungsforschung die wesentlichen Impulse der europäischen Aufklärung des 18. Jh. oft als ‚Kritik‘ oder gar ‚Überwindung‘ des Rationalismus angesehen werden (grundlegend ist dabei Kondylis 1986). Aufklärung, so die These, entsteht nicht nur als Kritik an Herrschaft, Tradition und Religion, sondern auch als Kritik an bloß rationalistischer Philosophie; die aufklärerische Befreiung des Menschen von äußeren Zwängen ist auch eine Befreiung aus den harten Fesseln der strengen einseitigen Verstandesherrschaft. Und tatsächlich: Es ist heute kaum noch bestreitbar, dass das ‚alte‘ Forschungsparadigma der Aufklärung, welches auf genuin romantischen Vorstellungen von ihr beruht und Aufklärung mit dem Rationalismus gleichsetzt, historisch unhaltbar ist. Die Kritik an der rationalistischen Vereinseitigung des Menschen als bloßes Verstandeswesen, welche die Romantiker (v. a. die Gebrüder Schlegel und Novalis) als eine Kritik an der Aufklärung verstanden, ist eigentlich die Kritik der Aufklärung am Rationalismus und mannigfaltig als Hauptthema aufklärerischen Schrifttums selbst zu sehen (Rousseau, Voltaire, Diderot, Wieland, Goethe, Lessing). Die „Erfindung“ des „ganzen Menschen“ (vgl. Schings 1994) als aufklärerischer Grundgedanke, den die im 18. Jh. neue Disziplin der Anthropologie auch wissenschaftlich zu ergründen sucht, zielt vor allem auf die Aufwertung der sinnlichen, emotionalen und empathischen Vermögen des Menschen (vgl. Kosenina 2008, Nowitzki 2003). Die Aufklärung des 18. Jh. muss demnach als eine ‚Kultur des Herzens‘ angesehen werden, die das Wesentliche des Menschseins mindestens ebenso sehr in seiner sinnlich-emotiven Ausstattung begründet und dort den eigentlichen Ort von Individualität erkennt (vgl. Berger 2008; D‘Aprile/
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Siebers 2008, S. 81 – 97). Diese „Emanzipation der Sinnlichkeit“ (Cassirer 2003, S. 476) korrespondiert der erfahrungszentrierten Grundhaltung aufklärerischer Naturbetrachtung und stellt den aufklärerischen Empirismus als bedeutende philosophische Richtung des 18. Jh. mindestens gleichberechtigt neben den Rationalismus: Nicht ohne Grund sieht sich Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) philosophisch genötigt, die Alternative „Rationalismus vs. Empirismus“ zu überdenken und neu zu gestalten.
Dieser historische Vorspann ist notwendig, um das wiederum zu einfache Schema ‚Rationalismus vs. Aufklärung‘ zu durchkreuzen. Denn es ist eben gerade jene Disziplin der Ästhetik, die nachdrücklich vor Augen führt, wie die Kritik einer einseitigen Beschränkung des Menschen auf seine geistigen Vermögen im 18. Jh. zu einem Projekt des Rationalismus selbst wird. Mehr noch: Die rationalistische Philosophie gerade bei Baumgarten, dessen Metaphysik (1739) für über ein halbes Jahrhundert zum maßgeblichen philosophischen Lehrbuch in Deutschland wird, sieht ihre Intention einer philosophischen Befreiung des Menschen in der kritischen Korrektur bzw. Erweiterung ihrer eigenen, zu sehr auf den Verstand beschränkten Vermögenslehre des Menschen gewahrt. Die Ästhetik wird als ein genuin rationalistisches und damit aufklärerisches Projekt ‚erfunden‘. In ihr zeigt sich, dass die Selbstkritik des Rationalismus ein wesentlicher Teil seines Selbstverständnisses ist, so wie die Aufklärung des 18. Jh. stets als eine Kritik an sich selbst (Rousseau, Diderot) funktioniert hat. Denn ‚aufklären‘ heißt immer schon, sich der eigenen Grenzen, Ausschlüsse und Verzerrungen bewusst zu werden. Die gesteigerte Selbstbeobachtung des aufgeklärten Menschen ist elementarer Teil des Projektes Aufklärung selbst, von ihren frühen Höhepunkten bei Rousseau im 18. Jh. bis zur modernen Selbstkritik bei Adorno und Horkheimer im 20. Jh. (Dialektik der Aufklärung, 1947). Im Rahmen dieser kritischen Selbstkorrekturfunktion aufklärerischen Denkens entsteht eine neue Disziplin, die Ästhetik. In ihr differenziert sich das Menschenbild der neuen Wissenschaften vom Menschen, indem der Rationalismus große Lücken seiner eigenen Wissenschaftstheorie schließt, die durch seine einseitige Ausrichtung auf die Verstandeserkenntnis entstanden waren und sich verfestigt hatten.
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2.2

Man gewinnt ein plastisches Bild der geistesgeschichtlichen Situation, aus welcher die Ästhetik bei Baumgarten entstanden ist, wenn man die Einwände mustert, welche Baumgarten in der „Vorbemerkung“ (§ 5 – 12) seines Werkes Aesthetica (1750), durch welches die Disziplin eigentlich erst begründet wird, gegen das Projekt selbst vorbringt. In diesen registriert er nämlich die historisch gewachsenen Vorurteile gegen eine Wissenschaft von der Sinnlichkeit und der Kunst.
Dass die Ästhetik dasselbe sein könne wie „Rhetorik“, „Poetik“ oder „Kritik“ als die Disziplinen, welche sich traditionellerweise mit der Theorie der Dichtkunst befassen, ist dabei der erste Einwand (§ 5). Die Entkräftung dieses Einwandes versucht die Weite und Fundamentalität der neuen Disziplin herauszustellen. Denn Rhetorik und Poetik sind zum einen dahingehend ungeeignete Kandidaten für die neue Wissenschaft, als sie Theorieformen mit technisch-praktischer Ausrichtung darstellen. Nicht nur ist ihr Gegenstandsbereich auf Dichtung bzw. Texte begrenzt, sondern auch ihre Methodik fokussiert fast ausschließlich die Frage nach den Regeln, durch welche Werke der Dichtkunst hergestellt werden (Poetik) sowie nach den Regeln, durch welche sie in der Ausbildung des Geschmacksvermögens richtig beurteilt werden können (Kritik). Seit Aristoteles‘ Poetik, die vor allem seit der Frühen Neuzeit als „Regelpoetik“ missverstanden wurde (vgl. umfassend Fuhrmann 1992), ist das Genre der Poetik gleichbedeutend mit Regelpoetik: eine Anleitung zum möglichst wirkungseffektiven Schreiben von Dichtung, welche die Tradition rhetorischer Lehrbücher seit der Antike integriert und auf die besonderen Anweisungen zum Erstellen wirkungsvoller Dichtung eingegrenzt hat. Dieses Genre der Poetik hat in ganz Europa wichtige und bedeutende Werke hervorgebracht: Horaz‘ Ars poetica, die dabei selbst zum Vorbild wurde, inspiriert in der Neuzeit Martin Opitz‘ Buch von der Deutschen Poeterey (1624), Nicolas Boileaus L‘Art poétique (1674) oder Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730). Leitend war dabei stets die Idee, dass Dichtung „nützen und erfreuen“ (prodesse et delectare, Horaz) müsse, ihre ‚Herstellung‘ sich also an diesen rezeptionsästhetischen Normen auszurichten habe (Kap. 12.2).
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Baumgarten setzt mit der Ästhetik eine Fundamentalreflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der sinnlichen Wahrnehmungs- wie der sinnlichen Ausdrucksvermögen des Menschen dagegen. Bevor man sich demnach über einzelne Kunstgattungen oder Darstellungsweisen und ihre Zwecke verständigen kann, gilt es erst einmal zu klären, welche Potentiale und Funktionen den sinnlichen Dimensionen des Menschen überhaupt zukommen.
Damit zielt Baumgarten auch darauf, einen extremen Gegensatz zwischen gewissen idealtypischen Positionen auf vernünftige Weise zu vermitteln, der oftmals (aber nicht ausschließlich) als Widerspruch zwischen der Produktion (Poetik) und der Rezeption (Kritik) von Kunst bzw. Dichtung theoretisch manifest geworden war:
Man mag einwenden: […] Die Ästhetik ist eine Kunst, keine Wissenschaft. […] Man mag einwenden: […] Ästhetiker werden – ebenso wie die Dichter – geboren; Ästhetiker kann man nicht werden. (Baumgarten 2007, S. 17 [§ 10,11])
Eine merkwürdige historische Doppeloptik ist hier in das Wort ‚Kunst‘ eingetragen, welche die Übergängigkeit deutlich macht, in welcher sich auch der Kunstbegriff im 18. Jh. befindet. Im aristotelischen Sinne von ‚ars/ techné‘ ist Kunst gerade in rationalistischer Tradition der Oberbegriff für alle handwerklichen Produkte wie auch für deren Verfertigungshandlungen, die man durch die Anleitung von Regeln lernen kann. Allerdings eignen sie sich aufgrund ihrer ‚niedrigen‘ ontologischen Komplexität nicht dazu, durch Wissenschaft erschlossen, d. h. in ein System letzter Grundsätze überführt zu werden. Im platonischen Sinne dagegen – und dieser Gebrauch schwingt in der Idee des ‚Geborenseins‘ zur Dichtung mit – ist Kunst als Begriff für die im engeren Sinn ‚schönen Künste‘ an eine Inspiration gebunden, die in der antiken Enthusiasmus-Lehre als göttliche Eingebung verstanden worden ist. Deshalb liegt sie jenseits aller Regelhaftigkeit oder bewussten Beherrschbarkeit (vgl. Platons frühen Dialog Ion): eine Idee, die im 18. Jh. im Begriff des Genies wiederkehrt, das für die naturhaften, unerlernbaren und nicht-rationalen kunstschaffenden Kräfte im Menschen steht (vgl. die wirkmächtige Definition von Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, Kap. 7.3).
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In Baumgartens Einwendungen treten beide Kunstbegriffe scheinbar merkwürdig zusammen und verteilen sich zugleich implizit auf die beiden traditionellen Disziplinen zum dichterischen Kunstwerk. Wo nämlich die Poetik vor allem im Gewand der Regelpoetik die Lehr- und Lernbarkeit von Regeln zur Produktion von Dichtkunst voraussetzte, galt als Grundsatz der „Kritik“ oftmals das bekannte: „Je ne sais quoi“ (zur Geschichte dieses Grundsatzes vgl. Ullrich 2005, S. 9 – 31) – „Ich weiß nicht, was“. Die geheimnisvolle Kraft und Macht, welche die Kunst über den Rezipienten ausübt, so dieser im 18. Jh. enorm populäre Gedanke, sei rational nicht vollständig zu erklären und entziehe sich deshalb auch der regelgeleiteten normativen Erfassung. „De gustibus non est disputandum“ („Über Geschmack lässt sich nicht streiten“) muss in dieser Perspektive daher stets das letzte Wort kunstkritischer Einlassungen bleiben. Baumgartens Ästhetik sucht einen Weg zwischen den Extremen: in der Aufklärung darüber, was genau an sinnlichen Erkenntnisvermögen wie sinnlichen Darstellungsgebilden fassbar und was unfasslich ist – und aus welchen Gründen das so ist.
Damit ist die völlige Unbestimmbarkeit des Sinnlichen, wie sie die rationalistische Tradition seit Descartes vorausgesetzt hat (vgl. Menke 2008, S. 11 – 25), bereits in Zweifel gezogen. Auch das Unbestimmbare lässt sich, so Baumgarten, als Unbestimmbares begründen und muss nicht doppelt unbestimmbar sein (in seinem Sosein und in den Gründen dieses Soseins). Es hat somit Teil an der Rationalität des Verstandes und der Vernunft, ohne doch diesen gleichgestellt oder vergleichbar zu sein bzw. ohne in diesen aufzugehen. Diese ‚Rationalisierung‘ der Sinnlichkeit und des Schönen als Teil auch der Verwissenschaftlichung und Systematisierung des Menschen im 18. Jh. gesteht dem Ästhetischen ein Fundament von Intersubjektivität zu. Dieses begründet bei anderen Denkern sogar eine spezifische Sozialisationskompetenz: vom „Gemeinsinn“ (common sense), der nach Kant im Geschmacksurteil zum Ausdruck kommt, bis zur Utopie einer ästhetischen Gemeinschaft bei Schiller, der die Kunst als gesellschaftsbildende und menschheitsvollendende Kraft begreift.
Damit ist zugleich eine Stoßrichtung von Baumgartens Kritik gestreift, die noch weit hinter den Rationalismus neuzeitlicher Prägung zurückgreift: die zuerst platonische und dann christliche Kunstfeindlichkeit des Abendlandes, die immer auch eine Sinnenfeindlichkeit war
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(vgl. Hammermeister 2007, Kap. 12.2). „Man mag einwenden: […] Die unteren Vermögen und das Fleisch müssen eher besiegt als aufgeweckt und bestärkt werden.“ (Baumgarten 2007, S. 17) Denn eben mit dieser Verurteilung der Kunst und speziell der Dichtkunst hat Platon im 10. Buch der Politeia eine Tradition der Kunstfeindlichkeit eröffnet. Danach könne Kunst zur Erkenntnis der Wirklichkeit nichts beitragen, weil sie auf den nur sinnlich-emotiven Kräfte der Seele beruhe und nur auf sinnliche, d. h. abbildhafte Weise die Wirklichkeit vergegenwärtige (Kap. 8.1, Kap. 12.4). Die sinnliche Ausstattung des Menschen aber ist für Platon die Gegenkraft alles Wahren, Schönen und Guten. Diese Tradition der Kunstfeindlichkeit reicht über die christlichen Kirchenväter (Tertullian, De spectaculis) bis ins 18. Jh. und schlägt sich bspw. noch in einem Text wie Rousseaus Brief an D‘Alembert über das Theater nieder.
Wollen wir also feststellen, daß von Homeros an alle Dichter nur Nachbildner von Schattenbildnern der Tugend seien und der andern Dinge worüber sie dichten, die Wahrheit (

Baumgartens Ästhetik zielt deshalb auch darauf: a) die sinnlichen Wahrnehmungs- wie Darstellungsvermögen des Menschen in das System der überhaupt erkenntnisfähigen Kräfte des Menschen aufzunehmen. b) die sinnlich-emotiven Dimensionen des Menschen als in sich selbst wertvolle, epistemisch wie sozial produktive und stabilisierende Vermögen aufzufassen.
Die ‚Einwände‘ reflektieren darüber hinaus den neuen Modus der Ganzheitlichkeit, in welchem der Baumgartensche Rationalismus gegen die bisherigen Verengungen des Menschseins auf die rationalen Vermögen vorgeht:
§ 6 Man mag gegen unsere Wissenschaft einwenden, […] daß Sinnliches, Einbildungen, Märchen, die Wirrnisse der Leidenschaften den Philosophen unwürdig seien und unter ihrem Horizont lägen. Ich antworte: […] Ein Philosoph ist ein Mensch unter Menschen, und er tut nicht gut daran, wenn er glaubt, ein so großer Teil der menschlichen Erkenntnisse sei ungehörig für ihn (Baumgarten 2007, S. 15).
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Freilich begründet dies Baumgarten hier weniger anthropologisch damit, dass die sinnlichen Vermögen genauso das Menschsein in seinen besonderen Merkmalen (Bewusstsein, Wahrnehmung, Sozialität, Ausdruck etc.) konstituieren wie die rationalen Vermögen. Vielmehr argumentiert er wissenschaftstheoretisch mit einem deutlichen Zugeständnis an die rationalistische Tradition. Gemäß dem rationalistischen Grundsatz, dass die Natur keinen „Sprung macht“, also als stetiger und lückenloser Zusammenhang aller Elemente begriffen werden kann, meint Baumgarten, dass auch der Intellekt an die Sinnlichkeit als seine ‚Vorstufe‘ gebunden sei und damit eine Aufklärung der sinnlichen Vermögen eben so eine weitere Aufklärung der Verstandesvermögen eröffne (§ 7). Deshalb stehe die Untersuchung von Vernunft und Sinnlichkeit nicht in einem Gegensatz-, sondern in einem Ergänzungsverhältnis:
Ein nicht gepflegtes und einigermaßen verderbtes Analogon der Vernunft ist der Vernunft selbst und der strengeren Gründlichkeit nicht weniger hinderlich. (Baumgarten 2007, S. 15f.)
Im Begriff der „sinnlichen Erkenntnis“ (cognitio sensitivae) als „Analogon der Vernunft“ (analogon rationis) wird das Problem der Baumgartenschen Ästhetik manifest: Maßstab seiner Wissenschaft der Sinnlichkeit und der Wahrnehmung bleiben die rationalen Vermögen. Gerade die nicht revidierte rationalistische Begrifflichkeit von den ‚unteren‘ (sinnlichen) und den ‚oberen‘ (begrifflich-rationalen) Erkenntnisvermögen trägt stets das Denken in Baumgartens Theorie hinein, welches er eigentlich zu überwinden sucht. Die Ästhetik schwankt dann auch beständig zwischen der Idee einer Eigenständigkeit sinnlicher Vermögen und ihrer Unterordnung unter die oberen Erkenntniskräfte: „Die deutliche Erkenntnis ist besser.“ (Baumgarten 2007, S. 15) Erst Kant löst in der Kritik der reinen Vernunft (1781) mit seiner Theorie der zwei Erkenntnisstämme von Sinnlichkeit und Verstand, die sich gleichgewichtig gegenüberstehen, nicht durch die Maßstäbe des jeweils anderen verstehbar und gleich notwendig zur Konstitution von Erkenntnis sind, dieses Problem. So schafft er aber auch neue Schwierigkeiten, welche die Philosophen des ‚Deutschen Idealismus‘ (Fichte, Hegel, Schelling) wiederum auf die Suche nach übergeordneten Zusammenhängen und Gründen beider Erkenntnisstämme schickt.
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Es ist für das Verständnis der ursprünglichen Problemkonstellation der Disziplin „Ästhetik“ wichtig, die „Vermögenslehre“ der rationalistischen Philosophie, die ausgehend von Descartes (Die Prinzipien der Philosophie, 1. Teil, Abschnitt 45, 1644) und Spinoza (Ethik, Buch 2, 40. Lehrsatz, 2. Anmerkung, 1677), von Leibniz (Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen, 1684) und Wolff weiterentwickelt worden ist, in ihren Grundbegriffen zu kennen. Denn aus ihrer Anlage und ihren offenen Möglichkeiten speist sich bei Baumgarten der Grundimpuls der Ästhetik, die Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis- und Darstellungsvermögen des Menschen. Die sinnliche Erkenntnis ist demnach eine „klar-verworrene“ Erkenntnis. Diese für den heutigen Sprachgebrauch ungewöhnliche, beinahe scheinbar widersprüchliche Zusammenstellung zweier Merkmale (klar und verworren) erklärt sich aus dem System von Ober- und Unterbegriffen, mit dem die rationalistische Psychologie die seelischen Vermögen des Menschen ordnet.
Die „klare Erkenntnis“ bezeichnet im direkten Gegensatz zu bloß „dunklen“ Vorstellungen das Wiedererkennen einer Sache (Gegenstände oder Merkmale). Damit liegt die Grundbedingung jeden Erkennens in der Identifikation von etwas als etwas: Der „klaren Erkenntnis“ ist ihr Gegenstand gegenwärtig, weil sie ihn immer wieder als denselben aufrufen kann, der „dunklen Vorstellung“ hingegen entzogen. „Verworren“ und „deutlich“ sind demgegenüber als Spezifikationen, also einander entgegengesetzte Unterarten der klaren Erkenntnis bestimmt. „Verworren“ ist die klare Erkenntnis, wenn „ich freilich nicht genügend Kennzeichen gesondert aufzählen kann, um die Sache von anderen zu unterscheiden“ (Leibniz 2000, Bd. 1, S. 33). „Deutlich“ ist sie, wenn sich die klare Vorstellung analytisch in ihre begrifflichen Bestandteile zerlegen lässt und so durch Angabe von Merkmalen hinreichend von anderen Sachen unterschieden, also definiert werden kann.
In der sinnlichen Erkenntnis, so Baumgarten, nehmen wir folglich eine Sache in der Fülle (ubertas), Lebendigkeit und Ganzheit ihres konkreten Daseins wortwörtlich in den Blick: Sie ist nicht durch begriffliche Abstraktion entsinnlicht und in begriffliche Merkmalen zerlegt. Als „perceptio praegnans“, d. h. „vielsagende“ Vorstellung sinnlicher Prägnanz, enthält die klar-verworrene mehr Merkmale in engerem Zusam-
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menhang als die deutliche. Zugleich verdichtet sie diese so zur Einheit der Sache, dass die eigentümliche Qualität dieser Erkenntnisart gerade in der „Kraft“ liegt, mit der eine Sache in der Komplexität ihrer lebensweltlichen Vieldimensionalität zur Vorstellung gelangt. Baumgarten gesteht der sinnlich-verworrenen Erkenntnis eine eigene Art der Wahrheit, die „ästhetische Wahrheit“ zu, und kennt darüber hinaus auch noch eine Mischform, die „ästhetikologische Wahrheit“, die in einer komplizierten Relation zur logischen (deshalb: ästhetiko-logisch) Wahrheit steht (vgl. Baumgarten 2007, S. 403 – 423). Damit sind in seiner Ästhetik die Grundelemente nicht nur der epistemologischen Aufwertung des Wahrnehmungsvermögens, sondern aller sinnlich-schönen Darstellungen überhaupt versammelt. Die ästhetischen Überlegungen der Aufklärung und Goethezeit entwickeln sich sämtlich als Anschluss (G. F. Meier), Transformation (Kant) oder deutliche Kritik (Herder) an Baumgartens Grundlegung.
Die Ästhetik seit Baumgarten ist damit zuletzt ein Projekt der ‚Erfindung‘ des Menschen als Subjekt, d. h. als aktive wirklichkeitserschließende Instanz wie als ganzheitliches Wesen aus Vernunft und Körperlichkeit (vgl. Menke 2008). Dabei rückt die Ästhetik vor allem die sinnlichen weltbildenden Vermögen, welche über die Instanz der „Einbildungskraft“ geistig vermittelt und gesteuert sind, ins Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Frank 1989). Der Mensch ist das wahrnehmende und bilderschaffende Wesen, das sich durch die bewussten wie unbewussten Dimensionen seines Vorstellungskraft als ganzheitliches Individuum zur Anschauung bringt und nicht nur intellektuell begreift, sondern sinnlich-emotiv ergreift. Oder anders formuliert: Er begreift sich nur in dem Maße, wie er in der Weltwahrnehmung zugleich von sich selbst unmittelbar-sinnlich ergriffen wird und sich in der empathischen Interaktion mit anderen Subjekten ‚ganz‘ verwirklicht. Schließlich ist er auch nur dort wirklich bei sich als Mensch, wo er zum umfassenden Selbstausdruck in sinnlichen Medien wie der Kunst gelangt.
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2.3

Die Geschichte der Ästhetik beginnt lange vor ihm Anfang. Was Baumgarten in das System wissenschaftlicher Disziplinen eingliedert, existiert als philosophisches Nachdenken seit der griechischen Antike und machte stets einen wesentlichen Strang metaphysischen Nachdenkens über die letzten Gründe und die Formen des Seienden aus. Die drei großen Themen, welche sich schwerpunktmäßig im Rahmen der Disziplin „Ästhetik“ im 18. Jh. in eine gewisse Abfolge bringen lassen, sind so seit jeher klassische Themen der Metaphysik gewesen: die Wahrnehmung (Baumgarten) – das Schöne (Kant) – die Kunst (Hegel). Gegenüber der spekulativen Breite und der Vielfalt der Kontexte, mit denen diese Themen klassisch-philosophisch behandelt wurden, konzentriert die Disziplin Ästhetik das Nachdenken über sie auf wiederum drei Kontexte: Anthropologie – Erkenntnistheorie – Kunsttheorie.
Damit fällt bspw. die wichtige ontologische Dimension, welche in Platons Theorie des Schönen noch eine wesentliche Hinsicht bildete, beinahe gänzlich weg. Schön (kalós) ist bei Platon das, was sich seiner Idee gemäß entfaltet und mithin ein „Optimum an Sein“ (Fuhrmann 1992, S. 84) besitzt, d. h. was seinen Begriff als seine ideale Verwirklichungsweise in sich ausbildet. Für Platon ist klar, dass die Verwirklichung der idealen Form einer Sache sich in ihrer höchsten Ordnung und höchsten Einheit zeigt. Schön ist deshalb nicht bloß eine Erscheinungs- und Wahrnehmungsqualität, sondern meint als solche die Strukturverfassung einer sichtbaren Seinsvollendung, die zugleich ethisch relevant ist: Schönheit wird zum Ausdruck des Wahren und Guten. Die Konsequenz dieser Schönheitsmetaphysik ist freilich im Horizont der stark phänomenal, also nur auf das sinnliche Erscheinen ausgerichteten Schönheitstheorien der Moderne paradox: Wirklich schön können bei Platon nur Ideen, also rein geistige, nichtsinnliche Gebilde sein, weil sich nur in ihnen ein ideales Sein vollkommen ausbildet. Alles sinnlich-weltliche Dasein dagegen lässt die reine Schönheit der Ideen nur in verdunkelter, unvollkommen materialer Weise erscheinen. Was an materiellen sinnlichen Dingen schön ist, weist gerade über jede raumzeitliche Materialität hinaus ins rein Geistige
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der Ideen und verbindet so die auseinanderfallenden Seinssphären des Sinnlichen und des Geistigen im Verhältnis der Unter- bzw. Überordnung miteinander.
Bei Baumgarten wird das Schöne zum Thema im Rahmen der Theorie ‚schöner‘ Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmung bzw. schöner Ausdrucksformen, die als besonders stimmig, vielsagend, konkret und anregend verstanden werden. Kant rückt als ‚schön‘ vor allem Naturphänomene in den Blick, die vom Subjekt in einer spezifischen Einstellung („interesseloses Wohlgefallen“) wahrgenommen werden müssen, um im Anblick ihrer formalen Gestaltung das Schöne erlebbar zu machen. Hegel erst stellt (im Anschluss an die Objektivierung des Schönen in Schillers Kallias-Briefen, 1793) das Kunstschöne als Objekteigenschaft von Kunstwerken vollends und allein ins Zentrum der Disziplin Ästhetik. Erst mit ihm wird die Ästhetik zu einer Wissenschaft von den letzten Gründen und historischen Zusammenhängen der Kunst: „Der eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft ist »Philosophie der Kunst« und bestimmter »Philosophie der schönen Kunst«.“ (Hegel 1997, Bd. 1, S. 13)






