Feierabend hab ich, wenn ich tot bin

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Der Beruf ist zu der entscheidenden Stütze des Selbstkonzepts geworden.
Die junge Journalistin Nina Pauer liefert dazu eine hellsichtige Analyse. »Was uns umtreibt, ist die schizophrene Panik davor, unser Leben falsch zu leben«, schreibt sie. Die heutige Generation der 25- bis 35-Jährigen sei besessen von der Angst, im Leben etwas zu verpassen. Gleichzeitig fürchte sie, sich nirgendwo wirklich zu verwurzeln und damit eine Verpflichtung über ein rasches Dahingleiten im Strom des Lebens hinaus einzugehen. Man binde sich nicht mehr an eine Stadt, einen Partner, einen Verein, eine Kirche. Man unterliege der zwanghaften Vorstellung, ständig mobil sein zu müssen, seine Zelte abbrechen zu können, sich aufzumachen zu einer besseren, passenderen, einträglicheren Lebensperspektive. Pauer nennt das die Jagd nach der »richtigen Version unserer selbst«. Der Segen unseres multioptionalen Lebens sei gleichzeitig dessen Fluch: Alles ist möglich.4
Grundsätzlich ist es zwar nicht schlecht, wenn die Arbeit zum »Glück spendenden Grund« des eigenen Lebens wird, wie Viktor Frankl, Psychotherapeut und Begründer der Logotherapie schreibt. Doch Frankl, der große Denker und Verfechter eines sinnerfüllten Lebens, erkannte genauso die Gefahr, die einer entgrenzten Sinnsuche innewohnt. Im Gegensatz zum Tier, dozierte er, gebe es beim Menschen keinen ursprünglichen Instinkt, der ihm sage, was er tun müsse. Und in unseren modernen Zeiten, in denen sich traditionelle Rollenbilder und soziale Verbindungen zunehmend auflösen, habe er auch keine Vorgabe aus Tradition oder Familie mehr, was er tun solle. Als Ergebnis versage der heutige Mensch darin, zu wissen, was er grundsätzlich wolle.5
In der Konsumwelt findet man ein ähnliches Phänomen: Die Konsumforschung hat herausgefunden, dass der Kunde zwar grundsätzlich Wahlfreiheit will, jedoch ebenso schnell überfordert ist, wenn zu viel Auswahl herrscht. In Studien der Textilindustrie wurde gezeigt, dass Frauen beispielweise maximal acht Hosen miteinander vergleichen können. Bringt der Verkäufer mehr, schlägt die Kauflust in Frust um. Die Wahl scheint nicht mehr beherrschbar und mit angemessenen Mitteln in einer angemessenen Zeit zu bewältigen. Schon die Stellung der Kleiderständer und -tische in einem Kaufhaus kann Frust auslösen, wenn der Kunde vom Angebot visuell überwältigt wird.
In der Arbeitswelt kann sich ebenfalls ein solcher Frust bilden, allerdings in Zeitlupe. Ich beschäftige mich so lange mit Ausbildungswegen und Karrieremöglichkeiten, bis ich mich im Angebot des Aus- und Weiterbildungsdschungels verloren habe. Denn woher will ich wissen, ob der Ausbildungsweg tatsächlich meinen Talenten entspricht? Ob ich es schaffen werde? Halte ich mich für fähig, auch schwierige Situationen zu meistern und unvorhergesehene Probleme zu lösen?
Im Übrigen erkennt man anhand solcher Überlegungen den Unterschied zwischen Optimismus und Selbstvertrauen. Optimismus ist die einfache Hoffnung, es werde schon alles gut. Selbstvertrauen ist die aus der eigenen Erfahrung gewonnene Überzeugung, Probleme angehen und überwinden zu können. Das ist ein enormer Unterschied – nämlich der zwischen Erfolg und bloßem Glück. Niemand hat diesen Gedanken so perfekt verkörpert und transportiert wie der US-Präsident Barack Obama mit seinem Slogan »Yes, we can!« – auf der ganzen Welt längst ein geflügeltes Wort.
Ein solches Selbstvertrauen brauchen wir auch im Hinblick auf unsere Berufswahl. Im Großen und Ganzen jedoch scheint der moderne Mensch Mühe zu haben, seinen ganz speziellen Berufs- und Karriereweg unter den vielen Angeboten zu wählen. Hat er ihn aber erst einmal gefunden, wird er zu einem wichtigen Teil seines Selbstbilds, zu einem sinnstiftenden Korsett, das den Einzelnen durch den Alltag trägt. Management-Coach Maren Fischer-Epe benutzt hierzu das Bild der fünf Säulen der Identität: Arbeit und Leistung, soziales Netz, Körper, materielle Sicherheit, Normen und Werte.6
Der Bereich »Arbeit und Leistung« lässt bei den meisten Menschen keinen Raum für anderes mehr.
Der Bereich »Arbeit und Leistung« spielt bei den meisten Menschen eine so große Rolle, dass dadurch andere Bereiche zu kurz kommen. Wer kennt nicht den Manager, der seine Frau nur alle zwei Wochen sieht, oder die Führungskraft, die über schwerwiegende körperliche Symptome der Überarbeitung klagt. Entsprechend durchschlagend ist hier das Ergebnis eines Burnout. Wie wir später noch sehen werden, kann ein Burnout den eigenen Selbstwert als Arbeitskraft empfindlich stören. Obwohl (oder gerade weil) man also noch in Lohn und Brot steht, brennt man aus. In den Kategorien von Fischer-Epe gesprochen, wächst der Bereich »Arbeit und Leistung« zu einem sogenannten Roten Riesen heran. Rote Riesen heißen in der Astronomie alternde Sonnen, die kurz vor der Explosion stehen. Und ähnlich wie bei Sternen passiert bei Burnout-Betroffenen das, was passieren muss: Sie implodieren und fallen aus dem System heraus.
Noch düsterer sieht es aus, wenn Menschen ihre Arbeit verlieren. Fischer-Epe beobachtet in ihren Studien, wie Führungskräfte durch Arbeitslosigkeit in eine ungewöhnlich große Krise gestoßen werden, die »in ihrem Ausmaß oft nur aus der besonderen Bedeutung dieses Themas für das Selbstwertgefühl« nachzuvollziehen ist.7 Das gilt beileibe nicht nur für Manager und Führungskräfte. Nimmt man Menschen ihre Arbeit als tragende Säule ihrer Identität, wirft man sie zurück auf grundlegende Fragen: Was macht mich eigentlich als Person aus, auch ohne gut bezahlten Job? Bin ich überhaupt noch etwas wert? Verändert sich mein Verhältnis zu meiner Familie, meinem Partner? Viele Arbeitnehmer haben sich diesen Fragen bislang nicht gestellt; als entsprechend belastend werden sie nun erlebt. Bislang war fast jede Situation durch Selbstdefinitionen wie »hart arbeitend«, »Ernährer«, »sozialer Status« geerdet. Im Burnout fällt dieses Korsett weg und man muss zu einem Selbstverständnis jenseits der Arbeitsrolle finden.
Was macht mich als Person aus? Bin ich noch etwas wert?
Als Teil der westlichen Wohlstandsgesellschaft war ich darum verblüfft, als ich 2003 auf einer Reise durch Australien mit der Kultur der Aborigines in Kontakt kam. Die Ureinwohner Australiens kannten bis vor Kurzem das westliche Arbeitskonzept überhaupt nicht. Im Norden des Kontinents, in Darwin, unterhielt ich mich mit einem Veranstalter von Outback-Safaris, der mir diese Mentalität schilderte. Man versuche, die Aborigines in Jobs zu vermitteln – als Angestellte einer Wäscherei, als Touristenführer, Verkäufer etc. »Es funktioniert nicht«, berichtete der Reiseleiter. »Sie begreifen nicht, dass sie dableiben müssen. Wenn sie den Ruf des Walkabout [die Aufforderung, an einer Stammesversammlung teilzunehmen] hören, lassen sie einfach alles stehen und liegen und verschwinden in den Busch. Das Konzept ›Arbeit gegen Geld‹ ist ihnen völlig fremd.«
Es ist erfrischend und erhellend, hautnah eine völlig andere Einstellung zum Thema »Arbeit und Geld« zu erfahren. Geld als symbolisches Tauschmittel für Arbeitsleistung, Erfolg und materiellen Konsum kommt im kulturellen Koordinatensystem der Aborigines nicht vor. Die Ureinwohner Australiens haben seit über 40 000 Jahren ein sehr entspanntes Verhältnis zu dem für sie nebensächlichen Thema »Arbeit« – ganz anders als wir in der westlichen Welt, die wir die Arbeit an sich auf einen Altar heben und aufgrund des mit Arbeit verdienten Geldes lächerliche »Mein Haus, mein Boot, mein Auto«-Vergleiche veranstalten.
Können wir im Gesellschaftsspiel um Karriere, Geld und erkauftes Glück keine neuen Karten mehr zücken, wird es für manche eng. Besonders Männer trifft beispielsweise eine Entlassung in ihrer Rolle als Ernährer, Versorger und Beschützer der Familie hart. Im modernen männlichen Selbstkonzept hat sich das frühzeitliche Beschützen vor dem Säbelzahntiger in die eher materielle Fürsorge für die Familie verwandelt. Entlässt man den modernen Mann, schlägt man ihm die Keule aus der Hand und verstößt ihn aus dem Stamm, in dem er nun mal keine sinnvolle Funktion mehr hat. Es gibt arbeitslose Männer, die ihren Frauen noch monatelang eine heile Arbeitswelt vorspielen: Sie gehen morgens aus dem Haus und tun so, als gingen sie zur Arbeit. Dabei verschwinden sie im Café um die Ecke und tauchen erst abends wieder auf, möglicherweise noch mit erfundenen Geschichten aus dem Kollegenkreis. Daran erkennt man, wie groß das Leid der aus der Gruppe der arbeitenden Bevölkerung Ausgestoßenen ist.
Hast du Arbeit, bist du etwas wert. Wenn nicht, dann nicht.
Burnout, Entlassung und Arbeitslosigkeit sind die neuralgischen Punkte einer Gesellschaft, die Arbeit zu ihrem Daseinszweck erhöht. Hast du Arbeit und leistest du was, bist du was wert. Wenn nicht, dann nicht. Kein Wunder, dass in Deutschland alles, was mit Arbeit zu tun hat, in teilweise hysterisch-neurotischen Tönen diskutiert wird: Hartz IV, Mindestlöhne, Reichensteuer, Managerbezüge. Weil Arbeit praktisch bei jedem Menschen identitätsstiftend und gleichzeitig ein durch Entlassungsdrohung und Burnout potenziell hoch angstbesetztes Thema ist, können wir als Gesellschaft darüber auch nicht ruhig und sachlich diskutieren.
Im Endeffekt leben wir im Spannungsfeld von Arbeit als Lebensinhalt und deren ständiger Bedrohung durch persönliche Sinnkrisen, wirtschaftliche Krisen und Entlassung. Besserung ist erst in Sicht, wenn wir lernen, die Bedeutung der Arbeit für uns selbst und unser geistiges Wohlbefinden deutlich zu reduzieren. Dadurch würden wir mehr für die Prävention von Burnout tun als mit allen gut gemeinten Zeitmanagement-Seminaren zusammen.
Kollektiver Erfolgsgeilheitswahn
Mit 21 Jahren wurde bei Theresa Häuser Hochbegabung diagnostiziert. Sie hatte sich aus Neugier durch ganze Batterien von Intelligenz- und Persönlichkeitstests gewühlt und mehr über sich herausgefunden, als sie wissen wollte.
Was für andere wie ein Sechser im Lotto klingt, war für sie eine enorme Belastung. Natürlich ist es schön, als Hochbegabter Dinge schnell zu begreifen, zu analysieren und auf vielen Gebieten Wissen anzuhäufen. Die Kehrseite der Medaille besteht für die meisten Hochbegabten darin, partout nicht herauszufinden, welchen beruflichen Weg sie denn nun einschlagen sollen. Weil sie bis zu einem mehr als ansprechenden Niveau die meisten Fächer und Gebiete einfach sehr schnell lernen.
Als sie mit Mitte 30 zu mir ins Coaching kam, meinte sie einmal: »Mathematik ist mein schlechtestes Gebiet. Trotzdem hätte ich immer noch Mathematik studieren können. Aber hätte es mich glücklich gemacht?« Solche »Hätte, könnte, würde«-Debatten sind typisch für Hochbegabte. Theresa Häuser hatte schlussendlich nicht Mathematik studiert. Heute hat sie aus der Not eine Tugend gemacht, indem sie auf eine Stromlinienkarriere verzichtete. Sie war bei mehreren Firmen beschäftigt, wechselte einmal die Branche und ist heute, mit knapp 38 Jahren, erfolgreich als Beraterin selbstständig.
Zu meinen Klienten gehören auch Hochbegabte wie Frau Häuser, deren Lebenslauf sich wie aus einem Karrieretraum-Poesiealbum liest, die aber kreuzunglücklich sind. Sie könnten viele Positionen erfolgreich ausfüllen und zweifeln trotzdem stark an sich. Ein ausgeprägtes Jobhopping ist die Folge. Weil sie sich nicht an Feedback von außen orientieren können (weil sie einfach viele Dinge sehr schnell begreifen und beherrschen), müssen sie sich allein auf ihren inneren Kompass verlassen, der ihnen sagen soll, welchen Berufsweg sie nun einschlagen. Und das gestaltet sich meist schwierig. Nach außen erfolgreich, fragen sie sich manchmal ihr Leben lang: War diese Wahl richtig? Oder hätte ich mein Potenzial noch besser nutzen sollen? Wenn ich mit Hochbegabten arbeite, gebe ich ihnen meist einen Satz der Journalistin Mary Schmich mit auf den Weg: »Einige der interessanten Menschen, die ich kenne, wissen mit 22 noch nicht, was sie werden wollen. Und einige der interessantesten wissen es mit 40 auch noch nicht.«8
Die bonbonfarbene Lüge unserer Spaß- und Erfolgsgesellschaft lautet: Du kannst alles schaffen!
Man muss nicht hochbegabt sein, um an seiner Berufswahl zu zweifeln. Auch »ganz normale« Menschen spüren manchmal einen leisen Zweifel, eine Sehnsucht, wie es wohl wäre, wenn sie ihr Leben anders gelebt hätten. Dieser Zweifel wird besonders der heutigen jungen Generation eingepflanzt, egal wie begabt sie ist. Es ist die bonbonfarbene Lüge unserer Spaß- und Erfolgsgesellschaft: »Du kannst alles schaffen!«
Diese Lüge lässt sich mit Blick auf den Unterschied zwischen den Botschaften der Medien und den Nachwuchssorgen von Unternehmen allerdings schnell entlarven. Eine nicht unerhebliche Anzahl junger Menschen unter 20 Jahren glaubt inzwischen ernsthaft, das Berufsleben gleiche einer Castingshow: sich einmal präsentieren, sich seine fünf Minuten Ruhm abholen und dann davon zehren. Dass zu einem Beruf Durchhaltevermögen, Kreativität, soziale Intelligenz und nicht zuletzt eine gehörige Portion Bildung gehören, ignorieren sie. Auf der anderen Seite stehen vor allem mittelständische Unternehmen, die händeringend Nachwuchs suchen. Es würden sich entweder gar keine jungen Leute melden oder nur solche, die zu ungebildet sind, klagen viele Arbeitgeber. Hier eine kleine Anekdotensammlung:



Erfolg und (mediale) Aufmerksamkeit sind die neuen Währungen unserer Gesellschaft. Das bekommen junge Menschen heutzutage von Kindesbeinen an eingetrichtert. Und wieso sollten sie auch daran zweifeln? Ihre Eltern leben ihnen doch das entsprechende Weltbild vor.
Erfolg und (mediale) Aufmerksamkeit sind die neuen Währungen unserer Gesellschaft.
Sichtbarer beruflicher Erfolg ist so ziemlich das Einzige, wodurch wir uns noch unterscheiden. Familie? Fehlanzeige. Die Großfamilie ist tot, die Zahl der Singlehaushalte nimmt zu. 40 Prozent aller Paare, die zusammenleben, wollen nicht heiraten. Es könnte ja was Besseres nachkommen. Religiöse Identität? Gibt’s nicht mehr. Die Mehrheit der Menschen findet ihren Weg in die Kirchen gar nicht mehr beziehungsweise erst bei erneutem Ausbrechen einer Finanzkrise. Wenn’s dick kommt, kriecht man eben doch gern bei Mutti unter. Sozialer Kitt wie Vereine, Verbände oder Ähnliches? Alle diese freiwilligen Institutionen ächzen unter massivem Mitgliederschwund. Einzige Ausnahme sind Fitnessclubs, weil Menschen dort ihre Selbstoptimierung in einem anderen Bereich als dem der Arbeit ausleben und vorantreiben können.
Die jungen Leute merken das alles und richten sich entsprechend aus. Ein Bekannter von mir arbeitet mit Hauptschülern. Er versucht ihnen beizubringen, dass sie für ihren Lebens- und Berufsweg hart arbeiten müssen. Meist ohne Erfolg. Einer der Hauptschüler antwortete auf die Frage, was er denn werden wolle: »Geschäftsführer!« Und er wolle »einen Porsche fahren«. Wie er das denn bezahlen wolle? »Keine Ahnung. Werd’ ich halt Fußballspieler.« Und wenn das nicht klappt? »Scheißegal. Hartz ich eben.«
Immer öfter erleben all die Sozialarbeiter, Lehrer, Jugendbetreuer auf der einen Seite eine Realitätsblindheit bis zum Psychosenverdacht und andererseits eine Gier nach Status und Erfolg – die wir als Gesellschaft den Jugendlichen einpflanzen. Durch Werbung, Materialismus und eine »Du kannst alles schaffen«-Mentalität. Deshalb lassen sich junge Leute, die nicht mal im Ansatz singen können, von Dieter Bohlen in einer Weise demütigen, für die man in einem gestandenen Sadomaso-Studio eine Menge Geld hinlegen müsste. Sogar die so »Erfolgreichen« gehen vielleicht durch eine Saison, werden mit Knebelverträgen ausgepresst und dann gegen den nächsten Trottel ausgewechselt.
Wir sind kollektiv erfolgsgeil.
Diese Art von »Erfolg« ist fragwürdig genug. Doch als Schattenseite einer solchen Entwicklung ist man nicht nur für seinen Erfolg, sondern auch für seinen Misserfolg verantwortlich. Wo Klassen- und Standesbeschränkungen fehlen, wo man in einem weiten Feld und nicht mehr in einem begrenzten Parcours laufen muss, wo keine Kirche und kein soziales Netz mehr Schutz bieten, trifft einen die Wucht des eigenen beruflichen Versagens umso härter. Dieses Versagen muss nicht unbedingt Arbeitslosigkeit bedeuten. Man kann auch erfolglos und unglücklich sein, während man noch Arbeit hat. Gerade Burnout-Betroffene sind sehr gut darin, in ihrem Job Erfolgsziele so zu definieren, dass sie sie gerade nicht erreichen. So »motivieren« sie sich durch ihre Niederlage zu noch größerer Anstrengung.
Egal ob Burnout oder nicht, egal ob Unternehmensberater oder Bandarbeiter: Wir sind zum beruflichen Erfolg verdammt. Das System lässt keinen Spielraum mehr. Deshalb sind wir kollektiv erfolgsgeil. Wie eine Monstranz tragen wir unseren Erfolg vor uns her; er ist Zuckerbrot und Peitsche zugleich, gibt uns Motivation und droht uns gleichzeitig mit gesellschaftlicher und menschlicher Entwertung. Wir müssen gebraucht werden, die Gesellschaft muss unsere Arbeitskraft wollen, sonst zerschellt unser Schiff des Selbstvertrauens an der Klippe des eigenen Versagens.
Das ist auch der Grund, warum viele Langzeitarbeitslose nicht mehr vermittelbar sind. Bis auf wenige Ausnahmen, die sich einen Kern Selbstachtung bewahrt haben, ist besagtes Schiff zerschellt und unwiederbringlich gesunken. Der einzelne Arbeitslose hat in einer Zeit, die Arbeit als Lebensmittelpunkt begreift, seine Existenzberechtigung quasi an der Garderobe abgegeben. Nicht, dass ihm das jemand vorwerfen oder es so formulieren würde. Die Gesellschaft und deren kollektives Bewusstsein bringen ihn dazu, so zu denken. Eine für den Einzelnen dramatische, manipulatorische Meisterleistung.
Wir markieren unser Revier mit den Dingen, die uns die Werbeindustrie als erstrebenswert vorgaukelt.
Mit solchen Überlegungen beschäftigt sich der Arbeitnehmer, der gerade auf seiner Karrierewelle surft oder zumindest noch einen Job hat, nicht. Für ihn geht es vielmehr um die Sicherung des Erfolgs und seine Übersetzung in materielle Zeichen. Das Revier muss markiert werden, am besten mit den Dingen, die uns die Werbeindustrie als erstrebenswert vorgaukelt. Dafür gibt es zahlreiche Möglichkeiten: Autos, Reisen, Möbel, Kleidung, Uhren. Ein schöner Spruch lautet: »Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen.« Neueste Zahlen des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) zeigen, dass 2009 allein im deutschen Fernsehen 3,7 Millionen Werbespots gesendet wurden.9 Das sind pro Tag knapp 10 137 und pro Stunde etwa 422. Die deutsche Werbebranche insgesamt machte 2009 einen Umsatz von fast 29 Milliarden Euro. Und diese Zahl beinhaltet bereits einen Rückgang des Umsatzes um 6 Prozent im Vergleich zum Jahr 2008.
Diese Werbung nennt Oliviero Toscani, der Macher hinter den umstrittenen Benetton-Werbekampagnen (in denen schon mal blutverschmierte Hemden mit Einschusslöchern gezeigt werden), schlicht »Verbrechen gegen die Intelligenz«, ein »künstliches und abgeschmacktes Reich, das uns seit bald dreißig Jahren verblödet«. In seinem furiosen Manifest gegen die herkömmliche Werbung rechnet Toscani ab: »Für Zehntausende von Dollar wird ein Supermodel in Szene gesetzt, um frischverliebten Friseusen ohne das nötige Kleingeld und schwärmerischen Sekretärinnen auf der ganzen Welt Parfums zu verkaufen. Sie alle werden heißgemacht auf einen unerreichbaren bürgerlichen Traum. Die Werbung verkauft keine Produkte oder Ideen, sondern ein verfälschtes und hypnotisierendes Glücksmodell. […] Man muss die breite Öffentlichkeit mit einem Lebensmodell blenden, dessen gesellschaftliches Ansehen es verlangt, dass man Garderobe, Möbel, Fernseher, Auto, Haushaltsgeräte, Kinderspielzeug, einfach sämtliche Gebrauchsgegenstände so oft wie möglich erneuert. […] Diese groben Vereinfachungen werden bis zum Erbrechen wiederholt.«10
Werbung soll zum Kaufen verführen. Produkte sollen mit Wohlgefühl assoziiert werden, mit Status, Exklusivität, sichtbarem Erfolg. Vielleicht glauben wir, dass ein solches Zeigen von Erfolg sexy ist. Was jedoch garantiert nicht sexy ist: den anderen mit der Nase auf die Spur des angeblichen eigenen Erfolgs stoßen zu wollen. Zur idealen Plattform für derart ichbezogene Inszenierungen haben sich soziale Netzwerke wie XING, Twitter oder Facebook entwickelt. Dort präsentieren sich manche »Jäger des verlorenen Erfolgs« mit einer Penetranz, als gäbe es kein Morgen.
Da faselt zum Beispiel eine Dame von der untergründigen Psychologie des Erfolgs – die sie natürlich exklusiv entdeckt hat – und vermarktet so ihr entsprechendes Buch. Sie lasse sich natürlich jederzeit zu einer Kontaktaufnahme herab, doch jetzt segle sie erst mal kreuz und quer durch Südostasien. Danach jedoch könne man sie gerne kontaktieren. Den Betrachtern ihres geblähten Segels will sie mit solch zartem Hinweis und der Subtilität eines Elefanten im Porzellanladen vor allem eines signalisieren: Schaut mal, wie schön, sexy und erfolgreich ich bin. Oder kürzer: Macht’s gut, ihr Luschen.
Ähnliche Augenzucken verursachende Klowand-Graffiti bei Twitter: »Wie Sie mit XING und Facebook ihre Karriere vorantreiben #Selbstmarketing #reputation«, »›Erfolg hat nur, wer etwas tut, während er auf den Erfolg wartet.‹ Thomas Edison«, »Wir zeigen Ihnen Wege zu Ihrem Erfolg, die tatsächlich funktionieren!« und ähnliche Sprüche. Man kann solch schräge Selbstdarstellungsshows, wie sie mittlerweile in sozialen Netzwerken Alltag sind, für die Auswüchse einiger stilloser Freaks halten. Ich glaube jedoch, sie sind nur die sichtbare Spitze eines Sehnsuchts-Eisbergs, endlich allen zu zeigen (und zu erzählen), wie toll man durchstartet. Wir sind besoffen vom Lockmittel Erfolg, das vom Fernseher zuerst ins Hirn und von da ins Herz sickert und wie Efeu andere Lebensmotivationen erstickt. Deshalb schnappen wir gierig nach der Luft der Personality-Shows, wollen teilhaben an der Welt der Promis und schönen Menschen, von denen wir glauben, dass sie es »geschafft haben«.
Wir sind besoffen vom Erfolg!
Inzwischen muss alles und jeder erfolgreich sein: man selbst sowieso, das Unternehmen, demnächst auch der Besuch der Katze auf dem eigenen Klosett. Vieles dreht sich nur noch um Selbstdarstellung, um Durchsetzung und Erfolg. Dafür nimmt man sogar größte Opfer in Kauf. Ein Freund von mir, der in München wohnt, erzählte mir kürzlich von dem Phänomen No rent, but car. Weil sich Münchner mit einem Durchschnittsgehalt ihre Wohnung nicht mehr leisten können, geben sie diese auf und investieren ihr Geld in ein Auto, das richtig was hermacht – BMW, Audi, Mercedes oder Porsche. Jede Nacht schlafen sie im Auto. Morgens machen sie sich dann zurecht und fahren zum Geschäftstermin, als ob nichts wäre. Einige halten eine solche Maskerade Monate, manchmal Jahre durch. Gibt es ein verzweifelteres Beispiel für unsere panikartige Angst, unseren gesellschaftlichen Status zu verlieren und zu »versagen«?
Das permanente Lechzen nach Erfolg saugt uns aus.










