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„Witzig, was?“ Er erwidert das Lächeln. „Ja, ich bin ein richtiger Komiker. Vor allem an miesen Tagen.“ Er will gerade einen weiteren Schluck Korn nehmen, da spricht die Frau in rhythmischen Worten:
„Von al-len Sei-ten zu-ge-schis-sen, wird man leicht zum O-ber-clown.“
Er setzt die Flasche rasch ab, da er auflachen muss. „Wow! Der hat was. Ein Jambus, oder? Ist der von Ihnen?“
Sie wirkt irritiert. „Von mir?“
„Ja. Kann ich den verwenden?“
„Das … wäre nicht gut.“ Eine nervöse Regung huscht über ihr Gesicht.
„Ich werd ihn abändern, versprochen.“
Ihr Lächeln ist verschwunden. Für einen Moment macht sie den Eindruck, als sei ihr ein völlig verrückter Gedanke gekommen. „Wäre es so leicht?“
„Na klar.“ Plötzlich erscheint Kai ein Gespräch mit dieser Fremden nicht mehr gänzlich unsympathisch. ‚Wer abgedrehte Zitate kennt, kann kein allzu mieser Gesprächspartner sein.‘
„Sie hatten auch ’nen miesen Tag, was?“, fragt er laut.
Sie zuckt mit den Schultern, geht ein paar Schritte an die Bahnsteigkante heran. Ihre Absätze klackern auf den Bodenfliesen. „Die Anreise war … anstrengend“, sagt sie schließlich, während sie auf das Gleis hinunterblickt.
„Was treibt Sie denn heute Nacht nach draußen? Noch dazu bei dem Scheißwetter?“
Sie wendet sich ihm zu, holt Luft, öffnet unentschlossen den Mund. „Familienangelegenheiten“, bringt sie endlich heraus.
„Ihr Mann?“
„Nein“, antwortet sie, diesmal sehr schnell. „Nein. Mein Vater.“
„Ach …“ Die Frau kann es nicht wissen, aber diese Antwort sorgt für eine Assoziation, die sofort Groll in ihm aufsteigen lässt. „Na, da haben wir ja was gemeinsam.“ Er hält die Flasche in ihre Richtung. „Auch’n Schluck?“
Die Frau zögert. „Besser nicht.“
„Okay.“ Er trinkt. Neuer Versuch. „Ich bin Kai.“
Sie nickt. „Helen.“
Er nickt ebenfalls.
Eine Pause entsteht.
„Und wie lief’s?“
„Was?“
„Das Treffen mit Ihrem Vater.“
„Schwierig …“ Helen räuspert sich und geht einige Schritte auf ihn zu. „Schwieriger als ich dachte.“ Sie spricht, als müsse sie jedes Wort zweimal überdenken. „Man wird sehen … was passiert … zukünftig.“
„Tja, Väter sind eine anstrengende Spezies. Das war immer so und wird immer so bleiben.“ Kai lehnt sich auf den Nachbarsitz. „Ich hab da auch so einen. Erst Mitte fünfzig, aber störrisch wie ein alter Esel. – Wie alt ist ihrer?“
Sie bleibt stehen, wenige Meter von seiner Bank entfernt. „Er … er hat nicht mehr lange zu leben.“ Ihre Stimme vibriert.
„Oh.“ Prompt weiß Kai nicht, wie er sich verhalten soll. Trostspenden und Mitleidsbekundungen sind nicht sein Ding. Bei seinem Job auf dem Friedhof erlebt Kai oft, wie Trauergäste den Angehörigen ‚Mein aufrichtiges Beileid‘ zumurmeln. Für ihn hört es sich meist wie Floskel an. Und hier wären diese Worte eh verfrüht und unangebracht. Er reagiert auf die ihm passabelste Weise: Er schüttelt die Flasche und lässt den Korn gluckern. „Wirklich keinen?“
„Nein. Danke“, sagt Helen zunächst und nagt an ihrer Unterlippe. „Das heißt … Moment.“ Mit entschlossenen Schritten geht sie auf ihn zu. „Gib her.“ Sie nimmt die Flasche aus seiner Hand und setzt sie in einer Weise an, die verrät, dass ihr diese Bewegung nicht fremd ist.
Kai zeigt ein anerkennendes Grinsen, während ein üppiger Schluck aus der Flasche verschwindet. „Wouh!“
Doch plötzlich verzieht Helen das Gesicht und setzt hustend ab. „Wie kannst du sowas trinken?“ Sie betrachtet das Etikett. „Das ist doch gar nicht deine …“ Sie verhustet den Rest und hält Kai die Flasche hin, als wolle sie einen vollen Müllbeutel loswerden.
Er nimmt sie entgegen. „Oh, sind wir schon beim Du? Werden Sie mal nicht übermütig. Für Onkel Otto hat die Kohle immerhin noch gereicht.“
„Oh, das … ich wollte nicht …“, versucht sie eine Entschuldigung.
Aber Kai winkt ab. „Ganz ehrlich? Um diese Zeit ist mir Höflichkeit völlig egal.“
„Um diese Zeit?“ Sie stößt ein leises Schnaufen aus. „Manches wird sich wohl nie ändern.“
„So?“ Er mustert sie irritiert. „Sie sagen komische Sachen, wissen Sie das?“
Kai merkt, wie die Wirkung des Alkohols ihm zu schaffen macht. Und er weiß, wie fatal sich das bei ihm auswirken kann. Er neigt dazu, aggressiv zu werden, wenn seine Trunkenheit über das Maß hinausgeht. Er wird keineswegs handgreiflich, nein, das nie. Aber streitsüchtig. Seine Rhetorik bleibt zwar wohlartikuliert, wird aber auch bösartig, zynisch und sarkastisch.
Holger, der bereits mehrfach diese Wandlung hat beobachten können, beschrieb es mal als Transformation zu einem verbalen Mister Hyde. Er hütet sich stets, Kai zu reizen, wenn dieser als Noch-Doktor-Jekyll ein gewisses Pensum intus hat und sich dem kritischen Level nähert. Wenn ihn dann jemand nervt oder gar reizt, kommt es vor, dass Kai diese Person mit einem sprachlichen Trommelfeuer zerschießt. Aus reinem Spaß. Und weil er weiß, dass er es kann. „Alter, ich bin froh, dich nicht zum Feind zu haben“, hat Holger mal gesagt. „Bei dir bekommen Sprengsätze eine neue Bedeutung.“
Noch nervt ihn diese Frau namens Helen nicht. Sie belustigt ihn sogar irgendwie. Aber wenn sie ihm jetzt krumm kommen sollte …
„Verrückt, nicht?“, murmelt sie nachdenklich und entfernt sich dabei einige Schritte zur Bahnsteigkante hin. „Da hat man jede Menge Zeit. Doch dann ist alles wie ausradiert. Alles, was man sich vorgenommen hat zu sagen. Oder zu tun.“
Der junge Mann mustert sie verkniffen.
„Ich habe immer geahnt, dass es nicht leicht sein würde, mich dir zu nähern. Aber so dermaßen schwer …“
‚Ach du Scheiße.‘ Eine Ahnung schießt Kai durch den Kopf. ‚Is ja irre! Will die etwa …?‘
Holger hat mehrmals behauptet, dass es diese Frauen geben soll. „Die sind halt einsam. Aber die gehen eben nicht wie wir in den Puff. Die machen sich nachts auf den Weg, um sich einen Typen aufzureißen, der ihnen annähernd nett erscheint. Mit dem bandeln sie dann an, um sich von ihm durchvögeln zu lassen. – Also, selbst erlebt hab ich’s noch nicht, aber …“
‚Oh Gott. Bin ich etwa ein annähernd netter Typ?‘ Der Gedanke erscheint ihm nahezu beleidigend. Doch dann wird ihm bewusst, dass die Option auch etwas für sich hat. Trotz allem, was heute geschehen ist. Oder gerade deswegen. Zumal er vorhin noch glaubte, der Penner zu sein. Und Kai hat eine Vorliebe für üppige Frauen. Auch seine Freundin hat enorm erotischen Rundungen, die seiner Definition von perfekt entsprechen. Und wie alt mochte diese Frau namens Helen sein? Anfang-Mitte dreißig? Kaum einzuschätzen, solange sie Brille und Kopftuch trägt. ‚Ihr Lächeln ist jedenfalls hübsch. Traurig irgendwie, bittersüß, aber hübsch.‘
„Es ist noch nichts geschehen“, murmelt sie. „Alles kann. Nichts muss. Es erscheint nur so unmöglich schwer.“
‚Sie weiß nicht, wie sie es anstellen soll’, vermutet Kai. Und er reagiert, ehe Skrupel ihn überkommen können. „Na ja, ich kann es Ihnen ja leicht machen.“
Sie blickt ihn irritiert an.
„Nun …“ Er grinst vielsagend. „Wir sind hier unter uns. Und Sie haben recht: Alles kann, nichts muss. Wir könnten reden. Aber wer redet schon um diese Zeit? Radiomoderatoren und Telefonseelsorge-Anrufer.“ Er stellt die Flasche auf dem Boden ab, erhebt sich von der Bank und ist froh, dass seine Beine noch Stabilität versprechen. „Wir könnten uns aber genauso gut … unterhalten.“ Er legt eine besondere Betonung in das Wort, wirft es aus wie einen saftigen Köder, dem sie bei Interesse nur folgen muss. Er nähert sich ihr. Sie weicht nicht zurück. „Ich bin sicher, wir finden etwas, womit … oder wie … wir uns gut unterhalten können. Zu zweit.“ Wenn sie Bock hat, wird sie anbeißen. Hat schon oft funktioniert. Und warum nicht mal in einer U-Bahn-Station? „Und schließlich“, fährt er fort, „weiß man ja nie, wie …“
„… so eine Unterhaltung endet“, vollendet Helen seinen Satz.
„Yeah“, grinst Kai. „Ganz genau.“
Helen löst die Hände von den Taschenträgern. „Du willst vögeln.“
Kais Grinsen wird unsicher. Eigentlich steht er darauf, wenn Frauen direkt sind. Normalerweise würde er nun ein scheinheilig charmantes ‚Wenn du mich schon so fragst‘-Schulterzucken zeigen. Aber Helen hat nicht gefragt. Sie stellte eindeutig fest. Und als sie ihre Erkenntnis wiederholt, Wort für Wort betont: „Du willst mich vögeln“, klingt darin eine Fassungslosigkeit, als sei sein Ansinnen das Abwegigste der Welt.
Dann beginnt sie zu lachen. Das Lachen schwappt förmlich aus ihr heraus. „Du willst vögeln.“ Sie wendet sich um, die Hände in die Seiten gestemmt. Die gewölbten Wände werfen ihr Gelächter zurück, das sich immer mehr steigert, als habe sie die Pointe verstanden, die die ganze Menschheit zu einem Witz macht. „Du! Mit mir!“
Helen so zu erleben ist bizarr: Verschwunden ist die schüchtern starrende Frau. Dies hier ähnelt viel zu sehr Kais eigenem Lachanfall vorhin, als er noch der einzige Hysterische in dieser Station war. Wäre dies ein Film, würde Helen in der nächsten Szene von Pflegern durch den Flur eines Irrenhauses geführt werden. Und von dem grotesken Gebaren mal abgesehen: Ihr Lachen kränkt Kai zutiefst.
„Ist ja gut!“, bellt er. „Jetzt kriegen Sie sich ein! Daraus wäre eh nichts geworden. Ich bin liiert; in einer glücklichen Beziehung.“
Abrupt erstirbt das Lachen der Frau, was die Situation noch surrealer macht. Sie setzt ihre Sonnenbrille ab, fährt sich mit der Hand über die Augen, um die Lachtränen fortzuwischen, dann über die Stirn, streift dabei ihr Kopftuch nach hinten.
Plötzlich weiß Kai wieder, was Holger meint, wenn er sagt, er spräche nie eine Frau an, die er nicht genauer in Augenschein genommen habe. Helen ist deutlich älter, als er angenommen hat. Er schätzt sie auf Ende vierzig. Ihr Haar mag einst rotblond gewesen sein, zeigt nun unverhüllt aber graue Strähnen. Ihre bisher von der Brille verdeckten Augen sind von dunklen Schatten und Krähenfüßen umrahmt. Früher dürfte sie ein hübsches Gesicht gehabt haben, eine gewisse Attraktivität schimmert durch, wirkt nun jedoch wie das Bild eines zerkratzten Spiegels. – ‚Eines Spiegels?‘ Wieso hat er an einen Spiegel denken müssen? ‚Blödsinn.‘
„Was? Lust vergangen?“, fragt Helen deutlich provokant. „Folgt nun die übliche Reaktion?“ Sie klappt die Sonnenbrille zusammen und lässt sie in ihre Tasche gleiten. „Du weißt nie, was du bekommen hast, bevor Morgensonne und Makeup-Schlieren das Kissen neben dir entzaubern.“
„Wenn Sie das sagen“, knurrt Kai. „Aber guter Spruch. Werde ich mir merken.“ Wieder verspürt er dieses leichte Zirpen oberhalb seines Genicks. Er schüttelt kurz den Kopf, um es loszuwerden, und setzt sich wortlos auf die Bank.
„Nein. Warte!“
Kai schnalzt ungehalten. „Was?“
„Du kennst mich nicht“, sagt sie leise. „Du weißt nichts.“ Helen kommt auf ihn zu. „Steh auf!“
Er gehorcht argwöhnisch.
„Berühr mich.“
Für einige Sekunden starrt er sie perplex an. Dann grinst er und hebt beide Hände. „Ouh-kay.“ Doch bevor er ihre Brüste umfassen kann, bremst Helen seine Unterarme mit erstaunlich kräftigem Griff.
„Na, was nun?“, motzt Kai. „Hüh oder Hott?“
Sie verzieht das Gesicht, missbilligend, gleichsam enttäuscht. Als habe Kai nicht gelernt, sich beim Pinkeln hinzusetzen. Und bemüht sanft, als erkläre sie es einem bockigen Kind, sagt sie: „Berühr mich hier.“ Ohne seine linke Hand loszulassen, führt sie seine Rechte über ihre Wange, schließt die Augen. „Ich will wissen, wie das ist. Wie fühlt sich das an, wenn du zärtlich bist? Spürst du etwas? Irgendetwas? Könntest du mich liebhaben?“
Kai stößt einen spöttischen Laut aus. „Lady, wenn ich Ihr Gesicht liebhaben soll, müssen Sie mit Ihrem Mund was anderes machen, als Blödsinn erzählen.“
Nahezu angeekelt schleudert sie seine Hand beiseite und wendet sich ab. „Ich hätte es wissen müssen.“
„Ich hätte es wissen müssen“, parodiert Kai mit vorgeschobener Unterlippe. „Was ihr Frauen euch immer einbildet. Ein bisschen Ei-ei-ei und dann gleich von Liebe quatschen.“
„Wer hat denn gerade noch behauptet, eine glückliche Beziehung zu führen?“, gibt die Frau zurück.
„Wir haben ein Abkommen. Wir dürfen beide, solange wir …“ Er stutzt. „Was geht Sie das überhaupt an? – Echt! Sie haben doch’n Rad ab. Erst gackern, aber dann keine Eier legen.“
„Es war ein Versuch“, hört er sie resigniert murmeln. „Nichts weiter.“
„Oh, ein Versuch, ja?“ Kai spürt, wie der Mister Hyde sich den Weg zu seiner Zunge bahnt, um sie in Besitz zu nehmen. Und er hat nichts dagegen. „Was hat Frau Doktor denn über die Testperson herausgefunden? Bin ich notgeil? Gefühlsinkompetent? Asozial? Verdammt, wo sind wir hier? Im Begattungslabor oder im Club der einsamen Herzen?“
Helen wirbelt zu ihm herum. „Warum bist du nur so …“, sie stockt, „… so wie du bist?“ Sie zeigt keinen Zorn. Was sie sagt, klingt wie eine bestätigte Befürchtung, wie ein ‚Du enttäuschst mich. Mal wieder!!!‘ Garniert mit drei Ausrufezeichen. Diesen Tonfall kennt Kai genau. Was ihn umso mehr in Rage bringt.
„Rutschen Sie mir den Buckel runter!“ Er setzt sich wieder. „Ich meine, seien wir mal ehrlich: Sie und ich, wir spielen kaum in der gleichen Liga. Ich bin heute vielleicht auch nicht gerade Anwärter auf die Meisterschaft, aber, nix für ungut, Sie kicken höchstens für die Bezirksliga. Seniorenklasse. Falls Sie überhaupt kicken.“ Er lacht bösartig auf. „Oder gekickt werden. Doch hey, kein Grund zur Trauer. Zwischen manchen Schenkeln liegt von Natur aus ein Polargebiet. Findet sich schon noch jemand. Irgendjemand. Irgendwann. In einem anderen Leben.“ Kai kannte Frauen, die an dieser Stelle heulend eingeknickt wären. Aber gegen Heulsusen ist er schon immer immun gewesen.
Helen scheint von Tränen weit entfernt zu sein. Sie mustert ihn nur verächtlich. „Gott, ich hatte vergessen, was …“
Er stöhnt auf. „Männer doch für Schweine sind?! – Oh, bitte! Echt jetzt? Das singen Die Ärzte schon. Und auf Partys singen wir Männer das mit.“
„Ich hatte vergessen, zu was du fähig bist.“
„Hey! Jetzt ganz vorsichtig!“ Genau das hat Kai gebraucht: Einen ordentlichen Schuss Spiritus auf seine lodernde Kohle. „Zum einen: Lassen Sie gefälligst das Duzen! Zum anderen: Ich bin nicht schuld an Ihren alten Geschichten, Gnädigste.“ Er merkt, wie Helen zusammenzuckt. Gut so. Er ist bereit, Mister Hyde von der Leine zu lassen. Dies hier wird eskalieren. Und es ist ihm recht. „Wissen Sie: Ich verstehe Ihr Dilemma. Wenn Zellulite erst den Pfirsich verschrumpelt, muss frau halt schauen, wie sie ihr Obst verkauft, bevor die Orange zum Bratapfel wird. Ist der Geschmack rausgelutscht, wird jedes Kaugummi eben fade. Da heißt es Würde zeigen. Vergangenes vergessen.“ Er schnappt sich die Flasche und setzt sie an.
„Vergangenes vergessen? Hübsche Idee“, hört er Helens Murmeln irgendwo hinter dem Gluckern des Korns. „Aber ich muss dir das erklären.“
Er zieht die Flasche von den Lippen. „Wowhoho! Stopp! Ich will es nicht hören! Klar? Es interessiert mich nicht, ob Ihr Blind-Date Sie in der Single-Bar versetzt hat, oder was auch immer. Ich habe meine eigenen Probleme. Dieser Tag war so übel, ich könnte kotzen, verdammte Scheiße! Dann haut mir diese Drecksbahn vor der Nase ab, obwohl dieser Nachtschicht-Wichser mich mit Sicherheit hat kommen sehen. Da draußen schüttet es wie aus Eimern, und, juchuu!, um neun muss ich an der Trauerhalle stehen. Super! Und als einzige Aussicht auf Änderung dieser ganzen Scheiße bleibt nur, demnächst …“ Ihm wird bewusst, dass er sich in seiner Rage selbst zu demontieren droht. „Ach, verflucht, die ganze Welt ist einfach nur ein Haufen Mist! Und in diesem Moment der Glückseligkeit kommen Sie und wollen mir’n Knopf an die Backe labern. Halleluja!“ Er atmet erschöpft durch. „Gehen Sie einfach, okay? Vergessen Sie all das und denken Sie nicht mehr dran.“
„Klingt gut.“ Helen zeigt Lächeln. Ohne jegliche Belustigung und als sei sie mit den Gedanken woanders. „Vergessen. Nicht mehr dran denken. Einfach gehen. – Als lege dir etwas diese Worte in den Mund.“ Dann rafft sie sich energisch zusammen. „Nein. Ich muss mit dir reden. Du musst zuhören.“
„Scheiße, was kommt jetzt?“, ächzt Kai. „Irgendeine Feminismus-Kacke? Das Wort zum Sonntag? Gehören Sie zu den Deppen Jehovas? Oh, bitte! Bekehren Sie einen anderen, Gnädigste!“ Nebenbei nimmt er wahr, wie Helen scharf einatmet. „Wenn es um Glaubensfragen geht, dürfen Sie mir glauben: Es gibt nichts, worüber Sie hier und jetzt mit mir reden müssen.“ Er setzt die Flasche an.
„Doch“, entgegnet sie ihm. „Genau hier und genau jetzt.“
Beinahe hätte Kai sich verschluckt. „Jetzt reicht’s.“ Er wischt sich Korn vom Kinn. Als er aufspringt, gerät er leicht ins Wanken, fängt sich aber. „Passen Sie auf, sagen wir einfach: Ich bin krank. Ja. Genau. Sehr, sehr krank. Suchen Sie sich was aus: Pest, Cholera, Rinderwahn, was weiß ich. Wenn Sie nicht für den Rest Ihres Lebens mit einer Tüte überm Kopf durch die Stadt laufen wollen, mit Pocken am Arsch und so, dann hauen Sie jetzt ab!“ Kai kommt dicht an sie heran. „Retten Sie sich! Gehen Sie in Frieden mit … wie auch immer Ihr Oberclown heißt.“ Er wedelt mit der Hand gen Rolltreppe. „Schwirren Sie ab! Tschüss.“
Helen ist zurückgewichen, aber sie wendet sich nicht um. Sie hält ihre Tasche umklammert. Nun greift sie mit der Hand hinein.
„Okay, okay.“ Kai wirft rasch die Hände in die Luft und geht ebenfalls auf Abstand. Er hat keine Lust, sich von dieser durchgeknallten Nachtschwärmerin Pfefferspray in die Visage sprühen zu lassen. Er stellt die Flasche auf den Fliesenboden, als lege er eine potenzielle Schlagwaffe ab. Ihm wird klar, dass ihm allmählich das verbale Schießpulver ausgeht und seine Stimme an Sicherheit eingebüßt hat. Ginge es hier um irgendeine Meinungsverschiedenheit, hätte er sie längst in Grund und Boden diskutiert. Aber noch nie hat er jemanden wirklich vertreiben müssen. Gewalt ist nie sein Ding gewesen. Sollte es ihm nicht gelingen, diese Frau loszuwerden … er wüsste nicht einmal, ob er überhaupt grob werden könnte. Und wenn Helen nun realisiert, dass er nur laute, aber eigentlich harmlose Knallerbsen verschießt, dann wäre es womöglich letztendlich er, Kai, der das Feld räumen müsste.
Er bemerkt, wie sie ihn im Auge behält. Dann zieht sie die Hand wieder aus der Umhängetasche. Ohne Pfefferspray oder Taser oder ähnliches. Als habe sein Zurückweichen und Innehalten sie umgestimmt. ‚Also gut‘, denkt Kai. ‚Dann Feuer frei aus allen Rohren! Aber schön auf Abstand bleiben.‘
„Wissen Sie, wenn ich Ihnen sage: Sie gehen jetzt besser, dann bedeutet das ganz viel. In unserem Fall“, er biegt mit dem Zeigefinger der Rechten seinen linken Daumen gerade, „dass Sie sich ganz banal fortbewegen sollen, mit dringlicher Betonung auf fort.“ Er streckt den Zeigefinger. „Außerdem: Dass ich Sie ganz entschieden loswerden, Ihre Gegenwart in dieser versifften Halle nicht verlängert sehen möchte, und“, fährt er mit Hilfe des Mittelfingers fort, „dass mir Ihr Wohlbefinden am Herzen liegt. Letztendlich aber ist es ein ganz banaler Appell.“ Er beugt Daumen und Zeigefinger wieder in die Faust, der Mittlere bleibt gestreckt. „Verpissen Sie sich!“, brüllt er sie an. „Entfernen Sie sich von diesem Bahnsteig! Ich will weder zuhören, geschweige denn reden. Nicht mit Ihnen oder sonst wem. Nicht über die Zukunft, nicht über Gott und die Welt, schnöden Mammon oder sonstigen Scheiß. Ich trage mein Kreuz selbst. Es ist mein Leben, meine Zukunft und meine Seelenkrise. Die Leute, denen ich meine Verderbtheit anvertraue, suche ich mir selbst aus und ich versichere Ihnen: Sie gehören nicht dazu. Ich könnte allerdings mein Sündenkonto erheblich belasten, wenn ich in drei Minuten noch irgendetwas von Ihnen hier unten sehe, höre oder auch nur rieche. Dass das klar ist: Ich werde es nicht sein, der das Feld räumt und sich da draußen den Arsch abfriert. Sie wären nicht die erste Frau, die von mir Prügel bezieht. Verstehen Sie das nicht als Drohung. Ich möchte das nicht tun. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Aber ich will später sagen können, dass ich Sie gewarnt habe, bevor ich Sie die Treppe hoch getreten habe. In Notwehr. Bevor Sie mir psychischen Schaden zufügen. Da oben werden Sie vielleicht vom Blitz getroffen, vielleicht ertrinken Sie auch im Rinnstein oder werden überfahren. Möglich. Aber ich versichere Ihnen: All das sind hinnehmbare Alternativen im Vergleich zu dem, was Ihnen hier passieren wird, wenn Sie weiter bleiben und mich vollschwafeln. Soweit klar? Dann Abmarsch! Die Zeit läuft. Und los!“
Helen wendet sich tatsächlich ab, als wolle sie gehen. Sie bebt am ganzen Körper. Kai will schon frohlocken, hat die Flasche wieder vom Boden aufgenommen, um das zurückeroberte Territorium zu feiern, da dreht sie sich erneut um.
„Falscher Kurs, Gnädigste!“, ruft er sofort. „Immer hübsch da lang. Nächste Station: Schillerplatz. Diese Richtung, etwa zwei Kilometer. Der Spaziergang lohnt sich und ist ohne blaue Flecken viel leichter zu ertragen. Das Prinzip ist wirklich sehr einfach: Ich will und werde bleiben; Sie möchten und sollten verschwinden.“
„Um Wollen oder Möchten geht es nicht“, presst Helen hervor.
„Meine Fresse!“ Kai stößt einen wütenden Laut aus. Allmählich macht es ihm Mühe, seine Verzweiflung zu verbergen. „Spreche ich Gälisch oder Suaheli, oder was?! Hören Sie, Ihre Hartnäckigkeit, mich bekehren zu wollen, ist ja irgendwie ganz schmeichelhaft für mich, aber …!“
„Das ist es ganz und gar nicht!“ Die Worte knallen durch die Station und lassen Kai abrupt verstummen. „Ich will dich nicht bekehren. Ich werde dir nur dieses eine Mal die Zeit stehlen. Damit vermeide ich eine ganze Menge Konsequenzen. Dir, mir und allen anderen.“ Sie zieht das Tuch von ihrem Hals und stopft es in die Tasche.
„Lassen Sie endlich diese Duzerei!“ Kai merkt, wie seine Stimme deutlich an Kraft verloren hat. „Für wen halten Sie sich?“
„Ich sorge dafür, dass wir uns in Zukunft nie wieder duzen werden, Kai Trollmann.“
„Verdammt, woher …?“ Plötzlich verspürt er wieder dieses unangenehme Zirpen in seinem Hinterkopf, nur ungleich heftiger als bisher. Für einen Moment verschwimmt sein Blick. „Woher wissen Sie, wie ich …?“ Nur schemenhaft sieht er, wie sie den Arm aus der Tasche zieht und etwas in der Hand hält.
„Mein Name ist Helen Trollmann.“
Sein Blick wird wieder klar. Er starrt in die Mündung einer Waffe.
„Und ich werde dich erschießen.“

Manchmal macht die Zeit ein Foto fürs Archiv. So eine Momentaufnahme kann die Dauer von Sekunden haben. Dennoch können während dieser winzigen Zeitspanne unter Umständen Welten zerstört werden, weil Erkenntnisse jäh wie Kometen einschlagen und alles weitere Leben mit einer giftigen Aschewolke bedeckt wird. Solch einen Schnappschuss betrachtet man besser aus der wohltuenden Distanz, die wir Erinnerung nennen und stets in Vergangenheitsform passiert.
*klick.*
Kai überlegte. Er überlegte, wie wenig überlegen er sein konnte, während er überlegte, und die Zeit wie zäher Teer durch diese Misere tropfte.
… Er hatte keine Ahnung von Schusswaffen. Er wusste, dass Kaliber den Durchmesser von Projektilen und Waffenläufen normierte. Sein Freund Holger kannte sich als technisch versierter Fan von Handfeuerwaffen weit besser mit all dem aus. Wenn er seine Steckenpferde mit Beretta, Glock oder Walther benannte, dann verstand Kai nur Bahnhof. Vier Fakten waren ihm allerdings bekannt: Erstens, dass man es tunlichst vermeiden sollte, vor einer Mündung zu stehen und, zweitens, in eine Mündung zu schauen, besonders, wenn man, drittens, nicht wusste, ob ein Projektil den Lauf füllte, denn ein solches vermochte, viertens, eine unschöne, oft irreparable Verzierung in die Lebenshülle zu stanzen. Nun wurde ihm jäh eine fünfte Tatsache klar: Wenngleich Kaliber-Einheiten in Millimetern benannt wurden, so sah eine Mündung von vorne betrachtet aus wie ein Arschloch, das viel größer wirkte, als es Millimeter bemessen könnten. Und er wollte auf keinen Fall, dass aus diesem Stahlanus etwas herauskam …