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»Glander sagt, sie ist einigermaßen gefasst. Frau Storm, können Sie mir mehr über diesen Tobi erzählen?«
»Sagen Sie doch bitte Lea! Tobi ist ein netter Kerl, sehr sportlich und ziemlich begabt in Mathematik. Er hat eine kleine Schwester, zwischen den beiden liegen zehn Jahre. Klara kam mit einer Behinderung zur Welt, das war nicht einfach für die Familie. Tobi war ein fröhlicher Junge, aber nach der Geburt seiner Schwester veränderte er sich sehr. Es ist nicht leicht, wenn der Kronprinz entthront wird. Die Eltern haben sich bestimmt Mühe gegeben, aber sie konnten mit seiner Eifersucht nicht umgehen. Ihre ganze Sorge galt dem Baby. Tobi war schon immer als Klassenclown und Störenfried verschrien, aber ab der neunten Klasse bekam er immer mehr Probleme und wäre beinahe von der Schule geflogen. Gezielte Tests führten schließlich zu der Diagnose ADHS. Seitdem nimmt Tobi Medikamente, er hat eine Therapie gemacht, und jetzt geht es ihm besser. Die Krankheit und ein Jahr im Ausland kosteten ihn aber zwei Schuljahre.«
»Was machen die Eltern?«
»Die Mutter arbeitet in der Redaktion einer Tageszeitung, der Vater in der angeschlossenen Druckerei. Tobi war immer schon viel sich selbst überlassen, Klara geht auf eine Ganztagssonderschule – sorry, in ein sonderpädagogisches Förderzentrum mit Ganztagsbetreuung, das heißt ja heute alles anders. Abends kümmert sich die Oma um die Kinder, bis die Eltern nach Hause kommen. Sie lebt in der Seniorenwohnanlage nicht weit von hier. Tobi hat vor zwei Jahren in den Ferien ein Schülerpraktikum in der Firma meines Mannes gemacht. Er hat wohl einen guten Eindruck hinterlassen, alle waren sehr angetan von ihm.«
»Und was wissen Sie über die Bertholds?«
Lea schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nicht sehr viel. Tara machte auf mich immer einen zurückhaltenden Eindruck. Sie ist ein sehr hübsches Mädchen, aber nicht eingebildet. Auch merkt man ihr nicht im Geringsten an, dass sie aus einem betuchten Elternhaus kommt. Ihr Vater gehört wohl zu den Topgehirnchirurgen. Er hat der Schule seiner Tochter einen Raum für naturwissenschaftliche Experimente gesponsert und ist bezirkspolitisch engagiert. Zumindest war er das, als Duncan die Schule noch besuchte.«
»Was ist mit Taras Mutter?«
»Sie kenne ich kaum. Es gab ja bis auf die Theater-AG keine Berührungspunkte zwischen Tara und Duncan. Das Aussehen hat Tara aber eindeutig von ihrer Mutter, und ich nehme an, auch das freundliche Wesen. Ich habe Frau Berthold als auffallend schön in Erinnerung. Die arme Frau, ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es ihr jetzt geht.«
»Lea, ich bin sicher, wir kommen noch einmal auf Sie zu. Je mehr Einblick wir in Taras Umfeld haben, desto leichter können wir herausfinden, wer es auf die Familie abgesehen haben könnte. Wissen Sie, wo Glanders Laptop ist? Und könnten Sie ihm einen Satz Wechselwäsche und sein Waschzeug zusammenpacken? Wir werden uns vorerst bei den Bertholds einrichten müssen.«
Lea nickte. »Natürlich. Wenn Sie mich kurz entschuldigen, das dauert nicht lange.«
Während Lea Glanders Sachen zusammensuchte, schaute sich Merve die gerahmten Fotos an, die auf einem Sideboard im Wohnzimmer standen. Sie zeigten Lea über einen Zeitraum von rund zwanzig Jahren. Glanders neue Freundin stand auf jedem Foto an der Seite eines großen, gutaussehenden dunkelhaarigen Mannes mit dunklen Augen und eindringlichem Blick. Der Junge, der in der Bildergalerie vor Merves Augen an der Seite seiner Eltern heranwuchs, hatte die kastanienbraunen Haare, die grauen Augen und das strahlende Lächeln seiner Mutter und wirkte doch wie ein Abbild seines Vaters. An der Treppe hing ein mit Bleistift gezeichnetes Porträt von Leas Mann, das den Blick auf sich zog. Die Storms waren eine schöne Familie gewesen, und Merve ahnte, wie hart der Tod ihres Mannes Lea getroffen haben musste. Ob Glander wirklich wusste, worauf er sich einließ?
»Wir haben in jedem Sommerurlaub ein Foto gemacht.« Lea war zu Merve getreten und stellte Glanders Tasche auf dem Boden ab.
»Sie sehen sehr glücklich zusammen aus.«
»Das waren wir auch. Bis zum Ende.«
»Es muss für Sie schlimm gewesen sein, Ihren Mann zu verlieren.«
Leas trauriges Lächeln sprach Bände, und Merve verabschiedete sich. »Ich muss leider wieder los, Glander und ich haben eine Menge zu tun. Es hat mich sehr gefreut, Lea.«
»Mich auch. Hoffentlich geht es Tara gut! Und hoffentlich finden Sie das Mädchen schnell!«
Merve nickte ihr zu und verabschiedete sich.
Lea sah ihr nach und schloss die Haustür mit einem flauen Gefühl in der Magengegend.
4
Tara war eingeschlafen. So reagierte sie stets auf Stress. Wenn ihre Eltern sich mal wieder stritten, übermannte sie einfach der Schlaf.
Die Luke in der Decke des Kellerverlieses wurde geöffnet, und eine schlanke Gestalt brachte einige Sachen herunter: eine Isomatte, ein Kissen und eine Fleecedecke, danach einen Korb mit Butterbroten, Salami und Käse, einer Tafel Schokolade und zwei Flaschen Mineralwasser, ferner einer kabellosen Universalleuchte mit Druckschalter, einem Satz Batterien für die Taschenlampe und drei abgegriffenen Taschenbüchern – Markus Zusaks Die Bücherdiebin, Der Junge mit dem Herz aus Holz von John Boyne sowie Mary M. Kayes Palast der Winde. Als Letztes folgte ein Eimer mit Deckel, in dem eine Rolle Toilettenpapier, eine Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta lagen.
Die Gestalt betrachtete das schlafende Mädchen einen Moment lang im Schein der Taschenlampe und deckte es zu. Dann stieg sie die Leiter hinauf und zog diese hinter sich hoch. So leise, wie sie sich geöffnet hatte, schloss sich die Luke wieder, und Tara lag erneut in völliger Dunkelheit.
In der Lüdersstraße 23 öffnete Glander Merve die Tür und begrüßte sie knapp. Nachdem er sie Maria Berthold vorgestellt hatte, holte Merve aus ihren zwei Aluminiumkoffern die Ausrüstung zur Telefonüberwachung. Sie verband sie mit der ISDN-Anlage der Bertholds und aktivierte kurz vor halb drei Uhr nachmittags die entsprechende Software auf dem dafür konfigurierten Laptop.
Als die Überwachung stand, wandte sich Merve an Maria Berthold. »Frau Berthold, ich habe die Abhöranlage installiert. Sollten die Entführer telefonisch Kontakt aufnehmen, wird das Gespräch aufgezeichnet, und wenn der Anruf lange genug dauert, können wir ihn vielleicht sogar zurückverfolgen. Ich würde zusätzlich gerne Kameras vor Ihrer Wohnungstür und an den beiden Hauseingängen anbringen. Aus rechtlichen Gründen bräuchten wir für diese Maßnahme eigentlich das Einverständnis Ihrer Mieter. Zeit haben wir dafür jedoch nicht, zumal wir möglichst diskret vorgehen müssen, wenn Sie den Fall nicht der Polizei übergeben wollen – wozu ich Ihnen noch einmal ganz dringend rate. Wir haben zwar gute Geräte, aber die Polizei hat das ganze Highend-Spektrum am Start. Herr Glander und ich sind nur zu zweit, die Kollegen können auf viel mehr Personal zurückgreifen. Die Aufklärungsrate bei erpresserischem Menschenraub liegt bei 85 bis 90 Prozent. Bitte denken Sie noch einmal darüber nach! Wir können den Fall jederzeit übergeben.«
Maria Berthold schüttelte vehement den Kopf, Panik in ihren Augen. »Nein, das kommt doch heraus, und dann bringen sie meine Tara um! Sie müssen mir versprechen, dass Sie die Polizei nicht eigenmächtig informieren, bitte!«
Merve nickte und sah Glander an. Der wandte sich seinerseits beschwichtigend zu Maria Berthold. »Beruhigen Sie sich! Wir werden fürs Erste lediglich Nachforschungen anstellen. Bitte besprechen Sie das Vorgehen aber unbedingt mit Ihrem Mann! Vielleicht kann er Sie ja davon überzeugen, die Polizei einzuschalten. Wir können momentan nur warten, bis die Täter erneut Kontakt aufnehmen. Frau Celik und ich werden hier bei Ihnen bleiben.«
»Ich danke Ihnen, Herr Glander. Wenn Sie mich kurz entschuldigen würden, ich bin gleich wieder da.« Maria Berthold erhob sich und verließ das Wohnzimmer.
Merve sah Glander an und sagte leise: »Rufst du die Kollegen an, oder soll ich das übernehmen?«
»Keiner von uns macht das, erst einmal. Ich hoffe, Frau Berthold besinnt sich noch. Sonst rede ich mit dem Ehemann, sobald der hier auftaucht. Ich möchte, dass du in den Krankenhäusern anrufst, für alle Fälle. Taras Foto hast du ja, um sie zu beschreiben. Ich lasse Frau Berthold eine Aufstellung von Taras Wochenablauf machen. Wir müssen die Orte aufsuchen, an denen sie sich regelmäßig aufgehalten hat. Vielleicht ist dort jemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen.«
Merve blickte Glander ernst an. »Ich finde es sehr merkwürdig, dass der Ehemann nicht hier ist. Das Kind wird entführt, und er überlässt seine Frau sich selbst. Das ist nicht normal. Nicht mal für euch Deutsche.«
Glander nickte grimmig. »Da hast du wohl recht. Tara ist nicht seine Tochter, das weiß aber niemand. Mein Gefühl sagt mir, dass noch mehr dahintersteckt, und ich hoffe, wir finden möglichst schnell heraus, was es ist.«
Merve zog sich in das benachbarte Esszimmer der Familie Berhold zurück, klappte ihren Laptop auf und begann, die familiäre und finanzielle Situation der Bertholds und der Mieter des Hauses zu durchleuchten, sowohl auf rechtlich unbedenklichem Weg als auch auf einigen Pfaden, die etwas abseits der Legalität lagen. Während sie auf die Ergebnisse ihrer Suchanfragen wartete, telefonierte sie die umliegenden Krankenhäuser ab, doch wie erwartet war in keines ein Mädchen eingeliefert worden, auf das Taras Beschreibung passte. Danach ging sie in Taras Zimmer. In dem Raum befanden sich ein schmales, ordentlich gemachtes Bett und ein funktionaler Kleiderschrank aus Kiefer, der eine Menge Tennisbekleidung enthielt. Vor dem Fenster stand ein aufgeräumter Schreibtisch, davor ein teurer Stuhl aus dem Orthopädiefachhandel. Die Wände waren in einem Beigeton gestrichen, der Teppich war blaugrau mit eingestreuten Rauten in Orange. Merve stand in einem Zimmer, das nicht typisch für ein Mädchen in Taras Alter war. Keine Spur von Romantik. Es fehlte auch der übliche Kitsch, den Siebzehnjährige oft um sich herum verbreiteten. Nicht mal ein Lipgloss lag herum. Merve ließ das Ambiente auf sich wirken und nahm sich dann Taras Laptop vor, der geschlossen auf dem Schreibtisch lag. Sie war zuversichtlich, dass ihr das Passwort keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten würde.
5
Tara hatte alles aufgegessen, so hungrig war sie gewesen. Jetzt las sie den Kaye im Licht der Taschenlampe. Sie war ganz ruhig. Über die Jahre hatte sie gelernt, Dinge auszublenden, und ein Buch war das perfekte Mittel dafür. Wenn Tara las, vergaß sie alles um sich herum.
Die Deckenluke öffnete sich einen Spaltbreit, und gleißendes Licht blendete sie, so dass sie nur eine Silhouette erkennen konnte. Eine Stimme, die klang, als hielte sich jemand etwas vor den Mund, sprach sie an.
»Ich werde dir nicht weh tun, wenn du tust, was ich dir sage. Ich gebe dir zu essen und zu trinken. Hab keine Angst! Ich werde mich um dich kümmern.«
Tara starrte in das helle Licht und wollte etwas erwidern, doch die Luke wurde wieder zugezogen. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass das rechteckige Flimmern vor ihren Augenlidern verschwand. Sie sollte keine Angst haben? Tara hatte immer Angst, nur wusste das niemand.
Maria Berthold war ins Wohnzimmer zurückgekehrt und saß Glander gegenüber. Ihr rechtes Augenlid zuckte, und sie öffnete und schloss ständig ihre Hände, ohne es zu merken.
»Frau Berthold, Sie erwähnten, dass Ihr Mann lediglich Taras Stiefvater ist. Kann es sein, dass Ihre Tochter bei ihrem leiblichen Vater ist? Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«
Maria Bertholds Gesicht zeigte einen Ausdruck von Abscheu, der Glander überraschte. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist ausgeschlossen. Taras Erzeuger«, sie spuckte das Wort beinahe aus, »hat damit bestimmt nichts zu tun. Glauben Sie mir, Herr Glander!«
»Nun, ich möchte nur ausschließen, dass Ihre Tochter …«
Maria Berthold hob abwehrend die Hand, ihre Gesichtszüge fast schmerzverzerrt. Sie holte tief Luft und musste einen Augenblick in sich gehen, bevor sie zu einer Erklärung ansetzen konnte. »Heinz hatte damals einen Kongress in London, und ich wollte ihn nicht begleiten. Ich fliege nicht gerne. Wir stritten uns deswegen. Heinz ist es nicht gewohnt, dass man ihm widerspricht, aber ich blieb standhaft. Als mein Mann auf dem Kongress war, besuchte ich die Philharmonie. Es war eine laue Sommernacht. Nach dem Konzert wollte ich die wunderbare Musik noch auf mich wirken lassen und ging ein Stück durch den Park. Dort passierte es dann. Es ging ganz schnell. Ich sah den Mann nicht kommen. Er zog mich ins Gebüsch und …« Sie wandte ihren Blick von Glander ab, bevor sie weitersprach. »Ich habe keine Anzeige erstattet, weil ich mich so sehr schämte. Sie können sich mein Entsetzen vorstellen, als ich Wochen später merkte, dass ich schwanger war. Ich bin Katholikin, ein Abbruch kam nicht in Frage. Die Schwangerschaft verlief kompliziert. Bei der Geburt verlor ich eine Menge Blut, ich hätte sie beinahe nicht überlebt. Als Tara zwölf Jahre alt war, bestätigte sich, dass ich keine Kinder mehr bekommen kann. Daraufhin sagte ich Bernd alles. Tara weiß nichts davon, und sie darf es auch unter keinen Umständen erfahren.«
Leise fragte Glander: »Wie hat Ihr Mann reagiert?«
Maria Berthold versuchte ein Lächeln, das ihr nicht gelang. »Er hat mir nicht geglaubt. Heinz ist ein sehr erfolgsverwöhnter und ehrgeiziger Mann, Niederlagen sind in seinem Leben nicht vorgesehen. Überdies ist er sehr eifersüchtig, und unser Altersunterschied macht es nicht einfacher. Er ist überzeugt davon, dass ich fremdgegangen bin. Irgendwann gab ich es auf, ihn von der Wahrheit überzeugen zu wollen. Er hat extrem viel zu tun und ist dauernd unterwegs. Wir haben uns … arrangiert.«
Glanders Bauchgefühl hatte ihn nicht getrogen. Er hatte geahnt, dass hinter dem Verhalten des Ehemanns mehr steckte als nur viel Arbeit in der Klinik. Dass es eine solch tragische Geschichte war, hatte er allerdings nicht erwartet. »Es tut mir aufrichtig leid, Frau Berthold. Unter diesen Umständen muss ich Sie aber fragen, ob Sie es für möglich halten, dass Ihr Mann etwas mit der Entführung zu tun hat.«
Sie seufzte. »Ich weiß schon sehr lange nicht mehr, wer dieser Mann an meiner Seite ist, Herr Glander.«
Glander hielt es an diesem Punkt für das Beste, die Richtung seiner Fragen zu ändern. »Hat Tara einen Freund?«
»Nein, ich glaube nicht. Sie hat wohl einen Schwarm an ihrer Schule, aber der scheint ihre Gefühle nicht zu erwidern. Ihre beste Freundin Louise wird darüber besser informiert sein, denke ich. Sie wohnt mit ihrem Vater hier im Souterrain. Ich habe vergeblich versucht, Louise zu erreichen, als Tara nicht nach Hause kam.«
Glander würde mit dieser Louise sprechen müssen, um mehr über Tara Berthold herauszufinden. Beste Freundinnen hatten in dem Alter nicht viele Geheimnisse voreinander. »Gibt es sonst etwas, das Ihnen einfällt? Egal, wie belanglos es Ihnen vorkommen mag. Ist Ihnen in letzter Zeit jemand in der Nähe des Hauses oder anderswo aufgefallen?«
Wieder schüttelte Maria Berthold den Kopf. »Nein, es war alles wie immer.«
Glander stand auf. »Ich werde nach unten gehen und sehen, ob ich Louise antreffe und mehr über Taras Schwarm herausfinden kann. Es wäre gut, wenn Sie Frau Celik und mir in der Zwischenzeit Taras Wochenablauf aufschreiben, also ihre regelmäßigen Termine, ihren Stundenplan, das Tennistraining. Wir bräuchten auch eine Liste ihrer Freunde und weiterer Bezugspersonen wie Verwandte, Trainer, Lehrer und so weiter. Ich bin gleich wieder da, Frau Celik bleibt hier.«
Im Souterrain musste Glander klopfen, die Klingel funktionierte nicht. Ein sommersprossiges Mädchen, das Glander gerade bis zur Brust reichte, öffnete die Tür. Es hatte strahlende Augen, eine Stupsnase und einen breiten Mund, dessen hochgezogene Mundwinkel stets für einen lächelnden Gesichtsausdruck sorgten. Über die Schultern des Mädchens fiel eine wilde Mähne dunkelblonder Locken, und eine kleine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen gab Louise einen recht lasziven Ausdruck für ihre siebzehn Jahre. Sie war barfuß, und Glander nahm den blitzenden Zehenring an ihrem linken Fuß wahr. Am rechten Fußgelenk trug sie ein goldenes Kettchen.
»Mein Name ist Martin Glander, ich bin privater Ermittler.« Er wies sich aus. »Sind Sie Louise Schneider?«
»Ja, das bin ich. Was ist denn passiert?« Plötzlich riss sie Augen und Mund weit auf. »O Gott, ist was mit Tara? Ich versuche schon den ganzen Tag, sie zu erreichen, aber sie meldet sich nicht.«
»Warum sind Sie nicht einfach nach oben gegangen? Taras Mutter versucht seit gestern Abend, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen.«
Louise blickte die Treppe hinauf, und ihre Miene verdunkelte sich. »Taras Eltern mögen mich nicht. Frau Berthold hat keine Nachricht hinterlassen, deshalb habe ich nicht zurückgerufen. Ich dachte, es sei nicht wichtig. Gestern Abend bin ich mit meinen Kopfhörern eingeschlafen und habe nichts an der Tür gehört, unsere Klingel ist schon lange kaputt. Kommen Sie doch bitte herein! Mein Vater ist in seinem Zimmer, ich sage ihm Bescheid. Gerade durch geht es ins Wohnzimmer.«
Glander durchquerte den Flur und trat in einen freundlichen, in Terracottatönen gehaltenen Raum. Kurz darauf betrat Louise das Wohnzimmer, dicht gefolgt von einem stämmigen, untersetzten Mann um die fünfzig, dessen Haare zu lang waren für seine auffallenden Geheimratsecken.
Er stellte sich Glander vor. »Jürgen Schneider. Bitte setzen Sie sich doch! Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Danke, nein, das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich will Sie nicht länger aufhalten als nötig. Zuerst muss ich Sie ersuchen, dieses Gespräch für sich zu behalten. Taras Eltern ist an größtmöglicher Diskretion gelegen. Ihre Tochter ist verschwunden.«
Louise blickte auf den Boden, ihr Vater legte schützend seinen Arm um ihre Schulter und nickte, als er antwortete. »Selbstverständlich, Herr Glander. Wie können wir Ihnen helfen?«
»Louise«, Glander wandte sich zu dem Mädchen, »Taras Mutter sagt, Sie haben gestern mit der Theater-AG in der Schule geprobt.«
»Das stimmt. Die AG findet jeden Freitag zwischen siebzehn und neunzehn Uhr statt. Wir proben gerade Der zerbrochne Krug von Kleist. Tara ist die Eve, ich gebe die Brigitte. Nach der Probe sind wir zum Pavillon in den Bäkepark und haben alle ein bisschen was getrunken. Tara verträgt keinen Alkohol. Ich glaube, das liegt an so einem seltenen Enzymmangel. Sie trinkt einen Schluck und ist gleich richtig hacke … Entschuldigung, ich meine betrunken. Max hatte was besorgt.« Das Mädchen zögerte.
Glander sprang ein. »Max? Ist das Taras Schwarm?«
»Ja, Max Kleinert aus dem dritten Semester. Tara steht total auf ihn, aber der kriegt das nicht mit, obwohl es wirklich nicht zu übersehen ist. Max ist ein lässiger Typ, der macht immer sein eigenes Ding.«
»Max hatte also was zu trinken besorgt.« Glander tippte Max’ vollständigen Namen in sein Handy ein und schickte ihn an Merve.
»Wodka und Energy Drinks. Die Jungs haben die Flasche ziemlich schnell leer gemacht. Ich mag keinen Alkohol und habe nur einen Anstandsschluck getrunken. Dann wollte ich gehen.« Louise sah ihren Vater an, der ihr liebevoll zulächelte.
Glander konzentrierte das Gespräch wieder auf das Wesentliche. »Was genau ist im Park passiert, Louise? Wer war noch alles dabei?«
»Tobi Verheugen und Leander Horten, beide aus dem dritten Semester. Sie hängen immer zusammen mit Max ab. Annalisa war auch da, Annalisa Gebauer. Sie, Tara und ich sind zusammen im Deutschleistungskurs.«
Glander schickte auch die Namen der anderen Jugendlichen an Merve.
Louise fuhr inzwischen fort: »Also, Tara war richtig betrunken. Alle dachten aber, sie tue nur so. Das glaubt ja keiner, dass man so schnell blau wird. Die Jungs wurden dann unangenehm, und ich hab mir Tara geschnappt und bin mit ihr nach Hause gegangen.«
»Inwiefern wurden die Jungs unangenehm?«
»Ach, die waren einfach blöd! Leander hat die ganze Zeit Annalisa angemacht. Als die nicht darauf eingegangen ist, hat er Tara verarscht, die davon gar nichts mehr mitbekam. Max hat den Wodka nur stumm in sich hineingekippt. Tobi und Leander wurden dann richtig anzüglich, sie wollten Strippoker bei Tobi spielen und so was. Das war mir zu doof, und Tara und ich sind gegangen. Tara hatte ganz schön Schlagseite, wir haben für den Nachhauseweg ewig gebraucht. Ich habe mich im Hausflur von ihr verabschiedet und bin zu uns reingegangen.«
»Wann war das in etwa?«
»So gegen zehn, denke ich. Vielleicht auch ein wenig später. Genau kann ich es nicht sagen, meine Uhr braucht eine neue Batterie, und ich hab mich noch nicht darum gekümmert.«
»War sonst noch jemand im Treppenhaus? Oder hat Tara vielleicht eine Nachricht auf ihrem Handy erhalten?«
»Nein, ich habe nichts mitbekommen. Ich habe angenommen, dass Tara nach oben in die Wohnung geht. Herr Glander, ich mache mir große Vorwürfe. Ich hätte sie hochbringen müssen, sie war doch so betrunken! Aber sie hat mich weggeschubst und gesagt, sie sei kein kleines Kind und ich solle mich ver …, ich solle sie in Ruhe lassen.«
»Sie trifft keine Schuld, Louise! Sie haben Tara immerhin sicher nach Hause gebracht, das war doch schon ein ordentlicher Freundschaftsdienst.«
Louises Vater schaltete sich ein. »Was, denken Sie, ist mit Tara passiert?«
»Ich kann Ihnen im Moment nicht mehr sagen, als dass sie verschwunden ist. Louise, hat Tara Probleme zu Hause oder in der Schule?«
Louise zögerte. »Na ja, in der Schule läuft alles super, sie hat die besten Noten und muss sich dafür nicht mal übermäßig anstrengen. Mit ihrer Mutter versteht sie sich sehr gut, aber ihr Vater ist ein echter Kotzbrocken.«
Jürgen Schneider mischte sich ein. »Lula, das kannst du doch nicht sagen! Professor Berthold war immer sehr gut zu uns.«
Louise sah ihren Vater an. Für einen kurzen Moment flackerte Zorn in ihren Augen auf. »Klar kann ich das sagen! Er ist total gemein zu Tara. Du weißt doch auch, wie der sein kann!« Wieder zu Glander gewandt, fügte sie an: »Aber deswegen haut man ja nicht gleich von zu Hause ab. Außerdem hätte sie mir das gesagt. Ich bin ihre beste Freundin.«
»Ist Ihnen in der Nähe des Hauses oder auf dem Schulweg irgendjemand aufgefallen? Ist Ihnen mal jemand gefolgt? Oder hat Sie angesprochen?«
»Nein, ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt.«
Glander zog seine Visitenkarte hervor. »Bitte sprechen Sie mit niemandem über die Angelegenheit, solange wir nichts Genaueres wissen! Sollte Ihnen etwas auffallen oder sollte sich Tara bei Ihnen melden, rufen Sie mich bitte an, egal, zu welcher Uhrzeit! Hier ist meine Karte.«
Louise steckte sie in die Känguruhtasche ihres Sweatshirts, das den Aufdruck einer teuren Marke trug.
Glander verabschiedete sich und ging wieder hinauf zu Maria Berthold.
6
Es kostete Tara große Überwindung, den Eimer zu benutzen, der ihr für ihre Notdurft hingestellt worden war. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad mit ihrem Lieblingsbadegel. Tara dachte an ihre Mutter, die sich sicherlich große Sorgen machte, und an ihren Vater, der bestimmt wie immer im Krankenhaus war. Dennoch versuchte sie, ruhig zu bleiben und nicht über ihre Situation nachzudenken. Mit diesem Mechanismus war sie schließlich bestens vertraut. Dinge auszublenden und sich aus der Gegenwart wegzudenken gehörte zu ihrer Überlebensstrategie. Sie griff nach der Taschenlampe und dem Buch und las im Palast der Winde weiter. Dabei dachte sie an Adam, mit dem sie seit einigen Wochen chattete, und fragte sich einmal mehr, wie er wohl aussah. Er war so verständnisvoll. Sie hatte das Gefühl, ihm alles sagen zu können. Vielleicht fände sie ihn sogar noch toller als Max. Tara stellte sich vor, wie einer der beiden zu ihrer Rettung kam, sie in seine Arme nahm und an einen sicheren Ort brachte.
Glander war unzufrieden mit sich. Er spürte, dass er ein entscheidendes Detail übersehen hatte, kam aber nicht darauf, was es sein konnte. Er ging in Taras Zimmer, um sich selbst darin umzusehen. Der Raum wirkte unpersönlich und stillos im Vergleich zum Rest der eleganten Berthold’schen Wohnung. Als Glander die Kissen auf dem Bett anhob, fand er Taras iPhone. Es steckte zwischen der Matratze und dem Bettrahmen, der Akku war leer. Das war es, was ihn unterschwellig beschäftigt hatte! Warum hätte Tara, betrunken wie sie war, grundlos noch einmal das Haus verlassen sollen? Sie hätte doch eine Nachricht erhalten haben müssen, die sie dazu veranlasst hätte. Und wenn es so gewesen wäre, dann hätte sie sicher ihr Handy mitgenommen. Glander fand das Ladekabel in der Schreibtischschublade, verband es mit dem iPhone und schaute sich die eingegangenen Nachrichten an, nachdem das Handy ohne Passwortsicherung wieder angegangen war. Taras Mutter hatte im Laufe der letzten 24 Stunden acht Sprachnachrichten hinterlassen und zehnmal angerufen, ohne etwas auf die Mailbox zu sprechen. Es gab außerdem sechs SMS von Louise, die von Mal zu Mal mehr Ausrufezeichen hinter ihre Aufforderung an Tara setzte, sich bei ihr zu melden.






