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Glander wusste, dass es keine genauen Zahlen gab. Man ging von 4000 bis 12 000 Obdachlosen in Berlin aus, darunter rund 1500 Frauen. Aber diese Zahlen waren wenig verlässlich. Die Dunkelziffer war immens. Besonders Frauen schämten sich oft ihrer prekären Lage. Eine Vielzahl von ihnen hatte jahrelang männliche Gewalt erfahren und mied daher die Hilfsangebote der öffentlichen Hand oder privater Träger. Denn die Einrichtungen für Obdachlose wurden überwiegend von Männern frequentiert.
Rechnete man die Frauen dazu, die in sogenannten »ungesicherten Wohnverhältnissen« lebten, also bei jemandem unterkamen, bei dem sie sich in der Regel sexuell revanchieren mussten, war die Zahl der weiblichen Obdachlosen noch einmal erheblich höher. Die meisten wohnungslosen Menschen befanden sich in einer ausweglosen Situation. Vielen von ihnen fehlte eine ordentliche Ausbildung. Ohne festen Wohnsitz gab es keinen Arbeitsplatz, ohne Arbeitsplatz fand man keine Wohnung. Oftmals konnte man sich nach dem Verlust der Arbeitsstelle oder einer Scheidung seine Wohnung nicht mehr leisten. Hatte man erst einmal Mietschulden oder aus anderen Gründen einen Eintrag bei der Schufa, war es beinahe aussichtslos, eine neue Wohnung zu finden. Hinzu kam, dass viele Obdachlose unter posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen litten, jedoch in den seltensten Fällen von den Behörden entsprechende Hilfe erhielten. Selbst ein nächtlicher Platz in einer Notunterkunft war für manche keine Lösung. Viele Obdachlose scheuten solche Einrichtungen, weil dort keine Hunde und kein Alkoholkonsum erlaubt waren, und blieben auch bei hohen Minusgraden lieber auf der Straße. Wie beschämend war das alles für eine Wohlstandsgesellschaft!
Hartmann unterbrach Glanders düsteren Gedankengang. »Die Hilfen reichen hinten und vorne nicht. Die Betroffenen brauchen ja nicht nur ein Bett und ein Dach über dem Kopf, sondern fast alle benötigen auch Hilfe bei dem ganzen Papierkram. Da werden Leistungen aus den absurdesten Gründen verweigert oder gestrichen. Und richtige Unterstützung, um wieder auf eigenen Beinen stehen zu können, kriegt niemand. Die Frauen brauchen ganz einfach jemanden, der ihnen unter die Arme greift. Denn die üblichen Dinge des Alltags stellen sie oft vor gewaltige Probleme. Sie sind oft depressiv oder leiden an anderen psychischen Erkrankungen. Und was denen dann teilweise auch noch auf der Straße passiert … Aber davon will natürlich keiner etwas wissen. Es ist einfach zum Kotzen, wie sich all die vermeintlichen Christen in unserem Land vor der Verantwortung drücken und in Kauf nehmen, dass direkt vor ihren Augen Menschen kaputtgehen!«
Das gilt auch für mich, dachte Glander. Er war zwar kein gläubiger Christ, aber auch er sah lieber weg, wenn er Obdachlosen begegnete oder ihm jemand den Straßenfeger verkaufen wollte. Alles junge Männer, die doch Arbeit finden müssten, wenn sie sich nur ein bisschen bemühen würden. Aber wer stellt schon jemanden ein, der nicht mal eine Wohnadresse angeben kann!, schalt Glander sich in Gedanken selbst. Kurz entschlossen sagte er zu Thomas Hartmann: »In Ordnung, Thomas, ich muss noch etwas erledigen und bin gegen Mittag wieder im Eifelviertel. Dann melde ich mich bei dir. Ich brauche dann mehr Informationen. Und du wirst sicher wissen wollen, was dich das Ganze kostet.«
Thomas Hartmann lachte ohne jede Spur von Humor. »Ich hätte nicht wenig Lust, der Polizei die Rechnung aufs Auge zu drücken. Aber egal, ich will Gerechtigkeit für diese Frauen.«
Gerechtigkeit … Dieses Wort hatte Glander lange nicht mehr gehört.
Keinen Kilometer Luftlinie entfernt sinnierte Lea vor sich hin. Sie wartete auf Talisker, der sein Geschäft in einem Dickicht neben dem BUGA-Wanderweg verrichtete, der zwischen Lichterfelde Süd und dem brandenburgischen Teltow verlief. Dieser Winter war selbst für Berliner Verhältnisse hart. Die letzten Wochen und Monate waren zwar nicht so bitterkalt wie manch andere Winter gewesen, dafür waren sie von einer klammen Düsternis geprägt, die selbst Lea aufs Gemüt geschlagen war, obwohl sie beileibe nicht zur Depressivität neigte. Es schien Lea, als sei die Sonne Anfang Dezember untergegangen und habe sich seitdem nicht wieder gezeigt. Vor ein paar Tagen waren die Temperaturen dann deutlich gefallen, und Lea war sich sicher, dass es bald schneien würde. Schnee im Februar brauchte wirklich niemand in Berlin. Einmal mehr käme der Winter um Wochen zu spät, das Weihnachtsfest war wie in so vielen vergangenen Jahren verregnet gewesen. Es waren wahrlich keine fröhlichen Gedanken, die auf den wunderbaren Tagesauftakt folgten.
Lea machte sich Sorgen. Sie hätte Martin sofort von dem Anruf erzählen müssen. Jetzt wurde es immer schwieriger, und doch musste sie mit ihm darüber reden. Am Montag begann ihr neuer Job, und sie kannte sich: Verheimlichen konnte sie es nicht, und dann würde Martin es ihr zu Recht übel nehmen, dass sie ihm nichts von ihrem Auftrag erzählt hatte.
Sweet Bejeesis! Sie hatte sich setzen müssen, so perplex war sie gewesen, als sie vierzehn Tage zuvor den Anruf von Connor Fraser erhalten hatte. Detective Chief Superintendent Fraser – er hatte nach seinem Studium eine Karriere bei der schottischen Kripo gemacht. Seine Stimme hatte sie unmittelbar auf eine Reise die Memory Lane hinuntergeschickt, direkt in ihre Vergangenheit. Sie hatte über zwanzig Jahre keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt und über zwei Jahre so gut wie gar nicht an ihn gedacht, doch die Erinnerungen waren sofort wieder so deutlich gewesen, als wäre alles erst vor Kurzem geschehen.
Talisker brauchte ewig, schien es Lea. Aber ein Hund seiner Größe produzierte nun einmal nennenswerte Haufen, das dauerte seine Zeit. Vielleicht hatte er auch nur eine interessante Fährte in der Nase. Sie fröstelte und wollte nach Hause zu ihren Unterlagen, denn sie wusste genau, dass ihre Gedanken in gar keine gute Richtung liefen, wenn sie Zeit zum Nachdenken hatte.
Connor war ihre erste große Liebe gewesen. Love at first sight. Ohne zu übertreiben, es hatte sich um Liebe auf den ersten Blick gehandelt. Und die war so heftig, haltlos und hitzig gewesen, wie man sie wohl nur in jungen Jahren erleben konnte, wenn einen das Leben noch nicht enttäuscht hatte, einem das Herz noch nicht gebrochen worden war und man noch nicht schmerzhaft hatte lernen müssen, sich vor den eigenen Gefühlen zu schützen.
Lea hatte sich im ersten Jahr an der Universität in Stirling befunden, als Hauptfächer hatte sie Anglistik und Germanistik gewählt, im Nebenfach hatte sie Psychologie belegt. Connor studierte bereits Computing Science im letzten Semester und war im Rugbyteam der Uni. Sie lief gerade in Begleitung einiger Kommilitoninnen den Flur der Sporthalle hinunter, als er den Kopf aus einer Umkleidekabine steckte und laut fluchend nach jemandem rief. Das Gefühl, das sie in jenem Moment durchflutete, war unbeschreiblich. Es schien ihr, als breite sich eine unglaublich große Portion Schlagsahne rasend schnell in ihr aus, wunderbar cremig geschlagen und mit reichlich Vanillezucker versetzt. Ihr Atem stockte, ihr Herz setzte einen Takt lang aus, und ihre Knie wurden weich, beinahe beängstigend. Dann folgte eine wohlig-warme Freude. Connor sah sie an und zwinkerte ihr zu, bevor die Tür wieder zuging.
Als sie ihre Kommilitoninnen fragte, wer das gewesen sei, grinsten die sie kopfschüttelnd an und rieten ihr, die Finger von ihm zu lassen. Connor Fraser sei in der ganzen Universität bekannt wie ein bunter Hund, in erster Linie nicht etwa wegen seines Rugbyrekords – kein Student hatte damals mehr Dropkicks erzielt als »KC«, Kickin’ Connor Fraser –, sondern seiner Frauengeschichten wegen: Er sei der unumstrittene Campus-Casanova. Die Mädchen hatten Lea gewarnt, nicht einmal daran zu denken, sich auf ihn einzulassen, da er ihr nur das Herz brechen würde. Doch gegen ihre Gefühle war sie machtlos gewesen. Sie hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen und sich, bis über beide Ohren verliebt, in eine Liaison mit Connor gestürzt. Die Rechnung war vergleichsweise spät gekommen – aber sie war unweigerlich gekommen.
Ihre letzte Begegnung mit Connor hatte tiefe, hässliche Spuren hinterlassen. Und Lea war sich ganz und gar nicht sicher, ob es eine kluge Entscheidung gewesen war, seiner Bitte um Unterstützung während der bevorstehenden Tagung nachzukommen. Sein Dolmetscher habe einen Unfall gehabt, und er brauche dringend einen Ersatz, hatte er erklärt. Er habe sofort an Lea gedacht, weil doch die Tagung in Berlin stattfinde. Nach einer kleinen Recherche habe er zu seiner freudigen Überraschung festgestellt, dass sie tatsächlich Dolmetscherin geworden war. Nun hoffe er, sie würde ihm und seinem Team aus der Patsche helfen, hatte er gesagt.
Er besaß noch immer the gift of the gab: Connor Fraser hätte Kühltruhen an Eskimos verkaufen können – noch immer hatte er die Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen.
Talisker kam aus dem Gebüsch getrottet und sah sie fragend an. Der Schottische Hirschhund hatte ein feines Gespür für ihre Stimmungen und trat ganz nah an sie heran. Lea beugte sich zu ihm hinunter – was allerdings bei seiner Größe keine große Bewegung war – und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Dann machten sich beide auf den Heimweg. Sie hatten es nicht allzu weit, denn Leas Grundstück grenzte an den ehemaligen Mauerstreifen, der nach dem Fall der Grenze zwischen Ost und West ein beliebtes Ausflugsziel am südlichen Berliner Stadtrand geworden war. Es war ganz erheblich zu früh für ihr gelegentliches Antidot Whisky, also würde sie einen starken Tee trinken und sich in ihre Unterlagen vertiefen, um nicht weiter über Vergangenes nachdenken zu müssen. Das wäre jetzt das Richtige. Am Montag würde sie Connor und die Vertreter seiner Delegation zu einem gemeinsamen Abendessen treffen. Sie würde sich wappnen müssen. Und sie musste Martin endlich von ihm erzählen. Heute Abend würde sie mit ihm reden.
Der kalte Wind blies das tote Laub der Bäume am Rande der ungepflegten Rabatten über den asphaltierten Weg und ließ sie erneut frösteln.
3
Der Billigflieger aus Glasgow traf pünktlich um 13.30 Uhr in Schönefeld ein. Ein großer, auffallend gut aussehender Mann mittleren Alters wartete kurz nach der Landung am Gepäckband auf seine Reisetasche. Währenddessen las er auf seinem Smartphone die Nachricht des deutschen Providers über die Kosten für das mobile Telefonieren in Berlin. Als seine große Reisetasche auf dem Gepäckband erschien, hob er sie lässig vom Band, schulterte die passende Burberry-Umhängetasche aus Londonleder und ging zügig zum Ausgang. Connor Fraser sollte am 4. April 48 Jahre alt werden, das sah man ihm aber nicht an, denn er legte großen Wert auf sein Äußeres. Die meisten seiner Freunde in Schottland, auch die erheblich jüngeren, hatten bereits einen Bierbauch und waren in eher jämmerlicher bis würdeloser körperlicher Verfassung. Er würde sich niemals so gehen lassen – no, thank youse! Seit seiner Jugend unterwarf er sich einem rigiden Fitnessprogramm. Fraser trainierte täglich zwei Stunden mit Gewichten und im Schwimmbad seines exklusiven Fitnessstudios im Glasgower West End.
Seit dem kurzen Telefonat hatte er nur wenige Male über E-Mail mit Penthesilea »Lea« Holtkamp kommuniziert, und er war gespannt darauf, sie wiederzusehen. Storm hieß sie seit ihrer Heirat. Doch sie war seit gut anderthalb Jahren verwitwet, wie er wusste.
Fraser ließ am Taxistand galant einer älteren Dame den Vortritt und nahm den alten Daimler, der folgte. Er setzte sich auf die Rückbank mit den abgenutzten schwarzen Ledersitzen und genoss das satte Geräusch, das die schweren Mercedestüren machten, als er und der Fahrer sie zuzogen. Das klang nach Qualität, und auf Qualität legte Fraser allergrößten Wert.
Oscar Wilde soll gesagt haben, Fußball sei eine von Raufbolden gespielte Gentleman-Sportart und Rugby eine von Gentlemen gespielte Raufbold-Sportart. Dieses Bonmot sagte Fraser ungemein zu, Rugby war sein Sport. Connor Fraser war ein kultivierter Mann, nach seinem IT-Studium hatte er eine Laufbahn beim schottischen CID, dem Criminal Investigation Department, eingeschlagen. Beamte, die sich auf dem neuen Feld der Computertechnologie auskannten, waren damals noch rar gewesen, und er hatte sich zügig einen Namen machen können. Zwei Jahre hatte er bei der Entwicklung einer neuen Falldatenbank mitgearbeitet, die die Basis für die heutige elektronische Datenverwaltung darstellte. Danach war seine Karriere steil bergauf gegangen, sodass er sich seit geraumer Zeit die Rosinen herauspicken konnte. Die erste Tagung der »Task Force for the Prevention of Violent Acts at Football Events” war so eine Rosine. Sie bot überdies endlich den Anlass, nach Berlin zu fliegen, in die Stadt, in der Lea seit zwei Jahrzehnten lebte.
Fraser hatte Lea nicht vergessen können und sich schon vor vielen Jahren eingestehen müssen, dass ihm das niemals gelänge. Es war Zeit, mit der Vergangenheit aufzuräumen. Er musste Lea zeigen, dass sie endlich alles, was gewesen war, überwinden mussten. Connor Fraser, Glasgows erfolgreichster Kriminalermittler und seit vergangenem Jahr Träger der George Medal – er hatte sich zwischen eine Zeugin und die für sie bestimmte Kugel geworfen und dafür die zweithöchste zivile Auszeichnung des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth erhalten –, lehnte sich zufrieden in die Polster des Daimlers zurück. Die Zeit war reif, Lea zurückzuholen.
Thomas Hartmann hatte glücklicherweise keine Ahnung, wie recht er mit seiner Einschätzung von Kriminalhauptkommissar Rolf Prinz hatte. Das Spurensichern, der Abtransport des Leichnams, die Befragung der Anwohner – all das nahm eine Menge Zeit in Anspruch, und so stand Prinz noch gegen Mittag am Fundort der Leiche von Greta Langner herum und verkniff sich sein Gähnen nicht mehr. Lichterfelde Süd – das war nach Prinz’ Meinung der Arsch der Welt, nur noch übertroffen von Rudow und dem ganzen Ostteil der Hauptstadt. Als gebürtigem Reinickendorfer, der schon seit drei Jahrzehnten in Charlottenburg lebte, missfiel ihm jede Gegend von Berlin, die südlich des Kurfürstendamms und östlich des Schäfersees lag. Schon das an Charlottenburg grenzende Moabit war indiskutabel, bestenfalls ein paar Ecken direkt an der Spree waren seiner Ansicht nach noch bewohnbar.
Jenseits der Bahntrasse vor Prinz lag ein sogenannter sozialer Brennpunkt, eine dieser Wohnsiloanlagen aus den Siebzigern. Diesseits der Trasse zog sich eine Reihe von Schrebergärten entlang, denen gegenüber eine Reihe eklektischer Ein- und Mehrfamilienhäuser stand, für deren optische Einheitlichkeit sich das Bauamt bei der Errichtung offensichtlich nicht interessiert hatte. Da hatte jeder bauen können, wie er wollte. Prinz wusste, dass sich am Ende der Fürstenstraße ein Stadtrandbahnhof befand und kurz dahinter Brandenburg begann. Grundgütiger, hier wollte man wahrlich nicht einmal seinen Hund begraben!
Sein Assistent Harald Fellner trat an ihn heran. »Rolf, wir haben gar nichts. Niemand hat was gesehen, niemand hat was gehört. Die Tote war den Anwohnern durchaus vom Sehen bekannt. Seit sie vor ein paar Monaten in der Gegend auftauchte, soll sie sich jeden Abend um halb acht hier niedergelassen haben, bis sie dann zwei Stunden später wieder loszog. Sie fiel nie unangenehm auf. Und keiner der Anwohner, die wir bisher befragt haben, konnte oder wollte irgendwelche sachdienlichen Angaben machen. Andere Obdachlose konnten wir nicht finden. Die zwei Kollegen, die ich zu der Halle geschickt habe, die Obdachlosen seit einiger Zeit als Unterschlupf dienen soll, haben dort zwar Spuren eines Lagers entdeckt, aber niemanden vorgefunden. Da kommen wir erst einmal nicht weiter. Ich schicke heute Abend eine Streife vorbei, die werden ja wiederauftauchen.«
Prinz seufzte. Warum musste ihm das ausgerechnet heute passieren? Er hatte noch so viel Material durchzuarbeiten, und die Tagung begann schon am Montag. Er war die alltägliche Kripoarbeit leid, die ihm seit so vielen Jahren schlaflose Nächte bereitete, und hatte sich sofort für die Mitarbeit an der paneuropäischen Taskforce gegen Rassismus und Gewalt im Fußball eingetragen. Kriminaldirektor Schneller höchstpersönlich hatte sein Gesuch abgenickt. Die internationale polizeiliche Arbeitsgruppe sollte im Zuge der ersten Tagung diese Woche hier in Berlin mit Vertretern aus Skandinavien, Großbritannien, Polen, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Spanien, Portugal und Italien gegründet werden. Die Teilnahme der Türkei war noch strittig, aber sicher würden sich die integrationsgeilen Organisatoren durchsetzen, und die Alis würden auch einige Plätze erhalten. Es war besonders wichtig, die Galatasaray- und die Fenerbahçe-Fans unter Kontrolle zu bekommen. Ginge es nach Prinz, bekämen die alle Einreiseverbot in den Schengenraum, dann könnten sie im eigenen Land Randale machen, so viel sie wollen. Bevor er sich so richtig in Rage denken konnte, winkte ihn Lutz Harnack zu sich.
Professor Dr. Lutz Harnack, Berlins Koryphäe der Rechtsmedizin und der an diesem Morgen diensthabende Leiter der KTI 21, der Tatortgruppe, die Spurensuche und -sicherung übernommen hatte, erhob sich neben der Toten. Er streifte die schwarzen Plastikhandschuhe ab und blies etwas wärmenden Atem in seine Hände. Heute sah er noch hagerer aus als sonst. Seine unnachahmliche Frisur ließ die Kapuze seines dünnen, halb offenen Schutzanzugs an der einen Seite ausbeulen, und irgendetwas stimmte nicht mit der dicken Wolljacke, die er darunter trug. Vermutlich war sie wieder einmal falsch geknöpft. Er wirkte irgendwie zerbeult. Doch dass man dieses Buch nicht nach seinem Einband beurteilen sollte, begriff selbst Prinz. Harnack genoss höchstes internationales Renommee auf dem Gebiet der forensischen Pathologie, er war ein gefragter Dozent und geschätzter Wissenschaftler.
Sachlich teilte Harnack dem Kollegen vom LKA 1 seine ersten Erkenntnisse mit. »Hauptkommissar Prinz, die Frau ist seit ungefähr zehn bis vierzehn Stunden tot. Genauer kann ich das wie immer erst sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe. Sie wurde erstochen, der Stich ging in ihre Lunge. Die Eintrittswunde sieht für mich auf den ersten Blick ungewöhnlich aus. Ich denke, das war kein gängiger Messertyp, aber auch hier weiß ich erst mehr, wenn ich mit dem Mikroskop rangehen kann und nachdem ich sie im CT hatte. Ich mache die Obduktion noch heute Abend, dann haben Sie gleich morgen den Bericht.«
Was haben die sich denn alle so? Das ist doch nun wirklich nicht so eilig, dachte Rolf Prinz. Er würde den Bericht sowieso nicht vor Montagabend lesen, vielleicht auch erst am Dienstag, je nachdem, wie der Begrüßungsabend der Fußball-Taskforce verlaufen würde. Er nickte dem Kollegen von der KT zu und ging zurück zum Dienstwagen. »Football’s coming home, it’s coming home«, summte er leise, während er den Sicherheitsgurt um seinen Leib schnallte und Fellner das Zeichen gab loszufahren.
Nach einem späten Frühstück im Stehen – drei doppelten Espresso mit reichlich Zucker – war Glander wie geplant in sein kleines Agenturbüro in Schöneberg gefahren. Dort hatte er einen längst überfälligen Bericht verfasst, ein paar Rechnungen geschrieben, eine erheblich höhere Summe zur Überweisung angewiesen und einige Mails beantwortet. Anschließend war er zu einem kurzen Mittagessen ins benachbarte »I due Emigranti« gegangen, um dann den frühen Nachmittag damit zu verbringen, Telefonate zu führen, online zu recherchieren und sich über Obdachlosigkeit in Berlin zu informieren. Er sprach mit einer Mitarbeiterin der Berliner Tiertafel e.V., die sich eigentlich in erster Linie um die Tiere mittelloser Menschen kümmerte. Aber die Ehrenamtlichen dort besaßen einen sehr unverstellten Blick auf die Menschen in Not. Was Glander im Zuge des Telefonats erfuhr, war alles andere als erbaulich. Als wohnungsloser Mensch fiel man zügig durch die Maschen des viel gerühmten sozialen Netzes. Und alle anderen Bürger der Stadt blendeten diese Art von Leid gemeinhin aus.
Als Glander das Büro am späten Nachmittag verließ, lagen die Straßen der Hauptstadt bereits in der Dämmerung. Anfang Februar hatte beinahe jeder Berliner das dunkle, kalte und schmuddelige Winterwetter satt. Viele Arbeitnehmer gingen im Dunkeln zur Arbeit und legten auch ihren Heimweg in Dunkelheit zurück, sodass sich nach drei Monaten Düsternis jeder nach dem Frühling sehnte. Licht und sprießendes Grün sorgten in der Hauptstadt alljährlich für eine deutlich spürbare Aufbruchsstimmung. Auch Glander freute sich auf länger werdende Tage und steigende Temperaturen.
Er entschied sich gegen den Weg über die Steglitzer Rheinstraße und die belebte Schloßstraße und nahm die schnellere Route über den Stadtring bis zum Steglitzer Kreisel. Das in den Siebzigerjahren errichtete ehemalige Bezirksverwaltungsgebäude war mit dreißig Stockwerken eines der höchsten Gebäude Berlins und eines der eindrucksvollen Mahnmale mangelnder West-Berliner Bauplanungskompetenz. Glander fuhr wie jedes Mal kopfschüttelnd an dem seit Jahren leer stehenden Betonklotz vorbei. Eklatante Fehlkalkulationen hatten 1974 zur Insolvenz des Bauträgers und zur Einstellung der Bautätigkeiten geführt. Die damaligen Bau- und Finanzsenatoren hatten gutgläubig – man munkelte damals, bewusst zu gutgläubig – eine Bürgschaft für das Projekt übernommen, und der Berliner Senat war auf einem gigantischen Schuldenberg sitzen geblieben. Ein Betrugsverfahren gegen die Architektin war ergebnislos verlaufen, und auch die beiden Senatoren hatten nicht belangt werden können. Allein der damalige Berliner Oberfinanzpräsident war vom Amt suspendiert worden. Er hatte der umstrittenen Architektin beruflich und privat nahegestanden. Der Kreisel wurde dennoch fertig gebaut, die Bezirksverwaltung zog ein, und der kleine Steglitzer Wolkenkratzer wurde zu einem unfreiwilligen Symbol der West-Berliner Baupolitik. Probleme bereitete der Betonriese erneut in den Neunzigerjahren, als festgestellt wurde, dass das Hochhaus asbestverseucht war. Nach einer Vielzahl von Gutachten über Sanierungsmöglichkeiten und einer Reihe von Nutzungskonzepten, von denen keines realisiert wurde, stand der gigantische Schandfleck nun seit dem Jahr 2007 leer. Dadurch waren bis zum vergangenen Jahr weitere Kosten für die Stadt Berlin von über drei Millionen D-Mark entstanden. Die meisten Berliner interessierten sich schon lange nicht mehr für das Schicksal des Steglitzer Kreisels, sie waren nur noch verärgert über den Dilettantismus der Berliner Landesregierung.
Während Glander über den Hindenburgdamm nach Lichterfelde Süd fuhr, überlegte er, ob er tatsächlich wieder gegen Rolf Prinz antreten wollte. Der würde Morden an obdachlosen Frauen keine Priorität einräumen, Glanders Einmischung aber keineswegs kampflos hinnehmen, das war sicher.
Gemeinsam mit Merve würde er sich etwas einfallen lassen müssen, um die zu erwartende Mauer des Schweigens im Obdachlosenmilieu möglichst zügig zu durchbrechen. Er rief seine Kollegin an. Sie meldete sich nach dem dritten Klingeln.
»Merve Celik.«
4
Merve Celiks Stimme klang wie die eines weiblichen Tom Waits, dabei spielte sie nie Klavier in verrauchten Bars und trank auch keinen Bourbon. Das heisere Timbre der ehemaligen Beamtin des LKA 1 hatte schon für manch eine Überraschung gesorgt, wenn sie ihrem Gesprächspartner nach einem Telefonat erstmals persönlich gegenübergestanden hatte. Die Stimme passte einfach nicht zu der zierlichen Frau, deren schwarze Lockenmähne oft genug schon allein dazu führte, dass Männer aus dem Konzept kamen, wenn sie sie sahen.
»Hallo, Merve, ich bin’s.«
»Martin! Sag mir, dass wir etwas zu tun haben! Ich flehe dich an! Ich befinde mich in der Mein-Kleines-Pony-Hölle! Wenn ich noch eine Mähne bürsten muss, drehe ich durch. Günay hat eine ganze Koppel voll, und sie sind alle pink und lila und glitzern.« Sie seufzte resigniert.
Glander lachte. Merves Nichten Günay und Gülsen wohnten mit ihrer Mutter, Merves älterer Schwester Sevgi, ebenfalls seit Kurzem in einem Haus im Dürener Weg, das Lea ihnen vermittelt hatte. Sevgi hatte im vergangenen Jahr einen lebensbedrohlichen Angriff ihres Ehemanns überlebt, und das Haus glich nun einem Hochsicherheitstrakt. Alle Türen und Fenster konnten mit Rollläden aus stranggepresstem Aluminium verriegelt werden, und Sevgi trug einen Notrufknopf, der ein Signal an Merves Handy schickte, wenn sie ihn betätigte. Obwohl ihr Ex-Mann bis zum Prozess im März in Untersuchungshaft saß und es unwahrscheinlich war, dass seine Freunde sie in dieser Gegend vermuteten, wollte sie für den Fall der Fälle gewappnet sein. Falls Merve einmal nicht in der Stadt war, leitete sie das Notsignal auf das Handy von Glander um. Dem waren Merves Schwester und deren Töchter in den vergangenen Wochen stark ans Herz gewachsen. Auch ihrerseits hatten die beiden Mädchen und ihre Mutter Vertrauen zu ihm gefasst. Manchmal war ihm mulmig bei einer so großen Verantwortung, doch meistens freute er sich vorbehaltlos über diese unerwartete Bereicherung seines Lebens.






