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Gegen sechs Uhr, gerade als die Sonne sich hinter den höheren Bergzügen im Westen verbarg, meldete Harbert, der an dem flachen Ufer umherschwärmte, die Rückkehr Nab's und Gedeon Spilett's.
Sie kamen allein! – Dem jungen Menschen preßte es schmerzlich die Brust zusammen. Des Seemanns Ahnung hatte also nicht getrogen, der Ingenieur Cyrus Smith war nicht aufgefunden worden!
Als der Reporter näher kam, sank er lautlos auf ein Felsstück nieder. Erschöpft von der Anstrengung und halbtodt vor Hunger fehlten ihm die Kräfte, ein Wort zu sprechen.
An Nab's Augen sah man, wie er geweint hatte, und immer noch verriethen seine Thränen, die er nicht zurück zu halten vermochte, daß ihm alle Hoffnung geschwunden war.
Später berichtete der Reporter über die angestellten Versuche, Cyrus Smith wieder zu finden. Etwa acht Meilen weit waren Nab und er längs der Küste hingelaufen, also noch weit über die Linie hinaus, in welcher der Ballon zum vorletzten Male aufstieß, mit welchem Stoße ja der Ingenieur sammt seinem Hunde verschwand. Das flache Ufer war wüst und leer, keine Spur, kein Fußtapfen zu sehen. Kein neuerdings gewendeter Kiesel, kein Zeichen im Sande, kein Eindruck von Schritten zeigte sich. Offenbar besuchter kein Mensch diesen Theil der Küste. Das Meer dehnte sich ebenso einsam, wie das Ufer, und wenige hundert Schritte von letzterem entfernt mußte der. Ingenieur sein Grab gefunden haben.
Da erhob sich Nab und rief mit einer Stimme, welche seine Gefühle von Hoffnung verrieth:
»Nein, nein! Er ist nicht todt! Nein, das kann nicht sein! Er! Niemals! Ich, oder jeder Andere, ja! Aber er nicht! Er war ein Mann, sich in jeder Lage zu helfen!«
Dann verließen ihn einen Augenblick die Kräfte.
»Ach ich kann nicht mehr!« murmelte er.
Harbert eilte zu ihm.
»Nab, redete ihm der junge Mann zu, wir werden Euren Herrn ja wieder finden! Gott schenkt ihn uns noch einmal! Aber für jetzt leidet Ihr an Hunger. Eßt ein wenig, ich bitte!«
Mit diesen Worten nöthigte er dem Neger einige Hände voll Muscheln auf, freilich eine dürftige, kaum hinreichende Speise.
Seit vielen Stunden hatte Nab Nichts zu sich genommen, aber auch jetzt schlug er es ab. Ohne seinen Herrn konnte oder wollte er eben nicht leben.
Gedeon Spilett verschlang einige Mollusken und legte sich am Fuße eines Felsstückes in den Sand. Er war zum Tode erschöpft, aber ruhig.
Da näherte sich ihm Harbert und faßte seine Hand.
»Mr. Spilett, sagte er, wir haben ein Obdach gefunden, wo es Ihnen mehr gefallen wird, als hier. Die Nacht bricht schon herein. Kommen Sie, um auszuruhen. Morgen werden wir sehen ...«
In diesem Augenblick kam auch Pencroff auf ihn zu und fragte im trockensten Tone, ob er nicht zufällig ein Zündhölzchen bei sich habe.
Der Reporter blieb stehen, durchsuchte seine Taschen, fand das Gewünschte aber nicht und sagte:
»Ich habe keine mehr und werde wohl alle mit ausgeworfen haben ...«
Als Pencroff hierauf an Nab dasselbe Verlangen stellte, erhielt er die nämliche Antwort.
»Verflucht!« fuhr der Seemann auf, der diesen Kraftausdruck nicht nieder zu würgen im Stande war.
Der Reporter hörte es und fragte:
»Es ist wohl kein Streichhölzchen zur Hand?
– Kein einziges, und folglich auch kein Feuer!
– O, rief Nab, da müßte mein Herr zur Stelle sein, der würde bald Rath schaffen!«
Bewegungslos und doch nicht ohne Unruhe sahen sich die vier Schiffbrüchigen an. Harbert brach zuerst das Schweigen und sagte:
»Mr. Spilett, Sie sind Raucher und haben doch wohl immer ein Feuerzeug bei der Hand. Vielleicht haben Sie nur nicht gründlich nachgesehen? Bitte, thun Sie es noch einmal. Ein einziges Zündhölzchen würde uns ja genügen!«
Von Neuem durchwühlte der Reporter alle Taschen seiner Kleidung, wobei er endlich zur größten Freude Pencroff's und zum höchsten eigenen Erstaunen ein zwischen das Westenfutter gelangtes Hölzchen fühlte. Gleichzeitig mit dem Stoffe hatte er dasselbe zwar erfaßt, vermochte es aber nicht hervorzuholen. Da nur dieses einzige vorhanden war, galt es sich vor der Losstoßung des Phosphorköpfchens sorgsam zu hüten.
»Wollen Sie mich gewähren lassen?« sagte der junge Mann.
Sehr geschickt und ohne es zu zerbrechen gelang es ihm, das erbärmliche und jetzt doch so kostbare Splitterchen hervorzuziehen.
»Ein Zündhölzchen! rief Pencroff, o, das ist ebenso viel, als ob wir eine ganze Ladung solcher hätten!«
Er nahm das Hölzchen in Empfang, und Alle begaben sich nach den Kaminen zurück.
Das kleine Stückchen Holz, das man unter anderen Verhältnissen doch ganz achtlos verschwendet, verlangte hier die Anwendung der peinlichsten Vorsicht. Der Seemann überzeugte sich zunächst, ob es auch trocken sei.
»Wir sollten Papier zur Hand haben, sagte er.
– Hier ist welches«, antwortete Gedeon Spilett, der nicht ohne einiges Zaudern ein Blatt aus seinem Notizbuche riß.
Pencroff ergriff das Stück Papier, das ihm der Reporter hinreichte, und kauerte sich vor dem Herde nieder. Auf diesem wurden einige Hände voll trockener Kräuter, Blätter und Moose so unter den Holzstücken ausgebreitet, daß die Luft leichten Zugang hatte, um das Ganze in Flammen zu setzen.
Pencroff knitterte das Papier zusammen und schob es unter, suchte sich dann einen trockenen, etwas rauhen Kiesel und versuchte mit angehaltenem Athem und nicht ohne Herzklopfen das Zündhölzchen sanft darauf zu reiben.
Das erste Streichen blieb erfolglos. Pencroff hatte, aus Furcht, daß der Phosphor abspringen könnte, zu wenig aufgedrückt.
»Nein, ich kann's nicht, sagte er, mir zittern die Hände. Das Hölzchen könnte versagen ... Ich kann nicht ... ich mag nicht!« Er erhob sich und hieß Harbert seine Stelle einnehmen.
Gewiß war der junge Mensch noch nie in seinem Leben so erregt gewesen. Das Herz schlug ihm heftig. Als Prometheus das Feuer vom Himmel stahl, konnte er nicht ängstlicher ergriffen sein. Entschlossen strich Harbert mit dem Hölzchen schnell über den Kiesel. Mit leisem Knistern schlug eine bläuliche Flamme auf, die einen scharfen Rauch verbreitete. Langsam wendete Jener das Hölzchen, um es weiter anbrennen zu lassen, und hielt es dann unter das Papierbäuschchen. Dieses fing Feuer, und in wenigen Augenblicken standen die dürren Moose und Blätter in Flammen. Bald nachher knisterte auch das Holz und loderte, unterstützt durch das kräftige Anblasen des Seemanns, lustig durch die Finsterniß empor.
»Endlich! rief Pencroff. Ich bin doch in meinem ganzen Leben noch nie so aufgeregt gewesen!«
Auf den glatten Steinen des Herdes brannte das Feuer ganz nach Wunsch; der Rauch fand einen bequemen Ausweg, der Schornstein »zog«, und es verbreitete sich eine behagliche Wärme.
Dieses Feuer durfte nun freilich niemals verlöschen und mußte wenigstens etwas Gluth unter der Asche erhalten werden. Da es an Holz nicht fehlte und dessen Vorrath stets ergänzt werden konnte, so machte das nur einige Sorgfalt und Arbeit nöthig.
Pencroff trug zuerst Sorge, dieses Herdfeuer zu benutzen, und eine consistentere Mahlzeit, als sie ein Gericht Steinmuscheln gewährt, zu bereiten. Harbert holte dazu zwei Dutzend Eier herbei. Der Reporter lehnte in einer Ecke und betrachtete diese Vorbereitungen, ohne ein Wort dazu zu sagen. Ein dreifacher Gedanke beschäftigte sein Inneres. Lebte Cyrus überhaupt noch? Wenn er lebte, wo konnte er sein? Wenn er den Sturz aus dem Ballon überstand, sollte er kein Mittel gefunden haben, ein Lebenszeichen von sich zu geben? – Nab endlich streifte am Ufer hin und her und erschien nur noch wie ein Körper ohne Seele.
Pencroff, welcher Eier auf zweiundfünfzig verschiedene Weisen zuzubereiten verstand, hatte jetzt doch keine Wahl. Er mußte sich damit begnügen, dieselben in heiße Asche zu legen und hart werden zu lassen.
Nach Verlauf weniger Minuten war das geschehen und lud der Seemann den Reporter ein, an dem Nachtmahl theilzunehmen, an der ersten Mahlzeit der Schiffbrüchigen auf der unbekannten Küste. Die harten Eier schmeckten ausgezeichnet, und da das Ei fast alle zur Ernährung des Menschen nothwendigen Bestandtheile enthält, so befanden sich die Verunglückten recht wohl dabei und schöpften neue Kräfte.
O, wenn Einer von ihnen jetzt nicht gefehlt hätte! Wenn alle fünf aus Richmond entflohenen Gefangenen hier zusammen gewesen wären, unter diesem Haufen von Felsstücken, vor dem flackernden Feuer auf dem trockenen Sande, sie hätten gewiß aus überquellendem Herzen dem Himmel ihren Dank dargebracht! Aber der erfindungsreichste, der unterrichtetste von ihnen, ihr natürlicher Anführer, Cyrus Smith, fehlte ja, ach, und seine Leiche hatte nicht einmal ein Grab gefunden!
So verlief der 25. März. Die Nacht kam heran. Draußen hörte man das Pfeifen des Windes und das eintönige Rauschen der Brandung an der Küste. Die von den Wellen hin und zurück gerollten Strandsteine erzeugten ein betäubendes Geräusch.
Nachdem der pflichtgewöhnte Reporter kurz die Ereignisse des Tages, die erste Erscheinung des neuen Landes, das Verschwinden des Ingenieurs, die Auskundschaftung der Küste, die Geschichte bezüglich der Zündhölzchen u.s.w. kurz verzeichnet hatte, zog er sich in einen dunkleren Raum zurück und fiel daselbst, von der Müdigkeit überwältigt, in erquickenden Schlummer.
Auch Harbert schlief bald ein. Mit halboffenen Augen lag der Seemann neben dem Herde, den er mit reichlicher Nahrung versorgte. Ein Einziger der Schiffbrüchigen suchte keine Ruhe. Das war der untröstliche, verzweifelte Nab, der trotz der Mahnungen seiner Gefährten, sich einigen Schlaf zu gönnen, die ganze Nacht den Namen seines Herrn rufend auf dem flachen Ufer umherlief.
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Sechstes Capitel
Das Inventar der Schiffbrüchigen. – Nichts! – Ersatz für eine Lunte – Ausflug in den Wald. – Die Flora der grünen Bäume. – Der Jacamar auf der Flucht. – Spuren wilder Thiere. – Die Kurukus. – Die Tetras. – Eine sonderbare Angelfischerei.
Das Verzeichniß der Besitzthümer dieser Schiffbrüchigen des Luftmeeres, welche nach einer scheinbar unbewohnten Küste verschlagen waren, ist leicht aufzustellen.
Außer den Kleidern, die sie zur Zeit des Unfalls trugen, besaßen sie eben gar Nichts. Auszunehmen wären höchstens ein Notiz- und Skizzenbuch, nebst einer Uhr, die Gedeon Spilett mehr aus Versehen behalten hatte; doch war keine Waffe, kein Werkzeug, nicht einmal ein Taschenmesser vorhanden. Alles hatten die Insassen der Gondel ausgeworfen, um den Ballon zu erleichtern.
Daniel Defoe's und Wiß' erdichtete Helden, ebenso wie Selkirk und Raynal, die bei Juan Fernandez und im Aucklands-Archipel gescheitert waren, sahen sich nie so sehr alles Nothwendigen beraubt. Entweder blieben ihnen reiche Hilfsquellen durch die gestrandeten Schiffe, aus denen sie Getreide, Thiere, Werkzeuge, Munition u. dergl. nachträglich bargen, oder irgend eine Seetrift versorgte sie mit den dringlichsten Lebensbedürfnissen. Nie standen sie so ganz macht-und waffenlos ihrem Schicksale gegenüber. Hier fand sich aber kein Geräth, kein Werkzeug vor. Alles mußte aus Nichts geschaffen werden.
Wäre noch Cyrus Smith bei den Verunglückten gewesen, hätte er seinen praktischen Verstand, seinen erfindungsreichen Geist in den jetzigen Umständen verwerthen können, so brauchte man wohl nicht jede Hoffnung aufzugeben! Ach, und gerade auf Cyrus Smith's Hilfe war nicht mehr zu rechnen. Die Schiffbrüchigen waren auf sich selbst und auf die Vorsehung angewiesen, welche Diejenigen nie verläßt, die ernstlich an sie glauben.
Sollten sie sich vor Allem nun an dieser Küste festsetzen ohne einen Versuch, in Erfahrung zu bringen, zu welchem Lande sie gehöre, ob sie bewohnt oder nur ein Theil einer wüsten Insel sei?
Diese dringliche Frage verlangte ihre Lösung in kürzester Frist, insofern die nächsten Maßnahmen davon abhingen. Jedenfalls sollte nach Pencroff's Ansicht aber einige Tage gewartet werden, bevor man auf größere Entfernungen auszöge. In der That mußten dazu ja Lebensmittel zubereitet, überhaupt eine kräftigendere Nahrung beschafft werden, als die bisherige aus Eiern und Schalthieren. Wenn die Kundschafter ernstere Strapazen aushalten sollten, und das vielleicht ohne schützendes Obdach, um ungestört auszuruhen, so mußten sie zuerst wieder vollständig zu Kräften kommen.
Als vorläufiges Unterkommen bewährten sich die Kamine recht gut. Feuer hatte man und etwas Gluth war unschwer zu erhalten. Muscheln und Eier lieferten der Strand und die Felsen in Ueberfluß. Vielleicht fand sich auch noch eine Gelegenheit, einige der Tauben zu erlegen, welche die Uferhöhe zu Hunderten umkreisten, ob das nun durch Stockschläge oder Steinwürfe gelang. Möglicher Weise reisten auch in dem benachbarten Walde eßbare Früchte. An Süßwasser fehlte es auch nicht, – kurz man entschied sich dahin, einige Tage lang in den Kaminen zu bleiben und sich dort auf eine weitere Untersuchung des Landes, entweder längs der Küste oder durch Eindringen in das Innere desselben, vorzubereiten.
Das letztere Project entsprach vorzüglich Nab's Wünschen. Von seinen eigenen Gedanken und Ahnungen eingenommen, hatte er gar nicht so große Eile, diesen Küstenstrich, den Schauplatz der Katastrophe, zu verlassen. Weder glaubte er an den Verlust seines Herrn, noch wollte er daran glauben. Nein, ihm erschien es unmöglich, daß ein solcher Mann auf so alltägliche Art und Weise umkommen, ertrinken solle, wenn ihn eine Sturzsee nur wenige hundert Schritte vom Ufer entführte. So lange die Wellen nicht seinen Leichnam an's Land spülten, so lange er, Nab, diesen nicht mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Händen betastet hätte, konnte er den Tod des Ingenieurs nicht fassen. Immer tiefer trieb diese Idee ihre Wurzeln in seinem Herzen. Vielleicht war sie nur eine Illusion, aber doch eine ganz ehrenwerthe, die selbst der Seemann zu zerstören fürchtete. Für Letzteren gab es freilich keine Hoffnung mehr, war der Ingenieur rettungslos in den Wellen umgekommen; doch gegen Nab konnte oder wollte er nicht streiten. Dieser glich dem Hunde, der nicht von der Stelle weicht, an der sein Herr gefallen, und sein Schmerz war so groß, daß er Jenen nicht lange zu überleben versprach.
Am Morgen des 26. März hatte Nab schon mit Sonnenaufgang wieder den Weg nach Norden zu eingeschlagen und die Gegend aufgesucht, in der das Meer sich ohne Zweifel über dem unglücklichen Cyrus Smith geschlossen haben mochte.
Das Frühstück dieses Tages bestand einfach aus Taubeneiern und Steinmuscheln. In kleinen Löchern am Felsen hatte Harbert Salz gefunden, das, von der Verdunstung des Meerwassers übrig geblieben, jetzt Allen sehr zu statten kam.
Nach Beendigung der Mahlzeit fragte Pencroff den Reporter, ob er Luft habe, mit in den Wald zu gehen, wo er und Harbert zu jagen versuchen wollten. In Berücksichtigung der augenblicklichen Umstände kam man indeß dahin überein, daß Einer zur Unterhaltung des Feuers und auch für den allerdings unwahrscheinlichen Fall zurückbleibe, daß Nab eine Hilfe verlange. Der Reporter ging daher nicht mit.
»Nun denn, zur Jagd, Harbert, sagte der Seemann. Munition finden wir unterwegs, und die Flinten schneiden wir uns im Walde ab.«
Als sie eben aufbrechen wollten, bemerkte Harbert, daß es sich wohl empfehle, an Stelle des mangelnden Zündschwammes irgend etwas Anderes zurecht zu legen.
»Und was denn? fragte Pencroff.
– Angesengtes Leinen, antwortete der junge Bursche, das dient zur Noth an Stelle des Schwammes.«
Der Seemann fand diese Vorsicht gerechtfertigt, sie hatte nur das Unbequeme, das Opfer eines Stücks von seinem Taschentuche nöthig zu machen. Nichtsdestoweniger handelte es sich um eine Sache von Gewicht, und bald war das großcarrirte Taschentuch Pencroff's zum Theil in Streifen angesengter Leinwand umgewandelt. Dieser leicht brennbare Stoff wurde in dem Mittelraum, in einer kleinen Aushöhlung des Gesteins und geschützt vor dem Winde und dem etwaigen Einflusse der Feuchtigkeit untergebracht.

Es war jetzt neun Uhr Morgens. Die Witterung drohte umzuschlagen; der Wind blies aus Südosten Harbert und Pencroff gingen um die Ecke bei den Kaminen, nicht ohne einen Blick auf den Rauch zurückzuwerfen, der um eine Felsenspitze wirbelte; dann folgten sie dem linken Ufer des Flusses.
Im Walde angelangt, brach Pencroff von den ersten Bäumen zwei tüchtige Aeste, die er in Stöcke umwandelte und deren Spitze Harbert auf einem Steine nothdürftig bearbeit etc. O, was hätte man jetzt für ein Messer gegeben! Dann drangen die beiden Jäger in dem dichten Grase längs des steilen Ufers weiter vor. Von der Stelle aus, wo er sich nach Südwesten hin wendete, verengte sich der Fluß merklich und seine Ufer bildeten ein sehr schmales Bette, das die Kronen der Bäume von beiden Seiten her überdeckten. Um sich nicht zu verirren, beschloß Pencroff dem Wasserlaufe zu folgen, der sie ja stets sicher nach ihrem Ausgangspunkte zurückführen mußte. Der Weg am Ufer bot aber doch einige Schwierigkeiten: hier biegsame Zweige, die bis zur Wasserfläche hinabhingen, dort Lianen oder Dornengestrüpp, durch das man sich mit dem Stocke erst einen Pfad brechen mußte. Nicht selten schlüpfte Harbert mit der Geschmeidigkeit einer jungen Katze seitwärts in's Dickicht, doch Pencroff rief ihn schnell zurück mit der Bitte, sich nicht zu entfernen.
Aufmerksam betrachtete der Seemann die Natur der Umgebungen. Neben diesem linken Ufer dehnte sich ein ebenerer Boden, der nach dem Innern zu sanft aufstieg. Da und dort sehr feucht, nahm er fast einen sumpfigen Charakter an. Unter den Füßen glaubte man ein Netz von Wasseradern zu spüren, die durch irgend welche unterirdische Spalten sich in den Fluß ergießen mochten. Manchmal plätscherte auch ein leicht zu überschreitender Bach quer durch das Gehölz. Das gegenüber liegende Ufer erschien weit unebener, und zeichnete sich die Richtung des Thals, dessen Sohle eben der Fluß einnahm, in seinen Linien deutlich ab. Die mit etagenartig stehenden Bäumen besetzte Erhöhung bildete einen jede Aussicht beschränkenden grünen Vorhang. Auf jenem rechten Ufer vorzudringen, wäre weit schwieriger gewesen, denn von den steilen, manchmal schroffen Abhängen neigten sich oft ganze Bäume, die nur noch durch ihre Wurzeln gehalten waren, bis zum Niveau des Wassers.
Es bedarf wohl keiner Erwähnung, daß dieser Wald, ebenso wie die schon durchlaufene Küstenstrecke noch einen ganz jungfräulichen, von keines Menschen Fuß betretenen Boden zeigte. Doch fielen Pencroff Spuren wilder Thiere, die unlängst hier durchgekommen sein mußten, in's Auge, ohne daß er die Art derselben bezeichnen konnte. Einige derselben gehörten Harbert's Ansicht nach gewiß ganz furchtbaren Bestien an, mit denen man wohl noch zu thun bekommen würde; nirgends aber fand man einen Axthieb an einem Baume, Reste eines verlöschten Feuers oder den Abdruck von Schritten. Letzterer Umstand war vielleicht als ein Glück anzusehen, da es zweifelhaft blieb, ob auf diesem Stück Erde mitten im Pacifischen Oceane die Gegenwart von Menschen mehr zu wünschen oder zu fürchten sei.
Selten ein Wort sprechend kamen Harbert und Pencroff bei den großen Schwierigkeiten des Weges nur langsam vorwärts, und hatten nach Verlauf einer Stunde kaum eine Meile zurückgelegt. Bis hierher war die Jagd noch gänzlich erfolglos gewesen. Einige Vögel hüpften zwitschernd zwischen den Aesten, zeigten sich aber sehr scheu, so als ob ihnen der Anblick der Menschen eine instinctive Furcht einflöße. Unter anderem Geflügel machte Harbert in einem sumpfigen Theile des Waldes auf einen Vogel mit langem, spitzem Schnabel aufmerksam, der seinem äußeren Bau nach dem sogenannten Taucherkönig sehr ähnlich war. Doch unterschied er sich von Letzterem durch das gröbere Gefieder, das einen metallischen Glanz zeigte.
»Das muß ein ›Jacamar‹ (Glanzvogel) sein, sagte Harbert und suchte sich diesem vorsichtig zu nähern.
– Eine schöne Gelegenheit, einen Jacamar zu kosten, meinte der Seemann, wenn jener die Gefälligkeit hätte, sich braten zu lassen.«
Schon traf ein geschickt und kräftig geworfener Stein das Thier an der Flügelwurzel, reichte aber nicht hin, jenes zu lähmen, denn der Jacamar entfloh sehr hastig und war in wenigen Augenblicken verschwunden.
»Ich bin doch recht ungeschickt! rief Harbert.
– Nicht doch, mein Junge, erwiderte Pencroff, Dein Wurf war sicher, und mancher Andere hätte den Vogel wohl ganz gefehlt. Laß den Kopf nicht sinken; der Bursche läuft uns wieder in den Weg!«
Sie gingen weiter. Je tiefer sie in das Innere gelangten, desto prächtigere Bäume traten ihnen minder dicht stehend entgegen, doch keiner derselben trug eßbare Früchte. Vergebens suchte Pencroff nach einigen der so kostbaren Palmen, die für das gewöhnliche Leben so Vielerlei bieten, und welche auf der nördlichen Halbkugel der Erde bis zum vierzigsten, auf der südlichen bis zum fünfunddreißigsten Breitengrade vorkommen. Der Wald hier bestand aber nur aus Coniferen, wie die von Harbert schon erkannten Deodars, und »Douglas« (eine Fichtenart), ähnlich den an der Nordwestküste Amerikas einheimischen, nebst prächtigen Tannen von hundertfünfzig Fuß Höhe.
Da flatterte eine Heerde kleiner Vögel mit herrlichem Gefieder und langem, schillerndem Schwanze zwischen dem Geäste auf und verstreute eine Menge ihrer nur lose sitzenden Federn, die den Boden unter ihnen mit seinem Flaume bedeckten. Harbert sammelte einige und sagte nach genauerer Prüfung derselben:
»Das sind ›Kurukus‹ (Nagevögel).
– Mir wäre ein Perlhuhn oder ein Auerhahn lieber, antwortete Pencroff; indeß, sind diese eßbar?
– O gewiß, ihr Fleisch schmeckt sogar vortrefflich, erwiderte Harbert. Wenn ich nicht irre, kann man jenen auch leicht beikommen und sie mit Stockschlägen erlegen.«
Der Seemann und der junge Mensch schlichen sich durch das Gras und bis an den Fuß eines Baumes, dessen Zweige die kleinen Vögel dicht besetzt hatten. Die Kurukus lauern in solcher Aufstellung auf Insectenschwärme, die ihnen zur Nahrung dienen. Man sah, wie ihre befiederten Füßchen die jungen Triebe, auf denen sie saßen, fest umklammert hielten.
Die Jäger nahmen eine passende Stellung, bedienten sich ihrer Stöcke gleich Sensen und mähten ganze Reihen von Kurukus nieder, die gar nicht daran dachten, zu entfliehen, und sich stumpfsinnig niedermetzeln ließen. Wohl lagen schon gegen Hundert auf dem Boden, bevor die klebrigen davonflogen.
»Schön, bemerkte Pencroff, das wäre also ein Wild, wie es zu unserer Jagdausrüstung paßt. Diese Thierchen kann man ja mit den Händen einfangen!«
Der Seemann reihte die Kurukus, so wie Lerchen, an dünnen Zweigen auf, und weiter ging der Zug. Der Wasserlauf bildete eine Biegung nach Süden, welche jedoch keine zu große Ausdehnung haben konnte, da seine Quelle offenbar in den Bergen lag und sich vielleicht von dem schmelzenden Schnee der einen Seitenwand des Centralkegels ernährte.
Der specielle Zweck der Expedition richtete sich bekanntlich auf die Erlangung möglichst vielen eßbaren Wildes für die Gäste der Kamine. Bis jetzt konnte man denselben doch schwerlich erreicht nennen; auch verfolgte ihn der Seemann noch mit aller Hast, und wetterte auf seine Weise, wenn ihm irgend ein Thier, das er vielleicht nur ganz flüchtig erblickt hatte, furchtsam davon lief. Hätte er nur Top bei sich gehabt – der war aber gleichzeitig mit seinem Herrn verschwunden und auf jeden Fall umgekommen.
Gegen drei Uhr Nachmittags bemerkte man andere Gesellschaften von Vögeln ist den Kronen gewisser Bäume, deren aromatische Beeren sie aufpickten, wie z.B. die von Wachholderbäumen. Plötzlich schallte ein wahrhafter Trompetenton durch die Stille des Waldes. Die sonderbar gellenden Fanfaren rührten von einer Art Hühnervögel her, welche in Amerika unter dem Namen »Tetras« (eine Abart der Auerhähne) bekannt sind. Bald ward man einige Pärchen derselben mit gelblich-bräunlichem Gefieder und braunen Schwanzfedern gewahr. Harbert unterschied die Männchen unter denselben an zwei spitzen Afterflügeln, die aus abstehenden Halsfedern gebildet sind. Pencroff hielt es für unerläßlich, sich einiger derselben, deren Fleisch dem des Birkhuhns gleichkommt, zu bemächtigen; da jene sich aber nur schwierig beikommen ließen, war die Sache nicht so leicht. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, durch welche die Tetras nur scheuer gemacht wurden, sagte der Seemann zu seinem Begleiter: