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Nach Durchschreitung dieses Gehölzes erreichten die Bergsteiger, Einer hinter dem Andern fast hundert Fuß hoch empor über einen schmalen Abhang kletternd, einen höhern ziemlich hohen Absatz, dessen Boden von ausgesprochener vulkanischer Natur war. Von diesem aus wollte man wieder mehr nach Osten vordringen, wobei man auf den schmalen Pfaden in Schlangenwindungen gehen und Jeder aufmerken mußte, wohin er den Fuß setzte. Nab und Harbert nahmen die Spitze, Pencroff das Ende des Zuges ein, Cyrus und der Reporter gingen zwischen ihnen. Die Thiere, welche diese Höhen besuchten und von denen man häufiger Spuren antraf, gehörten unzweifelhaft zu den Racen mit sicheren Füßen und geschmeidigem Rückgrathe, wie z.B. die Gemsen. Einigen derselben begegnete man auch, doch legte ihnen Pencroff diese Namen nicht bei.
»Da sind Schasel« rief er.
Alle blieben etwa fünfhundert Schritte vor einem halben Dutzend ziemlich großer Thiere stehen, welche starke rückwärts gebogene und an der Spitze abgeplattete Hörner und unter langen seidenartigen Haaren von gelblicher Farbe ein dichtes wolliges Fließ hatten.
Es waren das keine gewöhnlichen Schafe, sondern eine in den Gebirgsgegenden der gemäßigten Zonen sehr verbreitete Art, denen Harbert den Namen »Muflons« (wilde Schafe) gab.
»Ißt man die Keulen und Coteletten von ihnen? fragte der Seemann.
– Ja, antwortete Harbert.
– Nun, dann sind es auch Schafe!« behauptete Pencroff.
Unbeweglich zwischen den Basalttrümmern glotzten die Thiere die Wanderer an, so als ob sie zum ersten Male zweifüßige Geschöpfe sähen. Plötzlich schien aber das Gefühl der Furcht in ihnen zu erwachen, und schnell waren sie über die Felsstücke springend verschwunden.
»Auf Wiedersehen!« rief ihnen Pencroff mit so komischem Tone nach, daß Alle darüber sich des Lachens nicht enthalten konnten.
Die Besteigung wurde fortgesetzt. An so manchem steilen Abhange konnte man die Spuren der Lava in den sonderbarsten Richtungen verfolgen. Oefter trafen die Wanderer auf ihrem Wege kleine Solfataren (Schwefeldunstquellen), welche man umkreisen mußte. An einzelnen Stellen hatte sich der Schwefel in Form krystallinischer Concretionen mitten zwischen den Auswurfstoffen, welche den Lava-Eruptionen vorher zu gehen pflegen, wie Puzzolanerde in unregelmäßigen, hartgebrannten Stücken und weißlicher, aus ganz kleinen Feldspathkrystallen bestehender Asche abgelagert.
Mit Annäherung an das erste Bergplateau nahmen die Schwierigkeiten der Besteigung noch bedeutend zu. Gegen vier Uhr war die oberste Baumgrenze überschritten. Nur da und dort fristeten noch einige dürftige Fichten ihr zähes Leben, das auch in dieser Höhe dem wüthenden Winde Trotz zu bieten vermochte.
Zum Glück für den Ingenieur und seine Begleiter hielt sich das Wetter jetzt sehr schön und die Atmosphäre ruhig, denn bei der Höhe von dreitausend Fuß würde sie eine kräftige Brise nicht wenig in ihren Bewegungen gehindert haben. Bei der Durchsichtigkeit der Luft fühlte man fast die Reinheit des Himmels am Zenith Rings um sie her herrschte vollkommene Ruhe.
Die Sonne, welche hinter dem zweiten Gipfel wie hinter einem ungeheuren Lichtschirm verborgen war, sahen sie zwar nicht, auch blieb der ganze westliche Horizont verdeckt, dessen gewaltiger Schatten entsprechend dem niedersinkenden Tagesgestirn an Größe zunahm. Einige Dünste, mehr Nebel als eigentliche Wolken, begannen im Osten aufzusteigen und färbten sich durch die Brechung der Sonnenstrahlen mit allen Schattirungen des Spectrums.
Nur fünfhundert Fuß trennten die Forscher jetzt von dem Plateau, das sie erreichen wollten, um daselbst ihr Nachtlager aufzuschlagen; doch dehnten sich diese fünfhundert Fuß durch den Zickzackweg, dem man folgen mußte, zu mehr als zwei Meilen in der Länge aus. Ost fehlte, wie man zu sagen pflegt, der Boden unter den Füßen. Die Abhänge fielen manchmal so steil ab, daß man auf der erstarrten Lava hinglitt, welche dem Fuße keinen genügenden Stützpunkt bot. Allmälig sank der Abend herab, und schon war es fast Nacht, als Cyrus Smith und seine Begleiter, sehr ermattet von einem siebenstündigen Aufwärtssteigen, auf dem Plateau des unteren Bergkegels ankamen.
Jetzt ging man daran, eine Lagerstätte herzurichten, um durch Nahrung und Schlaf die verlorenen Kräfte zu ersetzen. Die zweite Etage des Berges erhob sich von einer Felsenbasis, zwischen deren Spalten man leicht einen sicheren Schlupfwinkel fand. An Brennmaterial war hier freilich etwas Mangel, doch erhielt man mittels Moosen und trockenem Gesträuche, das sich noch hier und da auf dem Hochplateau vorfand, ein leidliches Feuer. Nab und Harbert sammelten jenes Material ein, während Pencroff verschiedene Steine zu einem improvisirten Herde zusammenstellte. Dann schlug man mittels geeigneter Steine Feuer, die Funken fielen auf den Zunder, und bald loderte, von Nab's kräftiger Lunge angeblasen und geschützt von den umgebenden Felsenwänden, eine lustige Flamme empor.
Man erhielt sich diese nur zur Erwärmung bei der empfindlichen Kälte der Nacht, briet aber den Fasan noch nicht dabei, sondern sparte diesen für den andern Tag auf, und begnügte sich zum Abendbrode mit den Resten des Cabiai und einigen Dutzenden süßer Pinienfruchtzapfen. Um sechs ein halb Uhr war Alles beendet.
Da fiel es Cyrus Smith noch ein, im Halbdunkel die große ringförmige Abplattung, auf welcher der zweite Bergkegel ruhte, näher in Augenschein zu nehmen. Bevor er sich zur Ruhe begäbe, wollte er sich überzeugen, ob man rings um diesen Kegel herumgehen könne, für den Fall, daß dessen Seiten zu steil aufstiegen, um den Gipfel selbst erreichen zu können. Der Gedanke hieran beschäftigte ihn unausgesetzt, denn möglicher Weise war der ringförmige Absatz an der Seite, nach welcher sich der obere Kegel neigte, nicht gangbar. Vermochte man aber weder die Spitze des Berges zu erklimmen, noch seine Basis zu umkreisen, so verfehlte man, so lange der westliche Theil der Umgebung nicht zu überblicken war, ja den ganzen Zweck des unternommenen Ausflugs.
Ungeachtet der vorhergegangenen Strapazen wandte sich der Ingenieur, während Pencroff und Nab das Nachtlager zurecht machten und Gedeon Spilett die Erlebnisse des Tages notirte, in Begleitung Harbert's nach dem kreisförmigen Absatze, um diesen zu verfolgen.
Die schöne, stille Nacht war noch ziemlich hell. Ohne ein Wort zu wechseln, gingen Cyrus Smith und der junge Mann neben einander hin. An manchen Stellen verbreiterte sich der Weg, so daß sie bequem marschiren konnten, an anderen verengerten ihn Felsentrümmer so weit, daß sie kaum Einer hinter dem Andern weiter kamen. Nach zwanzig Minuten etwa mußten die beiden Wanderer sogar ganz anhalten. Von da aus liefen die Abhänge beider Kegelberge in einen zusammen und ließen keine Stufe mehr zwischen sich. Um diese schroffe Wand mit einem Neigungswinkel von fast siebenzig Graden konnte man nicht gefahrlos weiter herumklettern.
Mußten der Ingenieur und der junge Mann aber auch auf eine weitere Umkreisung des Kegels verzichten, so bot sich ihnen dafür die Möglichkeit, geraden Wegs ein Stück nach der Spitze hinaufklettern zu können.
Vor ihnen eröffnete sich eine weite Aushöhlung der Bergmasse, eine Seitenmündung des oberen Kraters, eine Art Flaschenhals, aus dem zur Zeit der Thätigkeit des Vulkans die flüssigen Eruptionsstoffe herabrannen. Die erhärtete Lava und die bekrusteten Schlacken bildeten gewissermaßen eine natürliche Treppe mit breiten Stufen, welche die Annäherung an den Gipfel überraschend erleichterte.
Ein flüchtiger Blick genügte Cyrus Smith, diese Vortheile zu erkennen, und ohne zu zögern, drang er, von dem jungen Mann gefolgt, bei zunehmender Dunkelheit in den ungeheuren Schlund ein.
Noch war eine Höhe von etwa 1000 Fuß zu erklimmen. Würden die inneren Wände des Kraters irgend gangbar sein? Das mußte man ja bald sehen. Jedenfalls wollte der Ingenieur den Weg nach aufwärts fortsetzen, so lange das eben ausführbar war. Zum Glück bildeten die inneren Wände gewissermaßen sehr verlängerte Schraubengänge, welche das Aufsteigen begünstigten.
Der Vulkan selbst schien zweifellos vollkommen erloschen; nicht die kleinste Rauchsäule stieg aus ihm empor; kein Flämmchen züngelte in seiner ungeheuren Tiefe. Kein unterirdisches Rollen ließ sich hören, kein Erzittern fühlen an diesem dunklen Schachte, der sich vielleicht bis in die Eingeweide der Erde fortsetzte. Auch die Luft im Krater-Innern verrieth keine Spur schwefliger Dünste. Das war mehr als die Ruhe, das war das Bild des Erstorbenseins eines Vulkans.
Cyrus Smith's Versuch sollte gelingen. Je weiter er und Harbert an den inneren Wänden emporklommen, desto mehr verbreiterte sich die Krateröffnung über ihnen. Der kreisförmige Ausschnitt des Himmels, den die Schlundwände einrahmten, nahm mehr und mehr an Ausdehnung zu. Bei jedem Schritte, den die Wanderer thaten, trat sozusagen ein neues Gestirn in ihr Gesichtsfeld. Hell glänzten die prächtigen Sternbilder des südlichen Himmels. Am Zenith der blendende Antares im Scorpion und nahe dabei das ß-Centauri, das man für den unserem Sonnensystem am nächsten stehenden Fixstern ansieht. Je nachdem sich der Krater erweiterte, erschienen dann das Sternbild der Fische, das Dreieck des Südens und endlich fast genau am antarktischen Pole der Welt das schöne Südliche Kreuz, welches den Polarstern der nördlichen Halbkugel ersetzt.
Es mochte gegen acht Uhr sein, als Cyrus Smith und Harbert den oberen Kamm des Berges auf der Spitze desselben erreichten.
Freilich war es nun fast vollkommen dunkel geworden, so daß der Blick kaum auf eine Entfernung von zwei Meilen reichte. Wogte nun der Ocean rings um dieses unbekannte Land, oder stand es auf der Westseite mit irgend einer größeren Landmasse des Stillen Weltmeeres in Verbindung? Noch vermochte man es nicht zu erkennen Grade jetzt erhöhte eine Wolkenbank, die sich scharf vom Horizonte abhob, nach Westen zu die Dunkelheit, und das Auge war nicht im Stande, zu entscheiden, ob Himmel und Wasser in ungebrochener Kreislinie einander berührten.
Da erschien plötzlich an jener Stelle des Horizontes ein Lichtschein, der mehr und mehr herabsank, je nachdem die Wolkenbank in die Höhe stieg.
Es war die Sichel des zunehmenden Mondes, der eben untergehen wollte. Noch reichten seine Strahlen hin, den jetzt wolkenlosen Horizont zu beleuchten, und einen Augenblick sah der Ingenieur sein zitterndes Bild sich auf einer Wasserfläche wiederspiegeln.
Cyrus Smith ergriff die Hand des jungen Mannes.
»Es ist eine Insel!« sagte er mit ernstem, fast feierlichem Tone, als eben der letzte Lichtschein in den Wellen erlosch.
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Elftes Capitel
Auf dem Gipfel des Kegels. – Das Innere des Kraters. – Ringsherum Wasser. – Kein Land in Sicht. – Das Ufer aus der Vogelschau. – Hydrographie und Orographie. – Ist die Insel bewohnt? – Taufe der Baien, Buchten, Caps, Flüsse u.s.w. – Die Insel Lincoln.
Eine halbe Stunde später waren Cyrus Smith und Harbert wieder bei der Lagerstätte zurück. Der Ingenieur begnügte sich, seinen Gefährten mitzutheilen, daß das Land, auf welches der Zufall sie geworfen, eine Insel sei und daß man am andern Tage das Weitere überlegen wolle. Hierauf richtete sich Jeder bestmöglichst in der Basaltkluft, 2500 Fuß über dem Meere, ein, und »die Insulaner« verbrachten eine friedliche Nacht in tiefem Schlummer.
Am Morgen des 30. März beabsichtigte der Ingenieur, nach einem kurzen Frühstücke auf Unkosten des gebratenen Tragópans, den Vulkan wieder zu ersteigen, zur genaueren Besichtigung der Insel, auf der Alle vielleicht für die Zeit ihres Lebens gefangen waren, wenn diese sehr entfernt von jedem anderen Lande oder außerhalb der Straße derjenigen Schiffe lag, welche die Inselgruppen des Pacifischen Oceanes besuchen. Diesmal folgten ihm auch alle seine Gefährten, denn auch sie reizte es, die Insel zu betrachten, welche für die Zukunft ihnen alle Lebensbedürfnisse liefern sollte.
Es war gegen sieben Uhr Morgens, als Cyrus Smith, Gedeon Spilett, Harbert, Pencroff und Nab die Lagerstätte verließen.
Alle schienen sich über die gegenwärtige Lage beruhigt zu haben. Ohne Zweifel hatten sie Vertrauen zu sich, doch ist wohl zu bemerken, daß der Grund dieses Zutrauens bei Cyrus Smith nicht derselbe war, wie bei seinen Genossen. Beim Ingenieur erklärte es sich durch das Gefühl seiner Fähigkeit, dieser wilden Natur jedes Lebensbedürfniß für sich und seine Genossen abzuringen, und Letztere sorgten sich um Nichts, eben weil Cyrus Smith bei ihnen war. Diesen Unterschied begreift man wohl; Pencroff vor Allen hätte seit der Wiederanzündung des Feuers keinen Augenblick verzweifelt, selbst wenn er sich auf einem nackten Felsen befunden hätte, wenn nur Cyrus Smith mit auf diesem Felsen war.
»Bah! sagte er, aus Richmond sind wir ohne Erlaubniß der Behörden herausgekommen, es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht heute oder morgen von einem Orte wegkommen sollten, an dem uns gewiß Niemand zurück hält!«
Cyrus Smith verfolgte den nämlichen Weg, wie am Abend vorher. Man ging auf der Stufe zwischen bei den Kegeln um den oberen bis an die Mündung des Seitenkraters herum.
Das Wetter war prächtig. Glänzend stieg die Sonne am Himmel empor und vergoldete mit ihren Strahlen die ganze Ostseite des Berges.
Man trat in den Krater ein. Er erschien so, wie ihn der Ingenieur im Halbdunkel erkannt hatte, d.h. ein ungeheurer Trichter, der sich bis zur Höhe von 100!! Fuß über dem Plateau nach und nach erweiterte. Unterhalb der Seitenmündung schlängelten sich dicke und breite Lavaströme hinunter und zeichneten so den Weg der Auswurfmassen vor, bis in die tieferen Thäler hinab, welche den nördlichen Theil der Insel fürchten.
Das Innere des Kraters, dessen Neigung fünfunddreißig bis vierzig Grade nicht überschritt, setzte der Besteigung keinerlei Hindernisse entgegen. Noch fand man Spuren sehr alter Laven, die wahrscheinlich früher über den Rand des Kraters flossen, so lange die Seitenmündung ihnen jenen neuen Ausweg noch nicht bot.
Der Schlund des Vulkans, welcher die Verbindung zwischen den unterirdischen Schichten und dem Krater herstellte, war seiner Tiefe nach nicht mit den Augen abzuschätzen, da er sich in der Dunkelheit verlor. Ueber das vollständige Verlöschen des Vulkans konnte man jedoch keinen Augenblick im Zweifel sein Noch vor acht Uhr befanden sich Cyrus Smith und seine Gefährten auf dem Gipfel desselben, auf einem kleinen konischen Hügel, der am nördlichen Rande einer großen Blase ähnlich erschien.
»Das Meer! Ueberall das Meer!« riefen sie, als hätten ihre Lippen dieses Wort, das sie zu Insulanern machte, nicht zurückhalten können.
Wirklich erstreckte sich rings um sie die ungeheure kreisförmige Wasserfläche. Als Cyrus Smith den Gipfel noch einmal bestieg, leitete ihn vielleicht die Hoffnung, irgend eine Küste, eine nahe gelegene Insel zu entdecken, die er in der Dunkelheit des vergangenen Abends nicht hatte erkennen können. Aber Nichts zeigte sich am ganzen Horizonte, d.h. in einem Umkreise von mehr als fünfzig Meilen. Kein Land war in Sicht, kein Segel auf dem Wasser! Der ganze unendliche Raum wüst und leer, und in seiner Mitte lag die verlassene Insel, ein Steinchen im Weltmeere!
Stumm und unbeweglich musterten der Ingenieur und seine Gefährten einige Minuten lang den Ocean. Ihre Augen durchdrangen ihn bis zu den äußersten Grenzen. Doch selbst Pencroff, der ein so ausgezeichnetes Sehvermögen besaß, bemerkte Nichts, und er hätte doch ohne Zweifel selbst die geringste Spur eines entfernten Landes, und wenn es sich nur durch einen noch so seinen Dunstkreis verrieth, wahrgenommen, denn unter seine Augenbrauen hatte die Natur zwei wahrhafte Teleskope eingepflanzt.
Vom Meere weg schweiften die Blicke über das umgebende Land, welches der Berg vollständig beherrschte, als Gedeon Spilett zuerst das Schweigen mit der Frage brach:
»Wie viel mag die Größe dieser Insel wohl betragen?«
Wenn man sie so mitten in dem grenzenlosen Oceane liegen sah, schien dieselbe nicht sehr beträchtlich zu sein.
Cyrus Smith überlegte eine kurze Zeit; er faßte unter Beachtung der Höhe, in welcher er sich befand, den Umfang der Insel in's Auge.
»Ich glaube nicht zu irren, meine Freunde, sagte er dann, wenn ich die Küstenentwickelung unseres Reiches auf mehr als hundert Meilen abschätze.
– Folglich beträgt ihre Oberfläche? ...
– Das ist schwer zu sagen, antwortete der Ingenieur, dafür ist das Ufer zu unregelmäßig zerrissen.«
Wenn sich Cyrus Smith in seiner Abschätzung nicht täuschte, so hatte die Insel ungefähr die Ausdehnung von Malta oder Xanthes im Mittelländischen Meere; doch erschien dieselbe weit unregelmäßiger gestaltet, und reicher an Caps, Vorgebirgen, Spitzen, Baien, Buchten und Schlüpfhäfen. Ihre sonderbare Form fiel unwillkürlich in's Auge, und als Gedeon Spilett diese auf des Ingenieurs Wunsch in ihren Umrissen gezeichnet hatte, fand man, daß dieselbe einem phantastischen Thiere mit geflügelten Füßen ähnelte, das auf der Oberfläche des Pacifischen Oceans eingeschlafen war.
Wir geben hier eine kurze Beschreibung der Gestalt der Insel, von der der Reporter sofort eine Karte mit hinreichender Genauigkeit entwarf.
Der Küstenstrich, an dem die Schiffbrüchigen an's Land gekommen waren, bildete einen weit offenen Bogen und umgrenzte damit eine ausgedehnte Bai, die im Südosten mit einem spitzigen Cap endigte, das Pencroff bei seiner ersten Umschau wegen zwischen liegender Hindernisse nicht hatte sehen können. Im Nordosten schlossen diese Bai zwei andere Landvorsprünge, zwischen denen eine schmale Bucht verlief, so daß das Ganze dem geöffneten Rachen eines ungeheuren Hals nicht unähnlich erschien.
Von Nordosten nach Nordwesten zu rundete sich die Küste ähnlich dem flachen Schädel eines wilden Thieres ab, und erhob sich nach innen zu einer Art Landrücken, dessen Mittelpunkt der Vulkanberg einnahm.
Von hier aus strich das Ufer ziemlich regelmäßig von Norden nach Süden, und war nur in zwei Drittheilen seiner Länge von einem engen Schlüpfhafen eingeschnitten, über den hinaus dasselbe mit einer schmalen Landzunge, ähnlich dem Schwanze eines riesigen Alligators, endigte.
Dieser Schwanz bildete eine wirkliche, gegen dreißig Meilen weit in's Meer vorspringende Halbinsel, welche von dem schon erwähnten südöstlichen Cap aus eine weit offene Rhede abschloß.
In ihrer geringsten Breite, d.h. zwischen den Kaminen und dem Schlüpfhafen an der nördlichen Küste, maß die Insel höchstens zehn Meilen in der Breite, wogegen ihre größte Länge, von dem Haifischrachen im Nordosten bis zur Schwanzspitze im Südwesten, nicht weniger als fünfzig Meilen betrug.
Das Innere des Landes selbst zeigte etwa folgenden Anblick: Bei reichlichem Waldbestände im Süden, von dem Vulkane aus bis zum Ufer hin, erschien es im Norden dagegen sandig und dürr. Cyrus Smith und seine Gefährten erstaunten nicht wenig, zwischen sich und der Ostküste einen See liegen zu sehen, von dem sie bis jetzt keine Ahnung gehabt hatten. Von dieser Höhe aus betrachtet, schien der See zwar in gleichem Niveau mit dem Meere zu liegen; nach einiger Ueberlegung erklärte der Ingenieur aber seinen Begleitern, daß jene Wasserfläche mindestens dreihundert Fuß über dem Meere liegen müsse, denn das Plateau, auf dem er sich befand, war nichts Anderes als eine Fortsetzung des Oberlandes der Küste.
»Das wäre demnach ein Süßwassersee? fragte Pencroff.
– Ganz gewiß, erwiderte der Ingenieur, denn er nährt sich von dem Wasser, das aus den Bergen abfließt.
– Ich sehe auch einen kleinen Fluß, der in denselben mündet, sagte Harbert, und wies nach einem schmalen Wasserlaufe, dessen Quell offenbar in den westlichen Vorbergen zu suchen war.
– Wirklich, bestätigte Cyrus Smith, und da dieser Bach dem See zufließt, ist es wahrscheinlich, daß das Wasser nach der Seite des Meeres hin auch einen Abfluß hat. Doch das werden wir bei unserer Rückkehr in Erfahrung bringen.«
Dieser kleine, sehr geschlängelte Wasserlauf und der schon bekannte Fluß bildeten das ganze hydrographische System, so weit es die Beobachter augenblicklich zu übersehen vermochten. Damit war die Möglichkeit jedoch nicht ausgeschlossen, daß unter den Bäumen, welche ja aus zwei Drittheilen der Insel einen ungeheuren Wald machten, noch verschiedene Bergflüßchen nach dem Meere verliefen. Bei der Fruchtbarkeit dieser Landstrecken und ihrem Reichthum an prächtigen Pflanzenexemplaren der gemäßigten Zonen wurde das sogar höchst wahrscheinlich. Die Nordseite dagegen zeigte keine Spur von Bewässerung, wenn man etwa einige Sümpfe im Nordosten abrechnete; mit ihren Dünen, Sandflächen und ihrer auffallenden Unfruchtbarkeit stand diese in grellem Widerspruche zu dem übrigen Erdbodenreichthum.
Den Mittelpunkt der Insel nahm der Vulkan übrigens nicht ein. Er erhob sich vielmehr im nordwestlichen Theile derselben, und bildete gleichsam die Grenze zweier Zonen.
Im Südwesten, Süden und Südosten von demselben versteckten sich die Kämme der Vorberge unter einer Decke von dichtem Grün. Nach Norden hin konnte man dieselben aber bis dahin verfolgen, wo sie sich in den sandigen Ebenen allmälig verliefen. Nach derselben Seite hin hatten sich in der Vorzeit auch die Eruptionsmassen gewendet, und ein breiter Lavastrom reichte bis zu jenem Haifischrachen, der den Golf im Nordosten bildete.
Eine Stunde über blieben Cyrus Smith und seine Freunde auf dem Gipfel des Berges. Unter ihren Augen breitete sich die Insel aus wie ein Reliefplan mit seinen verschiedenen Farben, dem Grün für die Waldung, dem Gelb für den Sand, und dem Blau für die Gewässer. So prägte sich ihnen ein Gesammtbild ein, dem freilich die Details des unter dem Grün verborgenen Erdbodens, der Sohlen der schattigen Thäler und des Inneren der engen zu Füßen des Vulkans verlaufenden Schluchten vorläufig abgingen.

Jetzt blieb noch eine wichtige Frage, welche für die Zukunft der Schiffbrüchigen von weitreichendem Einflusse erschien, zu entscheiden.
War die Insel bewohnt?
Der Reporter warf diese Frage auf, welche man nach der aufmerksamsten Betrachtung aller einzelnen Theile des Landes verneinen zu können glaubte.
Nirgends zeigte sich in der That eine Spur der Menschenhand, kein Dorf, keine einzelne Hütte, keine Fischerei-Anlage am Ufer. Auch wirbelte kein Rauch in die Luft empor, der die Anwesenheit von Menschen verrathen hätte. Freilich trennte die Beobachter ein Zwischenraum von wohl dreißig Meilen von den äußersten Punkten, d.h. der Schwanzspitze, welche sich nach Südwesten erstreckte, und selbst für Pencroff's Augen möchte es schwer gewesen sein, dabei eine menschliche Wohnung deutlich zu erkennen. Auch den grünen Vorhang, der fast drei Viertheile der Insel bedeckte, vermochte man ja nicht zu lüften, um zu entscheiden, ob er nicht irgendwo kleine Niederlassungen berge. Im Allgemeinen bevölkern indessen die Bewohner der im Stillen Oceane verstreuten Inseln und Eilande nur das Küstengebiet, welches hier vollständig verlassen erschien.
Bis auf Weiteres durfte man die Insel demnach für unbewohnt halten.
Wurde sie aber vielleicht zeitweilig von Eingeborenen benachbarter Inseln besucht? Diese Frage war schwer zu beantworten. In einem Umkreise von fünfzig Meilen konnte man kein Land wahrnehmen. Fünfzig Meilen können jedoch malayische Boote sowohl, als auch polynesische Piroguen mit Leichtigkeit zurücklegen. Alles hing also von der Lage der Insel, ihrer Isolirung im Pacifischen Oceane oder ihrer Annäherung an irgend einen Archipel desselben ab. Würde es nun Cyrus Smith gelingen, die geographische Lage derselben nach Länge und Breite ohne die sonst nöthigen Instrumente zu bestimmen? Wohl mußte das schwierig sein. Im Zweifelsfalle schien es also rathsam, von einem möglichen Ueberfalle durch Eingeborene nicht unvorbereitet betroffen zu werden.
Die Untersuchung der Insel war beendet, ihre Gestalt bestimmt, ihr Relief annähernd gemessen, ihre Ausdehnung berechnet und ihre Hydrographie und Orographie erkannt. Die Lage der Wälder und freien Flächen hatte der Reporter seinem Plane wenigstens im Groben eingezeichnet. Jetzte konnte man an das Herabsteigen denken, um den Boden unter dreifachem Gesichtspunkte, nämlich bezüglich seiner mineralischen, vegetabilischen und animalen Hilfsquellen, zu erforschen.
Bevor er aber das Zeichen zum Aufbruch gab, wendete sich Cyrus Smith mit seiner ruhigen und ernsten Stimme noch einmal an seine Gefährten: