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Sarcany konnte nicht anders, als die Aussage des Grafen Sandorf bestätigen. Er wußte nichts von einer Verschwörung. Er war vielleicht am meisten durch die Neuigkeit überrascht worden, daß in dieser friedlichen Wohnung am Acquedotto ein Complot gegen die Sicherheit des Staates geschmiedet wurde. Er hätte darum nicht gegen seine Verhaftung Verwahrung eingelegt, weil er anfangs gar nicht gewußt, um was es sich eigentlich handelte.
Weder Graf Sandorf noch ihm machte es viele Mühe, die Situation dahin klar zu stellen und wahrscheinlich hatte das Kriegsgericht auch bereits in dieser Richtung seinen Entschluß gefaßt. Denn die gegen Sarcany erhobene Anklage wurde auf Antrag des Berichterstatters alsbald fallen gelassen.
Gegen zwei Uhr Nachmittags waren die Verhandlungen beendet und nach sofort abgehaltener Berathung wurde das Urtheil verkündet.
Graf Mathias Sandorf, Graf Ladislaus Zathmar und Professor Bathory wurden wegen Hochverrathes gegen den Staat zum Tode verurtheilt.
Die Verurtheilten sollten auf dem Hofe der Festung selbst erschossen, das Urtheil innerhalb achtundvierzig Stunden vollzogen werden.
Sarcany wurde in der Hauptsache von der Anklage freigesprochen, er sollte indessen im Kerker verbleiben bis zur Einsammlung der Gefangenenliste, was erst nach vollzogener Execution geschehen konnte.
Derselbe Urtheilsspruch verkündete auch die Einziehung aller Besitzthümer der drei Angeklagten.
Man führte dann Sandorf, Zathmar und Bathory in das Gefängniß zurück.
Sarcany wurde in eine Zelle geführt, welche im Hintergrunde eines länglich runden Ganges in dem zweiten Stockwerke des Wartthurmes gelegen war. Graf Sandorf und seine beiden Freunde wurden während der letzten Stunden ihres Lebens in einer ziemlich geräumigen Zelle eingekerkert, welche in demselben Stockwerke und genau am äußersten Ende der längsten Axe der Ellipse lag, welche der Corridor bildete. Jetzt war die Einzelhaft aufgehoben, die Verurtheilten sollten bis zu ihrer Hinrichtung beisammen bleiben.
Diese Begünstigung wurde ihr Trost, ihre Freude, als sie wieder allein, als es ihnen unbenommen war, ihrer inneren Bewegung freien Lauf zu lassen. Hatten sie sich vor den Richtern standhaft gezeigt, so machte sich jetzt die Reaction bei ihnen geltend und hier öffneten sie, der lästigen Zeugen ledig, ihre Arme und drückten sich gegenseitig an die Brust.
»Freunde, sagte Graf Sandorf, ich bin es, der Euren Tod herbeiführt. Aber ich brauche Euch nicht um Verzeihung zu bitten, denn es handelte sich um die Unabhängigkeit Ungarns. Unsere Sache war eine gerechte. Sie zu vertheidigen, heischte die Pflicht. Es wird eine Ehre sein, für sie zu sterben!
– Mathias, antwortete Stephan Bathory, wir danken Dir im Gegentheil, daß Du uns zu Deinen Verbündeten bei diesem patriotischen Werke gemacht hast, welches die Arbeit Deines ganzen Lebens bildete.
– Wie wir auch im Tode noch Deine Genossen sein werden,« setzte Zathmar kaltblütig hinzu.
Dann während eines Augenblickes des Schweigens betrachteten alle Drei den düsteren Kerker, in dem sie die letzten Stunden ihres Daseins verbringen sollten. Ein schmales, in einer Höhe von vier bis fünf Fuß in die dicke Mauer des Thurmes eingelassenes Fenster erleuchtete ihn spärlich. Er war mit drei eisernen Bettstellen, einigen Stühlen, einem Tische und mehreren kleinen, an den Wänden befestigten Brettern ausgestattet, auf welchen sich verschiedene Gebrauchsgegenstände vorfanden.
Während Ladislaus Zathmar und Stephan Bathory sich ihrem Nachdenken überließen, schritt Graf Sandorf in der Zelle auf und ab.
Ladislaus Zathmar, der allein auf der Welt stand und keinen Familienanhang besaß, brauchte nicht Umschau zu halten. Sein alter Diener Borik war der Einzige, der ihm eine Thräne nachweinen konnte. Anders verhielt es sich mit Stephan Bathory. Sein Tod traf ihn nicht allein. Er hatte Frau und Kind, welche dieser Schicksalsschlag schwer traf. Diese ihm so theuren Wesen konnten den Tod davon haben. Und wenn sie ihn selbst überlebten, welch' eine Existenz erwartete sie! Welch' eine Zukunft stand der vermögenslosen Frau mit einem kaum acht Jahre alten Knaben bevor! Hätte Bathory auch Vermögen besessen, wäre es ihm nach diesem Urtheilsspruche noch geblieben, der die Confiscation ihres Vermögens zugleich mit ihrem Tode aussprach?
Dem Grafen Sandorf stand seine ganze Vergangenheit lebendig vor der Seele. Seine verstorbene Frau schwebte seinen Gedanken vor und sein kaum zwei Jahre altes Kind, das der Sorgfalt des Intendanten zur ferneren Erziehung nun ganz und gar überantwortet war. Er war es gewesen, der seine Freunde ins Verderben gestürzt hatte. Er fragte sich, ob er wohl richtig gehandelt hätte, ob er nicht weiter gegangen wäre, als ihm die Pflicht gegen das Vaterland vorschrieb, da die Strafe außer ihn selbst auch noch Unschuldige traf.
»Nein, nein! Ich habe nur meine Schuldigkeit gethan, wiederholte er sich des Oefteren. Das Vaterland vor Allem, über Alles!«
Um fünf Uhr Abends trat ein Wächter in die Zelle und stellte das Mittagbrod der Verurtheilten auf den Tisch; dann entfernte er sich wieder, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Mathias Sandorf hätte gern in Erfahrung gebracht, wo er sich befände, in welche Festung man ihn eingekerkert hätte. Hatte schon der Präsident des Kriegsgerichtes diese Frage nicht beantworten zu müssen geglaubt, so war es noch viel weniger anzunehmen, daß der Wächter, den sehr bestimmte Vorschriften banden, darauf antworten würde.
Die Verurtheilten berührten kaum das ihnen aufgetischte Essen. Sie verbrachten die übrigen Stunden des Tages mit dem Besprechen verschiedener Angelegenheiten und richteten sich an der Hoffnung wieder auf, daß die von ihnen veranlaßte Bewegung eines Tages wieder aufgenommen werden würde. Dann kamen sie zu wiederholten Malen auf die Zwischenfälle bei der Verhandlung zurück.
»Wir wissen jetzt wenigstens, warum wir verhaftet wurden und daß die Polizei durch jenen Brief Alles entdeckt hat, von dem sie Kenntniß bekam.
– Ja, zweifellos, Ladislaus, antwortete Graf Sandorf, aber in wessen Hände ist dieses Billet, welches eines der letzten war, die wir bekommen hatten, zuerst gefallen und von wem konnte die Abschrift desselben herrühren?
– Und, setzte Bathory hinzu, wie ist es möglich gewesen, es ohne Gitter zu entziffern?
– Das Gitter muß uns also entwendet worden sein, und wäre es auch nur für einen Augenblick gewesen, sagte Sandorf.
– Gestohlen! Aber von wem? antwortete Ladislaus Zathmar. Am Tage unserer Verhaftung befand es sich noch im Schreibtische in meinem Zimmer, wo es dann auch von den Beamten gefunden worden ist.«
Man stand vor einem wirklichen Räthsel. Daß das Billet am Halse der es tragenden Taube gefunden und copirt worden war, ehe es seinem Empfänger ins Haus geschickt wurde, daß man das Haus entdeckte, wo dieser Adressat wohnte, das konnte und mußte schließlich als erwiesen angenommen werden. Daß aber die Geheimschrift ohne das Instrument, welches zu ihrer Bildung erforderlich gewesen war, entziffert werden konnte, war unbegreiflich.
»Und trotzdem, begann Graf Sandorf von Neuem, ist das Billet, wie wir als ganz bestimmt annehmen können, nur mit Hilfe des Schlüssels gelesen worden. Dieser Brief hat die Polizei auf die Spur der Verschwörung gebracht und auf ihm allein hat die ganze Anklage beruht.
– Nach dem, was geschehen, ist das »Wie« jetzt ganz gleichgiltig, antwortete Stephan Bathory.
– Im Gegentheil, rief Sandorf, es ist sehr wichtig. Vielleicht sind wir verrathen worden! Und wenn ein Verräther lebt... man kann nicht wissen...«
Graf Sandorf hielt inne. Der Name Sarcany's drängte sich plötzlich seinem Geiste auf; aber er warf den Gedanken wieder weit von sich und wollte ihn nicht einmal den Genossen mittheilen.
Mathias Sandorf und seine beiden Freunde fuhren fort, über das Unerklärliche bei ihrer Verhaftung und Verurtheilung zu sprechen, bis die Nacht hereinbrach.
Am nächsten Morgen wurden sie durch den Eintritt des Wächters aus ihrem tiefen Schlummer geweckt. Ihr vorletzter Tag brach an. Vierundzwanzig Stunden später sollte die Hinrichtung stattfinden.
Stephan Bathory fragte den Mann, ob es ihm gestattet sein würde, seine Familie noch einmal bei sich zu sehen.
Der Wächter antwortete, daß er in dieser Richtung keine Verhaltungsmaßregeln empfangen hätte. Es war übrigens nicht sehr wahrscheinlich, daß die Regierung den Verurtheilten diesen letzten Trost gewähren würde, weil die Angelegenheit bis zum Tage des Urtheils ganz geheim behandelt und der Name der Festung, welche den Verbrechern als Gefängniß diente, nicht einmal genannt worden war.
»Können wir nicht wenigstens schreiben und werden unsere Briefe ihre Bestimmungsorte erreichen? fragte Graf Sandorf.
– Ich will Ihnen Papier, Feder und Tinte zur Verfügung stellen, antwortete der Wächter, und ich verspreche Ihnen, Ihre Briefe in die Hände des Gouverneurs zu legen.
– Wir danken Ihnen, mein Freund, sagte der Graf, weil Sie Alles für uns thun, so weit Sie es können. Was unsere Erkenntlichkeit anbelangt, so....
– Ihr Dank genügt mir, meine Herren,« antwortete der Wächter, der seine Rührung nicht verbergen konnte.
Der brave Mann zögerte nicht, das Gewünschte herbeizubringen und die Verurtheilten brachten einen Theil des Tages damit zu, ihre letztwilligen Verfügungen zu treffen. Graf Sandorf ertheilte mit dem Herzen eines besorgten Vaters seinem Töchterchen, das nun eine Waise wurde, seine Rathschläge; Stephan Bathory legte die volle Liebe des Gatten und Vaters in dem Lebewohl nieder, welches er seiner Frau und seinem Knaben übersandte; Ladislaus Zathmar schrieb, was nur ein Herr seinem alten Diener und einzigen Freunde schreiben kann.
Aber so in Anspruch genommen sie auch von ihrer Arbeit waren, so unzählige Male horchten sie dennoch im Verlaufe des Tages auf jedes ferne Geräusch, welches durch den Flur des Wartthurmes schallte. Wie oft schien sich ihnen die Thüre der Zelle öffnen zu wollen und es ihnen gestattet zu sein, ihre Frau, ihren Knaben, ihr Mädchen noch einmal umarmen zu dürfen. Das wäre wenigstens ein Trost gewesen! Vielleicht war es aber trotzdem besser, daß ein erbarmungsloser Befehl sie dieses letzten Lebewohles beraubte und ihnen dadurch eine herzzerreißende Scene ersparte.
Die Thüre öffnete sich nicht. Zweifellos wußten weder Frau Bathory und ihr Sohn, noch der Intendant Landeck, dem des Grafen Sandorf kleines Töchterchen anvertraut war, wohin die Gefangenen nach ihrer Verhaftung gebracht worden waren; eben so wenig konnte es Borik wissen, der noch immer im Triester Gefängnisse saß. Es war auch kaum anzunehmen, daß sie Alle bereits wußten, welches Los die Führer der Verschwörung getroffen hatte. Die Verurtheilten sollten Jene also vor der Vollziehung des Urtheilsspruches nicht mehr zu sehen bekommen.
In dieser Weise vergingen die ersten Stunden des Tages. Mehrfach plauderte Graf Sandorf mit den Freunden, eben so oft aber auch saß Jeder für sich in tiefes Nachdenken versunken da. In solchen Augenblicken drückt sich im Gedächtnisse die ganze Vergangenheit mit einer fast übernatürlichen Deutlichkeit ab.
Man scheint sich nicht in das Gewesene zu versenken, die Erinnerung nimmt die Gestalt der Gegenwart an. Ist das bereits eine Ahnung der Ewigkeit, die sich uns erschließen will, dieses unfaßlichen und unermeßlichen Zustandes aller Dinge, der sich die Unendlichkeit nennt?
Während Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar sich rückhaltslos ihren Erinnerungen hingaben, wurde Mathias Sandorf unablässig von einem ihn ganz beherrschenden Gedanken bewegt. Er zweifelte nicht mehr an das Vorhandensein eines Verrathes an ihrer Sache. Für einen Mann seines Charakters aber war ein Sterben, ohne an dem Verräther Vergeltung geübt zu haben, wer immer es auch gewesen war und trotzdem er ihn nicht kannte, ein zweifacher Tod. Wer konnte es gewesen sein, der das Billet, dem die Polizei die Entdeckung der Verschwörer und deren Verhaftung verdankte, aufgefangen, gelesen, ausgeliefert, vielleicht auch verkauft hatte?... Gegenüber diesem unlöslich scheinenden Probleme wurde das überangestrengte Gehirn des Grafen fast eine Beute des Fiebers.
Er ging, während die Freunde schrieben oder stumm und unbeweglich dasaßen, unruhig, aufgeregt an den Mauern der Zelle entlang, wie ein der Freiheit beraubtes edles Thier.
Eine merkwürdige Erscheinung, die aber vollständig durch die Gesetze der Akustik zu erklären war, sollte ihm endlich das langgesuchte Geheimniß aufdecken, auf dessen Offenbarung er kaum noch zu hoffen gewagt hatte.
Schon einige Male hatte Graf Sandorf nahe dem Winkel auf seiner Wanderung Halt gemacht, welchen die innere Scheidewand mit der äußeren Mauer des Corridors bildete, auf den sich die verschiedenen in diesem Stockwerk gelegenen Zellen des Thurmes öffneten. In dieser Ecke, dicht neben der Thür glaubte er ein, noch wenig faßbares Gemurmel entfernter Stimmen zu vernehmen. Zuerst schenkte er der Beobachtung wenig Aufmerksamkeit, aber plötzlich ließ ihn das Aussprechen eines Namens, des seinigen, schärfer hinhorchen.
Hier spielte sich anscheinend ein akustisches Phänomen ab, ähnlich demjenigen, welches man im Inneren der Gallerien von Kirchen oder unter Wölbungen ellipsoidaler Form beobachten kann. Der Schall der Stimme ist, nachdem er den Contouren der Mauern gefolgt, von der einen Seite der Ellipse auf einen anderen Raum übergegangen, ohne von irgend einem dazwischen liegenden Punkte aufgehalten worden zu sein. Man findet diese Erscheinung in der Krypta des Pantheons in Paris, im Inneren der Kuppel von Sanct Peter in Rom; ebenfalls in der »whispering gallery«, der »tönenden Gallerie« von Sanct Paul in London. Unter den gegebenen Bedingungen wird selbst das kleinste und mit leisester Stimme gesprochene Wort deutlich im gegenüberliegenden Raume hörbar.
Es war zweifellos, daß sich zwei oder mehrere Personen, sei es auf dem Flur selbst, sei es in einer am äußersten Ende seines Durchmessers gelegenen Zelle unterhielten und daß der Brennpunkt sich nahe der Thür der von Mathias Sandorf bewohnten Zelle befand.
Ein Zeichen von ihm brachte seine Freunde in seine Nähe. Sie horchten mit aufmerksam gespannten Sinnen.
Es schlugen deutlich Bruchstücke von Redewendungen an ihr Ohr, zusammenhanglose Sätze, je nachdem sich die Sprecher, selbst unmerklich, von dem Punkte entfernten, dessen Lage die Erzeugung des Phänomens ermöglichte.
Sie hörten in Absätzen folgende Unterhaltung:
»Morgen nach der Execution werden Sie in Freiheit gesetzt...«
»Und dann werden die Güter des Grafen Sandorf zu gleichen Theilen...«

»Unsere drei Köpfe gehören Ihnen,« sagte Graf Sandorf.
»Ohne meine Hilfe hätten Sie das Billet vielleicht nicht entziffern können...«
»Und wenn ich es nicht vom Halse der Taube genommen hätte, würden Sie es nie in die Hände bekommen haben...«
»Jedenfalls kann uns Niemand verdächtigen, daß es uns die Polizei zu danken hat...«
»Und wenn selbst die Verurtheilten jetzt einen Verdacht hegen...«
»Weder Verwandte noch Freunde, Niemand wird bis zu ihnen dringen...«
»Auf morgen, Sarcany...
– Auf morgen, Silas Toronthal...«
Die Stimmen schienen sich zu entfernen und bald hörte man eine Thür sich schließen.
»Sarcany und Silas Toronthal, sie, also sie sind es!« rief Graf Sandorf.
Er war bleich geworden und blickte seine Freunde an. Unter einem krampfartigen Zusammenziehen hatte einen Augenblick hindurch sein Herz zu schlagen aufgehört. Seine Pupillen hatten sich erschreckend erweitert, sein Hals sich geröthet, sein Kopf schien in die Schultern gesunken zu sein, Alles zeigte den furchtbaren, bis an die äußersten Grenzen der Möglichkeit getriebenen Zorn an, der ihn durchbebte.
»Sie, sie, diese Elenden!« wiederholte er, fast schreiend.
Endlich kehrte ihm die Besonnenheit zurück, er blickte um sich und durchmaß den Raum mit hastigen Schritten.
»Fliehen! rief er, wir müssen fliehen!«
Und dieser Mann, der einige Stunden später muthig in den Tod gehen wollte, dieser Mann, der nicht einmal daran gedacht hatte, um sein Leben zu kämpfen, derselbe Mann hatte jetzt nur einen Gedanken: zu leben, um diese beiden Verräther, Toronthal und Sarcany, züchtigen zu können.
»Ja, wir müssen uns rächen! riefen jetzt auch Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar.
– Uns rächen? Nein! Wir wollen Gerechtigkeit üben!«
Der ganze Charakter des Grafen Sandorf spiegelte sich in diesen Worten ab.
Sechstes Capitel. Der Wartthurm von Pisino.
Die Festung von Pisino gehört mit zu den wunderlichsten Bauten mittelalterlicher Festungsarchitektur. Sie macht sich mit ihrem feudalen Aussehen sehr malerisch. Es fehlen in ihren langen, gewölbten Hallen nur die Ritter, Schloßfrauen, mit langen, gestickten Gewändern und Spitzenhauben angethan an den Spitzbogenfenstern, Bogen- oder Armbrustschützen auf den ausgezackten Mauerkränzen, an den Schießscharten ihrer Gallerien, an dem Schutzgatter der Fallbrücken. Das Steinwerk steht noch unbeschädigt da, aber der Gouverneur in seiner österreichischen Uniform, die Soldaten in ihrem neuzeitigen Anzuge, die Wächter und Thorhüter, sie zeigen nichts mehr von dem halb gelben und rothen Kostüm der alten Zeit und bringen einen Mißton in diese prächtigen Ueberreste aus einem verflossenen Zeitalter.
Von dem Wartthurme dieser Festung aus beabsichtigte Graf Sandorf während der letzten Stunden vor seiner Hinrichtung zu entfliehen. Ein unsinniger Versuch, da die Gefangenen nicht einmal wußten, wie der Thurm, der ihnen als Gefängniß diente, beschaffen war, da sie ferner das Land nicht kannten, welches sie nach vollführter Flucht durchkreuzen mußten.
Vielleicht war es gut, daß ihr Wissen in dieser Beziehung gleich Null war. Wären sie besser unterrichtet gewesen, so würden sie wahrscheinlich vor den Schwierigkeiten, besser gesagt vor der Unmöglichkeit eines solchen Unternehmens zurückgebebt sein.
Nicht etwa, weil die Provinz Istrien ungünstige Aussichten auf ein Entkommen bietet, da Flüchtlinge, gleichviel, welche Richtung sie einschlagen würden, in wenigen Stunden stets irgend einen Punkt des Ufers erreichen müssen. Nicht etwa, weil vielleicht die Straßen Pisinos so streng bewacht werden, daß man darauf gefaßt sein muß, nach dem ersten Schritt, den man in ihnen thut, schon wieder ergriffen zu werden. Aber bis dahin war ein Entweichen aus dieser Festung, und besonders aus diesem, von den Gefangenen bewohnten Thurme für eine vollständige Unmöglichkeit gehalten worden. Ein derartiger Gedanke selbst konnte Einem kaum kommen.
Die Lage und die äußere Gestaltung des Wartthurmes der Festung Pisino waren, wie folgt beschaffen.
Der Thurm erhebt sich auf derjenigen Seite der Anhöhe, welche an dieser Stelle der Stadt plötzlich ein Ende macht. Wenn man sich über die Brustwehr dieser Terrasse lehnt, so taucht der Blick in einen breiten und tiefen Schlund, dessen steile Wände von langarmigen Schlingpflanzen in unentwirrbarem Gemisch umkränzt werden und schnurgerade in die Tiefe gehen. Nichts unterbricht ihre glatte Fläche. Keine Stufe zeigt sich, mit deren Hilfe man hinauf- oder herunterklettern, nirgends eine Handhabe, auf die man sich stützen könnte. Nur die in willkürlicher Ordnung sich gebenden, glatten, ausgebleichten, unbestimmten Streifen sieht man, welche die schräge Spaltung der Felsen andeuten. Wir haben mit einem Worte einen Abgrund vor uns, der unseren Blick anzieht, fesselt und welcher von dem, was da hinein geworfen wird, gewiß nichts wieder herausgibt.
Oberhalb dieses Abgrundes steigt eine der Seitenwände des Thurmes auf, hie und da ist sie von Fenstern durchbrochen, die den Zellen in den verschiedenen Stockwerken das Licht zuführen. Wenn ein Gefangener sich aus einer dieser Oeffnungen herausgebeugt hätte, so würde er jedenfalls vor Schreck zurückgeprallt sein, wenn ihn nicht ein plötzlicher Schwindel schon zuvor in den Abgrund gerissen haben würde. Und wohin wäre er wohl gerathen, wenn er hinuntergefallen sein würde? Entweder wäre sein Körper auf den am Boden des Abgrundes befindlichen Felsen zerschmettert oder von einem Gießbache fortgeschwemmt worden, dessen Fluth zur Zeit des Wasserganges von den Bergen von einer unwiderstehlichen Kraft ist.
Dieser Abgrund wird dort zu Lande der Buco genannt. Er dient als Recipient für die Wasserfülle eines Baches, der die Foïba geheißen wird. Dieser Bach fließt nur durch eine Höhle ab, die sich allmählich durch die Felsen Bahn gebrochen hat und in sie hinein ergießt er sich mit dem Ungestüme eines Stromes oder einer Springfluth. Wohin geht unter der Stadt fort sein Lauf? Man weiß es nicht. Wo erscheint er wieder? Auch das weiß man nicht. Man kennt von dieser Höhle oder vielmehr von diesem Canale, der sich durch den Schiefer und den Thon seinen Weg gebohrt hat, weder Länge noch Höhe, noch seine Richtung. Wer vermag zu sagen, ob die Gewässer sich nicht an hunderten von Vorsprüngen, an einem Walde von Pfeilern brechen, die als ungeheurer Unterbau Stadt und Festung vollständig tragen. Als einst ein nicht zu hoher und nicht zu niedriger Wasserstand die Benützung eines leichten Bootes gestattete, hatten schon einmal kühne Forscher versucht, den Lauf der Foïba durch diesen dunklen Schlund zu verfolgen; aber das Niedrigerwerden der Wölbungen hatte ihnen bald ein unüberwindliches Hinderniß entgegengestellt. Man wußte eben von der Beschaffenheit dieses unterirdischen Flußlaufes nichts. Vielleicht verlor er sich in irgend einer unsichtbaren Stelle, die sich unterhalb des Niveaus des Adriatischen Meeres gebildet hatte.
So beschaffen also zeigte sich der Buco, von dessen Vorhandensein Graf Sandorf überhaupt keine Ahnung hatte. Da eine Flucht nur durch das einzige Fenster der Zelle, welches sich über dem Buco öffnete, möglich war, so bedeutete diese für ihn einen eben so gewissen Tod, als wenn er sich vor die Front eines Executionspelotons gestellt hätte.
Ladislaus Zathmar und Stephan Bathory warteten nur noch auf den Augenblick des Handelns; sie waren, wenn es sein mußte, bereit, zu bleiben, um dem Grafen Sandorf durch ihre Aufopferung zu Hilfe zu kommen, und eben so entschlossen, ihm zu folgen, wenn ihre Flucht nicht die seinige vereiteln konnte.
»Wir fliehen zusammen, sagte Mathias Sandorf, trennen uns aber, sobald wir draußen angelangt sind.«
Von der Stadt herauf tönte das Schlagen der achten Stunde. Den Verurtheilten blieben also nur noch zwölf Stunden zum Leben.
Die Nacht begann herniederzusinken, allem Anscheine nach blieb sie eine dunkle. Dicke, fast unbeweglich erscheinende Wolken zogen sich schwerfällig am Himmel zusammen. Die schwüle, erstickende Luft schien mit Elektricität durchsättigt, ein heftiges Ungewitter war im Anzuge. Noch zuckten keine Blitze aus diesen, wie Accumulatoren des elektrischen Stromes aufgestellten Dunstmassen, aber schon lief ein dumpfes Grollen an der Gebirgskette entlang, die Pisino einschließt.
Eine unter diesen Verhältnissen ausgeführte Flucht hätte zweifellos einige günstige Aussichten gehabt, wenn sich eben nicht jener unbekannte Abgrund unter den Füßen der Flüchtigen befunden haben würde. In der stockdunklen Nacht war er nicht zu sehen, beim Tosen des Gewitters war von ihm nichts zu hören.
Wie Graf Sandorf von vornherein eingesehen hatte, war die Flucht nur durch das Fenster der Zelle möglich. An ein Dringen durch die Thür, an ein Eindrücken ihrer starken, eichenen, mit eisernen Beschlägen versehenen Bohlen konnte nicht gedacht werden. Der Schritt einer Schildwache hallte auch von den Fliesen des Corridors wider. Und wenn man auch schon die Thür glücklich hinter sich gehabt hätte, so würde man sich durch das Labyrinth im Innern der Festung doch nicht hinausgefunden haben. Und wie hätte man durch das Schutzgatter und über die Zugbrücke kommen sollen, die doch gewiß von Soldaten scharf bewacht wurden? Auf der Seite des Buco gab es allerdings keinen Posten. Aber der Buco vertheidigte diese Seite des Wartthurmes besser, als es ein Ring von Soldaten gethan hätte.
Graf Sandorf beschäftigte sich also lediglich damit, zu untersuchen, ob das Fenster ihnen Durchlaß gewähren würde.
Dieses maß ungefähr drei und einen halben Fuß in der Höhe und zwei Fuß in der Breite. Es erweiterte sich auf der Außenseite der Mauer, die an dieser Stelle an vier Fuß stark sein mochte. Ein eiserner, solide gearbeiteter Querbalken verriegelte es. Er war in die Wand, nahe ihrer inneren Fläche eingelassen. Ein hölzerner Blendkasten, der das Licht nur von oben hereindringen läßt, fehlte hier. Dieser wäre deshalb nutzlos angebracht gewesen, weil die Oeffnung so geartet war, daß der Blick nicht in die Schlucht des Buco dringen konnte. Wenn man es also durchsetzte, diesen Querbalken auszureißen, oder fortzubringen, so war es leicht, durch das Fenster zu schlüpfen, welches mehr einer in die Mauer einer Festung eingelassenen Schießscharte, als einem solchen glich. Wie aber sollte sich weiter das Herunterklettern an der steilen äußeren Mauer gestalten, wenn der Durchgang durch das Fenster erzwungen war? Mittelst einer Strickleiter? Die Gefangenen besaßen keine und hatten auch keine Gelegenheit gehabt, sich eine solche herzustellen. Mit Benützung der Betttücher? Sie hatten als Unterlagen nur dicke, wollene Decken, welche über Matratzen ausgebreitet waren; diese wiederum lagen auf eisernen Gestellen, die an der Wand der Zelle befestigt waren. Es wäre also trotzdem eine Unmöglichkeit gewesen, durch das Fenster zu entkommen, wenn Graf Sandorf nicht bereits eine eiserne Kette oder vielmehr ein eisernes Kabel entdeckt hätte, das an der Außenwand des Thurmes herabhing und das Ausbrechen erleichtern konnte.