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Die Flüchtlinge wurden mit rasender Schnelligkeit davongeführt, welcher Umstand es ihnen leichter machte, sich auf der Oberfläche des Wassers zu halten. Stephan Bathory war vollständig bewußtlos und in den Händen Sandorf's nur ein unthätiger Körper. Dieser mühte sich für Beide ab, aber er fühlte, daß seine Kräfte nachließen. Der Gefahr, gegen einen Felsenvorsprung an den Seitenwänden der Höhle oder an die herabhängenden Wölbungen geschleudert zu werden, gesellte sich eine noch größere hinzu: in einen der zahlreichen Trichter gezogen zu werden, welche das Kielwasser dort bildete, wo ein jähes Abprallen von der Wand die regelmäßige Strömung brach und einengte. Wohl zwanzig Male fühlte sich Graf Sandorf mit seinem Gefährten von diesen flüssigen Saugrüsseln ergriffen, die ihn mit maëlstromartiger Gewalt an sich zogen. In den Mittelpunkt einer kreisförmigen Bewegung verflochten, dann zurückgeworfen an die Peripherie des Wirbels, wie der Stein im Zipfel einer Schleuder, kamen sie gerade aus der Drehung, wenn der Strudel sich brach.
Eine halbe Stunde dauerte dieser Kampf mit dem in jeder Minute, ja in jeder Secunde nahen Tode. Mathias Sandorf, mit einer fast übermenschlichen Willensstärke begabt, war noch nicht mit seiner Kraft zu Ende. Fast pries er sich glücklich, daß Bathory ohnmächtig war. Wenn dieser jetzt den Instinct der Selbsterhaltung gefühlt hätte, würde er sich gesträubt haben. Es würde einen Kampf gekostet haben, um ihn wieder willenlos zu machen. Graf Sandorf hätte ihn entweder verlassen müssen, oder sie wären Beide untergesunken.
Die jetzige Lage durfte aber nicht mehr lange andauern. Die Kräfte von Mathias Sandorf begannen fühlbar nachzulassen. Oftmals tauchte sein Kopf in die Wassermasse, während er sich bemühte, denjenigen Stephan's über Wasser zu halten. Der Athem ging ihm plötzlich aus. Er tauchte, glaubte zu ersticken und hatte gegen einen Anfall von Leblosigkeit anzukämpfen. Mehrfach mußte er sogar den Genossen fahren lassen, dessen Kopf dann sofort verschwand; doch stets gelang es ihm noch, ihn wieder zu ergreifen, und Alles das vollzog sich inmitten einer Strömung, die, an manchen schmalen Punkten ihres Bettes zusammengepreßt, mit einem furchtbaren Getöse zerschellte.
Bald fühlte sich Graf Sandorf verloren. Der Körper Stephan Bathory's entschlüpfte ihm vollends Mit einer letzten Anstrengung versuchte er desselben wieder habhaft zu werden. Er fand ihn nicht mehr und sank nunmehr selbst in dem Wasserschwall des Stromes unter.
Ein heftiger Stoß erschütterte plötzlich seine Schulter. Er streckte instinctiv die Hand aus. Seine Finger schlossen sich um ein Büschel Wurzeln, die in das Wasser hineinhingen. Sie gehörten zu einem Baumstamme, den die Strömung mitgeführt hatte. Mathias Sandorf klammerte sich mit allen Kräften an dieses gestrandete Stück und gelangte wieder an die Oberfläche der Foïba. Während er sich mit der einen Hand an dem Wurzelbusch festhielt, sachte er mit der anderen nach dem Gefährten.
Einige Augenblicke später wurde Stephan Bathory am Arm gepackt und nach einigen mühevollen Versuchen auf den Baumast gezogen, wo jetzt auch Mathias Sandorf Platz nahm. Beide waren für den Augenblick vor der Gefahr des Ertrinkens bewahrt, aber mit dem Schicksale dieses Baumrestes verknüpft, der dem Muthwillen der Stromschnellen im Buco unterworfen war.
Graf Sandorf hatte auf kurze Zeit das Bewußtsein verloren. Seine erste Sorge nach dem Wiedererwachen war, das Heruntergleiten Stephan Bathory's vom Baumstumpfe zu verhüten. Im Uebermaße der Vorsicht schob er sich noch hinter diesen, so daß er ihn erforderlichen Falles stützen konnte. Seine Stellung ermöglichte es ihm nun, nach vorn zu blicken. Sollte vielleicht ein Schimmer des Tageslichtes in die Höhle dringen, so konnte er ihn sofort bemerken und den Zustand des Wassers auf seinem Laufe stromabwärts beobachten. Aber nichts verrieth, daß man sich nahe einem Ausgange aus diesem räthselhaften Canale befand.
Die Lage der Flüchtlinge war jetzt eine ungleich bessere. Der Baumstamm war wohl an zwölf Fuß lang und seine von dem Wasser getragenen Wurzeln setzten jedem plötzlich sich zeigenden Hindernisse einen Widerstand entgegen. Trotz der Unebenheit auf dem Grunde der Strömung schien ihre Festigkeit den heftigsten Stößen wenigstens gewachsen. Ihre Schnelligkeit konnte wohl auf wenigstens drei Meilen in der Stunde geschätzt werden und war derjenigen der Strömung gleich, die sie mitführte.
Mathias Sandorf hatte seine ganze Kaltblütigkeit wieder gefunden. Er versuchte deshalb, seinen Gefährten, dessen Kopf auf seinen Knien ruhte, wieder ins Leben zurück zu rufen. Er überzeugte sich, daß sein Herz noch immer schlug, doch athmete er kaum. Er beugte sich über seinen Mund, um den Lungen etwas Luft zuzuführen. Vielleicht hatten diese ersten Anzeichen von Scheintod in seinem Organismus noch keine unheilbaren Störungen hervorgerufen.
Stephan Bathory bewegte sich bald darauf ein wenig. Ein ausgeprägteres Athmen entfuhr den Lippen; endlich drangen auch einige Worte aus seinem Munde:
»Meine Frau!... Mein Sohn!... Mathias!«
In diesen Worten war der ganze Werth, den sein Leben für ihn hatte, enthalten.
»Hörst Du mich, Stephan? Hörst Du mich? fragte Graf Sandorf, der schreien mußte, um sich in dem Gebrüll, welches die Strömung in den Wölbungen des Buco verursachte, verständlich zu machen.
– Ja... Ja!... Ich höre Dich!... Sprich!... Sprich!... Deine Hand in die meine!
– Wir befinden uns nicht mehr in unmittelbarer Gefahr, Stephan, erwiderte Graf Sandorf. Ein Baum trägt uns. Wohin? Ich kann es nicht sagen, jedenfalls soll er uns nicht entschlüpfen.
– Und der Thurm, Mathias?
– Wir sind von ihm schon weit entfernt. Man wird glauben, wir hätten den Tod in den Fluthen dieser Höhle gefunden, man wird nicht daran denken, uns zu verfolgen. Wohin sich diese Strömung auch ergießen wird, sei es in das Meer oder in einen Fluß, wir werden ebenfalls dahingelangen, und zwar lebend. Lasse nicht den Muth sinken, Stephan! Ich wache über Dich! Ruhe noch aus und sammle wieder Kräfte, die Du bald gebrauchen wirst. In einigen Stunden werden wir gerettet sein! Wir werden frei sein!
– Und Ladislaus?« murmelte Stephan Bathory.
Mathias Sandorf antwortete nicht. Was hätte er auf diese Frage auch erwidern können? Ladislaus Zathmar hatte man die Möglichkeit genommen, entfliehen zu können, nachdem es ihm noch gelungen war, den Warnruf zum Fenster hinaus zu schreien. Jetzt, wo er gewiß nicht unbeobachtet gelassen wurde, konnten seine Freunde nichts für ihn thun.
Stephan Bathory hatte inzwischen wieder den Kopf zurücksinken lassen. Die körperliche Willensstärke ging ihm noch ab, um mit ihrer Hilfe die Lähmung zu überwinden. Doch Mathias Sandorf wachte über ihn, zu Allem bereit, selbst entschlossen, den Baum zu verlassen, wenn er an einem der Hindernisse zerschellte, an denen er in Folge der vollständigen Finsterniß nicht glatt vorüberkommen konnte.
Es war gegen zwei Uhr Morgens, als die Schnelligkeit des Stromes, folglich auch diejenige des Baumstammes, fühlbar nachließ. Der Canal verbreiterte sich jedenfalls und die Fluth, die nun einen freieren Pfad zwischen den Felswänden fand, nahm einen gemäßigteren Lauf an. Man konnte aus diesem Umstande auch den Schluß ziehen, daß der Ausgang aus dieser unterirdischen Höhle nicht mehr sehr entfernt sein konnte.
Während aber die Seitenwände auseinander strebten, zeigte die Wölbung die Neigung, sich zu senken. Graf Sandorf konnte, wenn er die Hand hoch hielt, die unregelmäßigen Schieferbildungen abbrechen, welche oberhalb seines Kopfes herabstrebten. Ab und zu hörte er auch ein von Reibungen herstammendes Geräusch; es rührte von irgend einer Wurzel des Baumes her, die sich nach oben gedreht hatte und mit ihrem Ende die Wölbung streifte. In Folge dessen erhielt der Baumstamm heftige Stöße, er prallte zurück und seine Schnelligkeit verminderte sich. Von rückwärts erfaßt und um sich selbst rollend, wurde er so umher gewirbelt, daß die Flüchtigen fürchten konnten, von ihm getrennt zu werden.
Nachdem diese Gefahr, die sich wiederholt gezeigt hatte, als beseitigt betrachtet werden konnte, blieb eine andere noch, deren Folgen der Graf kaltblütig zog: es war diejenige, welche aus dem beständigen Niedrigerwerden der Decke des Buco entstehen konnte. Er hatte sich ihr bereits nur dadurch entziehen gekonnt, daß er sich schnell nach hinten überbeugte, sobald seine Hand einen Felsenvorsprung berührte. Würde es für die Folge nothwendig sein, daß er untertauchte? Er konnte sich schlimmsten Falles auch dann noch festhalten, aber wie sollte er es durchsetzen, seinen Gefährten auf der Achsel weiter zu tragen? Und wenn nun gar der unterirdische Canal auf eine lange Strecke hin sich so verengte, wie würde es dann möglich sein, ihn lebend zu verlassen? Nein, das hätte für den Grafen zweifellos einen endgiltigen Tod bedeutet, nachdem dieser bis dahin den verschiedensten Todesarten glücklich entkommen war.
So energisch Mathias Sandorf auch war, so fühlte er jetzt doch, daß die Angst ihm das Herz zusammenpreßte. Er sah ein, daß der letzte Augenblick nahe war. Die Wurzeln des Baumes rieben sich immer stärker an den Felsen der Höhle und in manchen Augenblicken tauchte ihr oberer Theil so tief unter, daß die sich überstürzenden Wasser ihn vollständig bedeckten.
»Der Ausgang aus dieser Höhle kann indessen jetzt unmöglich noch weit entfernt sein,« sagte Mathias Sandorf zu sich selbst.
Und er versuchte immer wieder zu erforschen, ob nicht irgend ein flüchtiger Schein das Dunkel vor ihm erhellte. Die Nacht mußte um diese Stunde doch schon so weit vorgeschritten sein, daß die Finsterniß draußen nicht mehr undurchdringlich war. Vielleicht erleuchteten auch noch die Blitze den Raum, der sich jenseits des Buco befand? Allein in diesem Falle wäre gewiß etwas Licht in den Canal gedrungen, der für den Abfluß der Foïba nicht mehr ausreichend zu sein drohte.
Nichts von alledem! Stets dieselbe Dunkelheit, dasselbe Gebrüll der Wogen, deren Gischt selbst schwarz blieb.

Stephan Bathory wurde am Arm gepackt.
Plötzlich ein heftiger Stoß! Der Baumstumpf war mit seinem vorderen Ende an ein mächtiges Felsstück der Wölbung, welches in das Wasser hineinragte, angelaufen. Diese Erschütterung machte ihn sich vollständig überschlagen. Aber Sandorf ließ ihn nicht los. Seine eine Hand klammerte sich verzweiflungsvoll an die Wurzeln, mit der anderen ergriff er gerade noch Bathory, als dieser fortgespült wurde. Dann ließ er sich mit ihm in die Wassermasse hineinziehen, welche sich an der Wölbung brach.
Dieser Vorgang dauerte fast eine Minute. Mathias Sandorf hatte das Gefühl, daß er verloren war. Er hielt unbewußt seinen Athem zurück, um sich das Bischen Luft, das noch in seiner Brust haftete, zu erhalten.
Inmitten der flüssigen Masse empfand er plötzlich, trotzdem seine Augenlider geschlossen waren, den Eindruck eines ziemlich bedeutenden Lichtschimmers Ein Blitz war soeben niedergezüngelt, ihm folgte unmittelbar das Krachen des Donners.
Endlich Licht!
Die Foïba war in der That aus dem unterirdischen Canale herausgetreten; ihr fernerer Lauf führte unter freiem Himmel dahin. Welchem Ufer sie zustrebte, in welches Meer sie mündete, das war eine noch immer ungelöste Frage, eine Frage um Tod und Leben.
Der Baumstamm war wieder an die Oberfläche des Wassers gekommen. Stephan Bathory wurde noch immer von Mathias Sandorf gehalten, der mit einem kräftigen Ruck ihn wieder vor sich auf den Baum hob und seinen Platz wieder hinter ihm einnahm.

Der Fluß lief zwischen zwei hohen Strebemauern dahin.
Dann blickte er nach vorn, um und über sich.
Eine dunkle Masse schien stromaufwärts herauf zu dräuen. Es war der ungeheure Felsen des Buco, in welchem sich die unterirdische Höhle öffnete, die den Gewässern der Foïba Durchlaß gewährte. Der Tagesanbruch machte sich bereits durch schwache, am Himmelsraume aufsteigende Lichtreflexe bemerkbar; sie erschienen dem Auge so unbestimmt wie die Nebelflecke, welche man in schönen Winternächten nur mit Mühe erkennen kann. Von Zeit zu Zeit erhellten weißglühende Blitze die unteren Theile des Horizontes inmitten des fortgesetzten, doch schon schwächer gewordenen Grollens des Donners. Das Unwetter entfernte sich oder löste sich allmählich auf, nachdem es die ganze elektrische Materie, die sich in den Lüften angesammelt, aufgezehrt hatte.
Mathias Sandorf hielt nach links und nach rechts nicht ohne ein lebhaftes Angstgefühl Ausblick. Er konnte bereits bemerken, daß der Fluß zwischen zwei hohen Strebemauern und noch immer mit rasender Schnelligkeit dahinlief.
Es war also ein reißender Strom, der noch immer die Flüchtlinge in seine Strudel und Wirbel hineintrug. Aber wenigstens dehnte sich wieder der unendliche Raum über sie aus und nicht diese nach unten strebende Wölbung, deren Ausläufer in jedem Augenblicke ihnen den Schädel zu zerschmettern drohten. Doch kein, selbst steiles Ufer zeigte sich ihnen, auf dem sie hätten festen Fuß fassen können, nicht einmal eine Anhöhe, bei welcher sich eine Landung ermöglichen ließ. Zwei hohe Felsenmauern schlossen die schmale Foïba ein; sie zeigte also noch denselben eingeengten Canal mit seinen verticalen Seitenwänden, welche die Wellen glatt gespült hatten, nur die Decke aus Stein fehlte.
Das letzte Untertauchen hatte die Lebensgeister Stephan Bathory's wieder entfacht. Seine Hand hatte diejenige Sandorf's gesucht. Dieser beugte sich über ihn und flüsterte ihm zu:..
»Gerettet!«.
Hatte er das Recht, dieses Wort schon jetzt auszusprechen? Gerettet sollten sie sein, und er wußte nicht einmal, weder, wohin sie dieser Fluß führte, welches Land sie durchschwammen, noch, wann sie den Baumstamm würden verlassen können? Seine Willensstärke war aber wieder eine so große geworden, daß er sich auf den Baum schwang und dreimal mit schallender Stimme rief:
»Gerettet! Gerettet! Gerettet!«
Wer hätte diesen Ausruf auch hören sollen? Auf diesen steilen Klippen, denen das treibende Erdreich fehlt, deren Bestandtheile Schichten von Schiefer und Feuerstein bilden, wo noch nicht einmal so viel vegetabilische Erde sich vorfindet, daß Gesträuche vorwärts kommen können, hielt sich gewiß kein menschliches Wesen auf. Die Landschaft, die sich hinter den hohen Uferfelsen verbirgt, kann ebenfalls keine Anziehungskraft auf Menschen ausüben. Es ist ein trauriges Stück Erde, welches die Foïba durchfließt, die von ihren granitenen Mauern eingeschlossen wird wie ein Ableitungscanal. Kein Bach speist sie durch seinen Zufluß. Kein Vogel streift über ihre Oberfläche, selbst der Fisch wagt sich nicht in ihre zu unruhigen Gewässer. Hier und dort stiegen unförmige Felsblöcke aus ihr empor, deren vollständig ausgetrockneter Kamm bewies, daß die Heftigkeit dieses Wasserlaufes nur durch ein augenblickliches Anwachsen in Folge der letzten Regengüsse veranlaßt worden war. Zu gewöhnlichen Zeiten war das Bett der Foïba nur dasjenige eines Bergbaches.
Es stand nicht zu befürchten, daß der Baumstamm gegen eine dieser Klippen geworfen wurde. Er vermied sie von selbst und folgte genau der Strömung, die um sie herumführte. Aus demselben Grunde wäre es aber auch unmöglich gewesen, ihn aus der Strömung zu bringen oder seine Schnelligkeit zu vermindern, um irgend einen Punkt des Ufers erreichen zu können, für den Fall eine Landung gerathen erscheinen sollte.
Unter diesen Verhältnissen verfloß noch eine Stunde, ohne daß man genöthigt gewesen wäre, für eine neuerdings heraufdräuende Gefahr Vorkehrungen zu treffen. Die letzten Blitze zuckten am fernen Horizonte auf; die Gewittererscheinung machte sich nur noch durch ein dumpfes Grollen bemerkbar, das von den hohen Wolkenbergen widerhallte, deren langgezogene Schichten den Horizont umsäumten. Der Tag dämmerte schon deutlicher herauf und erhellte den von den Stürmen der Nacht gereinigten Himmelsraum. Es war um die vierte Morgenstunde.
Stephan Bathory ruhte halb aufgerichtet in den Armen des Grafen Sandorf, der für sie Beide wachte.
Ein ferner Knall ließ sich jetzt in der Richtung von Südwest vernehmen.
»Was ist das? fragte sich der Graf. Ein Kanonenschuß vielleicht, der die Eröffnung eines Hafens ankündigt? In diesem Falle befinden wir uns nahe bei der Küste. Welcher Hafen könnte das sein? Triest? Nein, denn hier, wo die Sonne aufgehen wird, ist Osten. Pola könnte es sein, im äußersten Süden Istriens. Aber dann...«
Ein zweiter Knall verhallte und gleich darauf hörte man einen dritten.
»Drei Kanonenschüsse? überlegte Mathias Sandorf. Das scheint also eher das Zeichen der Sperre zu sein, das den die hohe See aufsuchenden Schiffen gegeben wird. Sollte es mit unserer Flucht in irgend einer Verbindung stehen?«
Er konnte solches befürchten. Gewiß hatten die Behörden keine Vorsicht außer Acht gelassen, um der Flüchtigen wieder habhaft zu werden, von denen vorausgesetzt werden mußte, daß sie sich zunächst der Küste zuwenden würden.
»Möge Gott uns nun zu Hilfe kommen, murmelte Graf Sandorf. Er allein kann uns helfen!«
Die steilen Gestade, welche die Foïba einfaßten, senkten sich jetzt und trennten sich von einander. Man hatte aber noch immer keinen Ueberblick über das umliegende Land. Schroffe Gipfel begrenzten den Horizont und ließen den Blick nur einige hundert Schritte weit schweifen. Eine Orientirung war unmöglich.
Das sehr erweiterte Bett des Baches, welches noch immer schweigsam und verlassen schien, erlaubte der Strömung einen gemäßigteren Lauf anzunehmen. Einige Baumstümpfe, die stromaufwärts entwurzelt worden waren, schwammen mit einer mäßigen Schnelligkeit daher. Der Junimorgen ließ sich äußerst frisch an. Die Flüchtigen zitterten vor Frost in ihren durchnäßten Kleidungsstücken. Es war für sie die höchste Zeit, einen Versteck aufzustöbern, damit die Sonne jene in einen trockenen Zustand versetzen konnte.
Um die fünfte Stunde machten die letzten Anhöhen einem langgestreckten, niedrigen Uferrande Platz; man übersah ein flaches, brach liegendes Land. Die Foïba ergoß sich mittelst ihres nun gut eine halbe Meile breiten Bettes in ein mächtiges Becken voll stehenden Wassers, welches mit Recht den Namen einer Lagune verdient hätte, wenn dieser nicht gleichbedeutend mit dem Worte See wäre. Im Hintergrunde, gegen Westen hin, zeigten sich einzelne Barken, von denen einige noch vor Anker lagen, während andere sich jetzt beim Erwachen einer schwachen Brise segelfertig machten; das Auftauchen dieser Boote bewies, daß die Lagune nur ein tief in das Gestade einschneidendes Bassin war. Das Meer war also nicht mehr fern und es schien angezeigt, dasselbe möglichst bald zu erreichen. Weniger klug wäre es gewesen, bei jenen Fischern dort Zuflucht zu suchen. Sich ihnen anvertrauen, das hieß, falls sie Kenntniß von der Flucht hatten, Gefahr laufen, den österreichischen Gensdarmen ausgeliefert zu werden, die ganz gewiß jetzt bereits das Land durchstreiften.
Mathias Sandorf wußte nicht, was nun beginnen, als der Baumstamm am linken Ufer der Lagune an einen nicht über die Oberfläche des Wassers hinausragenden Wurzelstock anstieß und sich sofort festsetzte. Seine Wurzeln klammerten sich so unzertrennlich an das massige Gesträuch an, daß der Baum sich an das Ufer legte, wie ein Boot durch das Anziehen seines Befestigungstaues.
Graf Sandorf erkletterte vorsichtig das flache Ufer. Er wollte sich zuerst davon überzeugen, daß Niemand sie bemerkte.
So weit auch seine Blicke trugen, sah er keinen einzigen Landmann oder Fischer oder sonst Jemand auf diesem Theile des Sumpfes.
Und doch gab es kaum zweihundert Schritte von ihnen entfernt einen flach auf dem Boden liegenden Menschen, der in seiner Lage die Flüchtigen wohl beobachten konnte.
Graf Sandorf, der sich in Sicherheit glaubte, ging wieder an das Ufer zurück; er hob den Gefährten von dem Baumstamme und legte ihn auf den Sand, ohne den Ort zu kennen, auf dem er sich befand, noch die Richtung, die jetzt eingeschlagen werden mußte.
In Wirklichkeit ist die breite Wasserfläche, welche der Foïba als Mündung diente, weder ein See noch eine Lagune, sondern eine buchstäbliche Flußmündung. Man nennt sie den Canal von Leme, welcher mit der Adria durch eine zwischen Orsera und Rovigno auf der westlichen Küste der istrischen Halbinsel angelegte Wasserstraße in Verbindung steht. Aber man wußte nicht, daß es die Gewässer der Foïba waren, die zur Zeit der starken Regengüsse durch die Höhle des Buco getrieben, sich in diesen Canal ergossen.
Einige Schritte weiter entfernt stand auf dem Ufer die Hütte eines Jägers. Dort hinein flüchteten Mathias Sandorf und Stephan Bathory, nachdem sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen waren. Sie entledigten sich ihrer Anzüge, welche die Strahlen der glühenden Sonne bald trocknen mußten und warteten das Weitere ab. Die Fischerbarken hatten den Canal von Leme verlassen und so weit der Blick reichte, erschien das Land öde.
Jetzt erhob sich der Mann, der ein Zeuge dieser Scene gewesen war, er näherte sich der Hütte, um einen Ueberblick über die Situation zu gewinnen, dann verschwand er nach Süden zu hinter einer geringen Bodenerhebung.
Drei Stunden später konnten Mathias Sandorf und sein Gefährte ihre noch feuchten Kleider wieder anlegen. Sie mußten aufbrechen.
»Wir können nicht länger in dieser Hütte bleiben, sagte Stephan Bathory.
– Fühlst Du Dich kräftig genug zum Marschiren? fragte ihn Mathias Sandorf.
– Ich bin fast ohnmächtig vor Hunger.
– Wir müssen also versuchen, die Küste zu erreichen. Vielleicht finden wir eine Gelegenheit, um uns etwas Nahrung zu verschaffen und auch einzuschiffen. Komm', Stephan!«
Sie verließen die Hütte, augenscheinlich mehr vom Hunger als von der Ermüdung mitgenommen.
Die Absicht des Grafen Sandorf war, dem südlichen Ufer des Canals von Leme zu folgen, um auf diese Weise an das Meer zu gelangen Die Gegend war zwar verlassen, doch durchfurchten sie zahlreiche Bäche, welche der buchtähnlichen Mündung zuflossen. Dieses feuchte Geflecht, das an seine Ufer grenzt, macht den ganzen Landstrich zu einem wüsten Teig, dessen Schlamm keinen festen Stützpunkt gewährt. Die Beiden sahen sich also genöthigt, eine schräge südliche Richtung einzuschlagen, die leicht an dem Laufe der aufsteigenden Sonne zu erkennen war. Zwei Stunden hindurch marschirten die Flüchtigen, ohne auf ein menschliches Wesen zu stoßen, aber auch ohne den Hunger stillen zu können, der sie verzehrte.
Dann betraten sie weniger dürres Land. Eine Landstraße zeigte sich, die von Osten nach Westen führte, mit einem Meilensteine, der jedoch keine Angabe über die Gegend aufwies, durch welche Graf Sandorf und Stephan Bathory aufs Gerathewohl ihre Schritte lenkten. Einige Maulbeerbaumspaliere, dann ein Hirsefeld gestatteten ihnen, wenn auch nicht ihren Hunger zu stillen, so doch sich über die Bedürfnisse ihres Magens hinwegzutäuschen. Die mit den Zähnen zerquetschte und so genossene Hirse, diese erquickenden Maulbeeren genügten wenigstens, um sie nicht vor Hunger ohnmächtig werden zu lassen, noch bevor sie die Küste erreicht hatten.
Da das Land sich bewohnbar zeigte, da einige bebaute Felder von dem Walten der Hände der Menschen Zeugniß ablegten, so mußte man auch auf ein Zusammentreffen mit letzteren gefaßt sein.
So kam der Mittag heran.
Fünf oder sechs Fußgänger zeigten sich auf der Landstraße. Mathias Sandorf wollte sich kluger Weise nicht sehen lassen. Glücklicherweise bemerkte er fünfzig Schritte weiter nach links ein Gehöft, welches aus einer in Trümmern liegenden Farm bestand. Ehe sie noch bemerkt wurden, flüchteten Beide dorthin und verbargen sich in einem dunklen Raume, der wie ein Vorrathskeller aussah. Sollte selbst ein Vorübergehender bei dieser Farm stehen bleiben, so wurden sie dort trotzdem nicht entdeckt, wenn sie auch gezwungen waren, in derselben bis zum Anbruch der Nacht zu bleiben.
Die Fußgänger waren Bauern und Salzarbeiter. Die Einen trieben Gänseheerden, zweifellos zum Verkauf in einer Stadt oder in einem Dorfe, das nicht sehr weit vom Canal von Leme liegen konnte, vor sich her. Männer und Frauen trugen die Tracht der istrischen Landleute, nebst den Zierrathen, Münzen, Ohrringen, Brustkreuzen, Filigranarbeiten und Gehängen, welche die alltägliche Kleidung beider Geschlechter schmücken. Die Salzarbeiter waren einfacher gekleidet: sie führten den Sack auf dem Rücken und den Stock in der Hand. Sie wanderten in die benachbarten Salzbergwerke, vielleicht bis zu den bedeutenden Grubenwerken von Stagnon oder Pirano im Westen der Provinz.