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»Und Sie sagten, Herr Konsul«, fragte er zum zehnten Mal, »das Dampfboot müsse bald ankommen?«
»Jawohl, mein Herr«, erwiderte der Konsul. »Es ist gestern auf hoher See bei Port-Said gesehen worden und die 160 Kilometer des Kanals kommen bei einem solchen Segler nicht in Anschlag. Ich sage Ihnen nochmals, dass die Mongolia stets die Prämie von 25 Pfund gewonnen hat, welche die Regierung für jeden Vorsprung um vierundzwanzig Stunden vor der regulären Zeit ausgesetzt hat.«
»Dieses Paketboot kommt geradewegs von Brindisi?«, fragte Fix.

»Gerade von Brindisi, wo es die indische Brief-post aufgenommen hat und am Samstag um fünf Uhr abends abgefahren ist. Also haben Sie Geduld, es muss bald ankommen. Aber ich weiß wirklich nicht, wie es Ihnen möglich ist, nach der Personenbeschreibung, die man Ihnen zugestellt hat, Ihren Mann, wenn er an Bord der Mongolia ist, zu erkennen.«
»Herr Konsul«, erwiderte Fix, »solche Leute wittert man vielmehr, als dass man sie erkennt. Man muss eine Spürnase besitzen, die ist gleichsam ein besonderer Sinn, bei welchem Gehör, Gesicht und Geruch zusammenwirken. Ich habe in meinem Leben mehr als einen solchen Gentleman verhaftet, und sofern nur mein Bankdieb an Bord ist, stehe ich Ihnen dafür ein, er wird mir nicht aus den Händen gleiten.«
»Ich wünsche es Ihnen, Herr Fix, denn es handelt sich um einen bedeutenden Diebstahl.«
»Ein prachtvoller Diebstahl«, versetzte der Agent voller Begeisterung. »55.000 Pfund! So ein Fund kommt einem nicht oft in den Weg! Die Diebe werden knauserig! Die Rasse der Sheppards wird selten! Jetzt bringt man sich schon für einige Schilling an den Galgen!«
»Herr Fix«, versetzte der Konsul. »Sie sprechen in einer Weise, dass ich lebhaft wünsche, Sie mögen Glück haben; aber ich sage es noch einmal, in der Lage, in der Sie sich befinden, fürchte ich, es könnte schwierig werden. Wissen Sie, nach der Personenbeschreibung, die Sie empfingen, gleicht dieser Dieb durchaus einem ehrlichen Manne.«
»Herr Konsul«, erwiderte der Polizeiagent belehrend. »Die großen Diebe sehen ehrlichen Leuten immer ähnlich. Sie begreifen wohl, dass die, welche wie Schurken aussehen, keine andere Wahl haben, als rechtschaffen zu bleiben, sonst würden sie ihre Verhaftung verursachen. Vor allem muss man die ehrlichen Gesichter in Augenschein nehmen. Das ist, gebe ich zu, ein schweres Stück Arbeit, das nicht mehr eine Sache des Gewerbes ist, sondern der Kunst.«
Man sieht, es fehlte Fix nicht an einer gewissen Dosis Narzissmus. Inzwischen wurde der Kai allmählich belebter. Seeleute verschiedener Nationalitäten, Handelsleute, Makler, Gepäckträger, Fellahs strömten zusammen. Die Ankunft des Paketbootes stand offenbar nahe bevor. Es war ziemlich schönes Wetter, aber infolge des Ostwindes herrschte eine kalte Brise. Über der Stadt erhoben sich im blassen Sonnenschein einige Minarette. Südwärts zog sich ein zwei Meilen langer Damm wie ein Arm vor der Reede von Suez. Auf der Fläche des Roten Meeres schaukelten einige Fischerbarken oder Küstenfahrzeuge, von denen manche in ihren Formen noch das elegante Muster der antiken Galeere bewahrt hatten. Mitten im Gewühl benahm sich Fix in der Art seines Berufes und fasste die Vorübergehenden mit raschem Blick ins Auge. Es war damals halb elf Uhr.
»Aber das Paketboot bleibt aus!«, rief er, als er die Hafenuhr schlagen hörte.
»Es kann nicht mehr fern sein«, erwiderte der Konsul.
»Wie lange wird es in Suez verweilen?«, fragte Fix.
»Vier Stunden; so lange wie nötig, um Kohlen aufzunehmen. Von Suez nach Aden, am Ende des Roten Meeres, sind es 1.310 Meilen, und es muss sich mit Brennmaterial versehen.«
»Und von Suez fährt das Boot direkt nach Bombay?«, fragte Fix.
»Direkt, ohne umzuladen.«
»Nun denn«, sagte Fix, »wenn der Dieb diesen Weg eingeschlagen hat und sich auf diesem Boot befindet, hat er geplant, in Suez an Land zu gehen und auf anderem Wege in die holländischen oder französischen Kolonien in Asien zu gelangen. Er muss wohl wissen, dass er in Indien nicht sicher wäre, weil es englisches Gebiet ist.«
»Sofern es nicht ein sehr starker Mann ist«, erwiderte der Konsul. »Sie wissen, ein englischer Verbrecher ist stets in London leichter verborgen als auswärts.«
Nach dieser Bemerkung, welche dem Agenten viel Bedenken gab, begab sich der Konsul wieder in seine Büros, die nicht weit entfernt lagen. Der Polizeiagent blieb allein, voll nervöser Ungeduld und auffallendem Ahnungsgefühl, sein Dieb müsse sich an Bord der Mongolia befinden, – und in Wahrheit, wenn der Schurke in der Absicht, die Neue Welt aufzusuchen, England verlassen hatte, so musste er den Weg nach Indien vorziehen, da dieser weniger überwacht oder schwerer zu überwachen ist, als der über das Atlantische Meer. Fix blieb nicht lange in seine Gedanken vertieft, als gellendes Pfeifen die Ankunft des Paketbootes meldete. Der ganze Schwärm der Gepäckträger und Bauern stürzte auf den Kai, mit einem Tumult, der für die Passagiere und ihre Kleider beunruhigend war. Zehn Nachen stießen vom Ufer ab und fuhren der Mongolia entgegen. Nicht lange, so sah man das riesige Schiff zwischen den Kanalufern fahren und Schlag elf Uhr warf der Dampfer auf der Reede Anker, während sein Dampf mit großem Getöse durch die Schornsteine entströmte. Es waren sehr viele Passagiere an Bord. Manche blieben auf dem Verdeck, um das malerische Panorama der Stadt zu betrachten; aber die meisten begaben sich in die Nachen, welche herangekommen waren, und mit diesen ans Land. Fix beobachtete alle, die ans Land kamen, auf das Genaueste. In diesem Augenblick kam einer, nachdem er die mit ihren Dienstangeboten zudringlichen Fellahs kräftig zurückgedrängt hatte, zu ihm heran und fragte ihn sehr höflich nach dem Büro des englischen Konsularagenten. Und zugleich hielt dieser Passagier einen Pass hin, worauf er ohne Zweifel das englische Visum einholen wollte. Fix nahm den Pass instinktmäßig und überschaute die Personenbeschreibung mit schnellem Blick. Eine unwillkürliche Bewegung erfasste ihn, das Blatt zitterte in seiner Hand. Die auf dem Pass befindliche Personenbeschreibung war gleich lautend mit der, welche er vom Polizeidirektor der Hauptstadt erhalten hatte.

»Es ist nicht Ihr eigener Pass?«, sagte er zu dem Passagier.
»Nein«, erwiderte dieser, »er gehört meinem Herrn.«
»Und Ihr Herr?«
»Ist an Bord geblieben.«
»Aber«, versetzte der Agent, »er muss sich persönlich auf dem Konsularbüro einfinden, um seine Identität feststellen zu lassen.«
»Wie? Das ist nötig?«
»Unerlässlich.«
»Und wo ist dieses Büro?«
»Dort an der Ecke des Platzes«, erwiderte der Polizeiagent und wies auf ein zweihundert Schritte entferntes Haus.
»Dann will ich meinen Herrn holen, dem es übrigens nicht angenehm sein wird, gestört zu werden!«
Darauf empfahl sich der Passagier und kehrte an Bord des Dampfers zurück.
SIEBTES KAPITEL
Ein neuer Beweis, wie nutzlos Pässe in polizeilichen Angelegenheiten sind.
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er Polizeiagent begab sich wieder auf den Kai und unverzüglich ins Büro des Konsuls. Auf dringendes Verlangen erhielt er sogleich bei diesem Beamten Zutritt.
»Herr Konsul«, sagte er ohne Abschweife, »ich habe die starke Vermutung, zu glauben, dass sich unser Mann als Passagier an Bord der Mongolia befindet.«
Und Fix erzählte, was sich mit dem Bedienten in Beziehung auf den Pass ereignet hatte.
»Gut, Herr Fix«, erwiderte der Konsul, »es würde mir lieb sein, diesem Schurken ins Gesicht zu sehen. Aber vielleicht wird er nicht in mein Büro kommen, wenn er ist, was Sie vermuten. Ein Dieb lässt nicht leicht eine Spur von sich zurück und übrigens ist niemand mehr an die Formalität des Passes gebunden.«
»Herr Konsul«, erwiderte der Agent, »wenn es ein charakterfester Mann ist, wie man annehmen muss, wird er kommen!«
»Um seinen Pass mit einem Visum versehen zu lassen?«
»Ja. Die Pässe dienen nur noch dazu, die ehrlichen Leute zu genieren und den Schurken zur Flucht zu helfen. Ich versichere Ihnen, dieser wird in Ordnung sein, aber ich hoffe, Sie werden ihn nicht mit einem Visum versehen ...«
»Und warum nicht? Wenn dieser Pass in Ordnung ist, habe ich nicht das Recht, mein Visum zu verweigern.«
»Doch, Herr Konsul, weil ich diesen Menschen wohl hier zurückhalten muss, bis ich von London einen Haftbefehl erhalten habe.«
»Ei! Herr Fix, das ist Ihre Sache«, erwiderte der Konsul, »aber ich kann nicht ...«
Der Konsul hatte noch nicht ausgeredet, als man anklopfte und der Bürodiener zwei Fremde hereinführte, wovon der eine derselbe Diener war, welcher sich mit dem Detektiv unterhalten hatte. Es waren wirklich der Herr und sein Diener. Der erstere überreichte seinen Pass und bat den Konsul mit wenig Worten, sein Visum zu erteilen. Dieser nahm den Pass und las ihn aufmerksam, während Fix in einer Ecke des Zimmers den Fremden betrachtete oder vielmehr mit den Augen verschlang. Als der Konsul den Pass durchgesehen hatte, fragte er:
»Sie sind Phileas Fogg, Sq.?«
»Ja, mein Herr«, erwiderte der Gentleman.
»Und dieser Mensch ist Ihr Diener?«
»Ja, ein Franzose, Passepartout mit Namen.«
»Sie kommen aus London?«
»Ja.«
»Und gehen?«
»Nach Bombay.«
»Gut, mein Herr. Sie wissen, dass diese Förmlichkeit des Visums unnütz ist und wir verlangen die Überreichung des Passes nicht mehr?«
»Ich weiß es, mein Herr«, erwiderte Phileas Fogg, »aber ich wünsche meine Anwesenheit in Suez durch Ihr Visum nachweisen zu können.«
»Meinetwegen, mein Herr.«
Und der Konsul unterzeichnete den Pass, datierte ihn und setzte seinen Stempel darunter. Herr Fogg bezahlte die Gebühren, grüßte oberflächlich und ging mit seinem Diener hinaus.
»Nun?«, fragte der Polizeiagent.
»Nun«, erwiderte der Konsul, »er sieht wie ein ganz ehrlicher Mann aus!«
»Möglich«, erwiderte Fix, »aber darum handelt es sich nicht. Finden Sie, Herr Konsul, dass dieser phlegmatische Gentleman Zug für Zug dem Diebe gleicht, dessen Personenbeschreibung mir zugestellt worden ist?«
»Ich gebe es zu, aber Sie wissen, alle Personenbeschreibungen ...«
»Ich werde die Sache herausbekommen«, erwiderte Fix. »Der Diener scheint mir nicht so verschlossen zu sein, wie der Herr. Zudem ist es ein Franzose, der das Reden nicht lassen kann. Auf baldiges Wiedersehen, Herr Konsul.«
Nach diesen Worten ging der Agent fort und suchte Passepartout auf. Inzwischen hatte sich Herr Fogg von dem Konsulargebäude weg zum Kai begeben. Hier gab er seinem Diener einige Aufträge, fuhr dann in einem Nachen wieder an Bord der Mongolia und begab sich in seine Kabine. Hierauf nahm er sein Notizbuch, worin er folgendes eintrug:
›Abgefahren aus London, Mittwoch, den 2. Oktober, 8 Uhr 45 Minuten, abends. Ankunft in Paris, Donnerstag, den 3. Oktober, 7 Uhr 20 Minuten, vormittags. Abfahrt aus Paris, Donnerstag, 8 Uhr 40 Minuten, vormittags.
Ankunft, durch den Mont-Cenis, in Turin, Freitag, den 4. Oktober, 6 Uhr 35 Minuten, vormittags.
Abfahrt aus Turin, Freitag, 7 Uhr 20 Minuten, vormittags. Angekommen in Brindisi, Samstag den 5. Oktober, 4 Uhr nachmittags. Eingeschifft auf der Mongolia, Samstag, 5 Uhr nachmittags. Angekommen in Suez, Mittwoch, den 9. Oktober, 11 Uhr vormittags. Summe der Stunden: 158 1/2, macht 6 1/2 Tage.‹
Herr Fogg schrieb diese Daten auf ein in Spalten eingeteiltes Reisenotizbüchlein, welches vom 2. Oktober bis zum 21. Dezember angegeben enthielt: den Monat, Tag und Datum, die vorgeschriebene Ankunftszeit und die wirkliche Ankunft an jedem der Hauptorte: Paris, Brindisi, Suez, Bombay, Kalkutta, San Francisco, New York, Liverpool, London, sodass man an jedem Orte, wohin man kam, den gewonnenen Vorsprung oder die Einbuße beziffern konnte. Dieses systematische Büchlein gab also stets Rechenschaft und Herr Fogg wusste immer, ob er einen Vorsprung hatte oder zurückgeblieben war. Er trug also an diesem Tage, Mittwoch, den 9. Oktober, seine Ankunft in Suez ein, welche mit der vorgeschriebenen Ankunftszeit verglichen weder einen Gewinn noch einen Verlust aufwies. Darauf ließ er sich in seiner Kabine ein Frühstück auftragen. Die Stadt zu besehen, fiel ihm nicht ein, denn er gehörte zu der Sorte von Engländern, welche die Länder, durch welche sie reisen, von ihren Bedienten besehen lassen.
ACHTES KAPITEL
Passepartout spricht ein wenig mehr, als es sich vielleicht gehört.
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ach wenigen Augenblicken hatte Fix Passepartout am Kai eingeholt, der da schlenderte und schaute, denn er glaubte nicht, dass er verbunden sei, um nichts zu sehen.
»Nun, Freund«, redete Fix ihn an, »ist Ihr Pass mit einem Visum versehen worden?«
»Ah! Sie sind es, mein Herr«, erwiderte der Franzose. »Sehr verbunden. Wir sind völlig im Reinen.«
»Und Sie besehen sich das Land?«
»Ja, aber wir reisen so schnell, dass es mir vorkommt, als reise ich im Traum. Z.B. sind wir hier in Suez?«
»Suez.«
»In Ägypten?«
»Ägypten, ganz recht.«
»Und in Afrika?«
»In Afrika.«
»In Afrika!«, wiederholte Passepartout. »Ich kann es gar nicht glauben. Denken Sie sich, mein Herr, ich meinte, wir gingen nicht weiter als bis nach Paris, und diese berühmte Hauptstadt sah ich eben nur von sieben Uhr zwanzig bis acht Uhr vierzig Minuten vormittags, zwischen dem Nordbahnhof und dem Lyoner, durch die Scheiben eines Fiakers, während eines Platzregens! Das war mir leid! Gerne hätte ich den Pere La Chaise und den Circus in den Champs-Elysees besucht!«
»Demnach sind Sie sehr in Eile?«, fragte der Polizeiagent.
»Ich nicht, aber mein Herr. Apropos, ich muss ja Strümpfe und Hemden kaufen! Wir sind ohne Koffer abgereist, nur mit einem Reisesack.«
»Ich will Sie in einen Bazar führen, wo Sie alles finden, was Sie brauchen.«
»Mein Herr«, erwiderte Passepartout, »Sie sind wirklich sehr zuvorkommend!«
Und sie gingen miteinander. Passepartout schwatzte beständig.
»Vor allem«, sagte er, »muss ich mich davor hüten, das Boot zu verpassen!«
»Sie haben Zeit«, versetzte Fix, »es ist erst zwölf Uhr!«
Passepartout zog seine große Uhr heraus.
»Zwölf Uhr«, sagte er. »Nicht doch! Es ist neun Uhr zweiundfünfzig Minuten!«
»Ihre Uhr geht nach«, erwiderte Fix.
»Meine Uhr! Das alte Familienstück von meinem Urgroßvater! Sie weicht keine fünf Minuten im Jahre ab. Es ist ein echter Chronometer!«
»Ich sehe, woran es liegt. Sie haben noch die Londoner Zeit, welche etwa um zwei Stunden von der in Suez abweicht. Sie müssen darauf bedacht sein, Ihre Uhr nach der Mittagszeit jedes Landes zu stellen.«
»Ich! An meine Uhr rühren!«, rief Passepartout. »Niemals!«
»Ah, dann stimmt sie nicht mehr mit der Sonne überein.«
»Umso schlimmer für die Sonne, mein Herr! Sie ist im Irrtum.«
Und der wackere Bursche steckte seine Uhr mit stolzer Gebärde wieder in seine Tasche.
Nach einer kleinen Weile sprach Fix:
»Also Sie haben London in Eile verlassen?«

»Das meine ich wohl! Letzten Mittwoch um acht Uhr abends kam Herr Fogg gegen alle Gewohnheit früher aus seiner Gesellschaft und schon dreiviertel Stunden nachher waren wir unterwegs.«
»Aber wo reist Ihr Herr denn hin?«
»Immer geradeaus, um die ganze Erde herum!«
»Um die Erde herum?«, fragte Fix.
»Ja, in achtzig Tagen! Eine Wette, sagte er, aber, unter uns, ich glaub‘s nicht. Das wäre Unsinn. Es steckt etwas anderes dahinter.«
»Ei! Der Herr Fogg ist ein Original.«
»Das glaube ich auch.«
»Ist er denn reich?«
»Ganz gewiss, er hat eine hübsche Summe bei sich, in ganz neuen Banknoten! Und er spart unterwegs nicht! Denken Sie, er hat dem Maschinisten der Mongolia eine stattliche Prämie versprochen, wenn wir bei der Ankunft in Bombay einen hübschen Vorsprung haben!«
»Und Sie kennen Ihren Herrn schon lange?«
»Ich?«, fragte Passepartout. »Erst am Tage unserer Abreise bin ich bei ihm in den Dienst getreten!«
Man kann sich leicht denken, was diese Antworten auf den schon überspannten Kopf des Polizeiagenten für eine Wirkung haben mussten. Diese eilige Abreise aus London, kurz nachdem der Diebstahl vorgefallen war, die große Summe, welche er bei sich hatte, diese hastige Eile, um in ferne Länder zu kommen, dieser Vorwand einer unsinnigen Wette, – alles bestärkte Fix und musste ihn auch wohl in seinem Argwohn bestärken. Er ließ den Franzosen noch weiter plaudern und bekam die Gewissheit, dass dieser Bursche seinen Herrn gar nicht kannte, dass dieser in London vereinsamt lebte, dass man ihn reich nannte, ohne zu wissen, woher sein Vermögen komme, dass es ein verschlossener Mann sei, etc. Aber zugleich konnte sich Fix davon überzeugen, dass Phileas Fogg in Suez nicht das Boot verlasse und dass er wirklich nach Bombay reise.
»Ist es weit nach Bombay?«, fragte Passepartout.
»Sehr weit«, erwiderte der Agent. »Sie müssen dazu noch weitere zehn Tage auf der See fahren.«
»Und wo liegt dieses Bombay?«
»In Indien.«
»In Asien?«
»Natürlich.«
»Teufel! Das wollte ich noch sagen ... es beunruhigt mich etwas ... Mein Hahn!«
»Was für ein Hahn?«
»Mein Gashahn, welchen ich zuzudrehen vergaß, und der jetzt auf meine Kosten brennt. Nun habe ich ausgerechnet, dass ich für ihn zwei Schilling in vierundzwanzig Stunden zu zahlen habe, gerade sechs Pence mehr, als ich verdiene, und Sie begreifen, dass, wenn sich die Reise hinzieht ...«
Fix verstand die Sache wahrscheinlich nicht. Er hörte nicht mehr zu und machte seinen Plan. Der Franzose war mit ihm auf dem Bazar angekommen. Fix ließ denselben da seine Einkäufe machen, empfahl ihm, die Abfahrt der Mongolia nicht zu verpassen und kam in aller Eile wieder in das Büro des Konsularagenten. Fix hatte, nachdem er seiner Sache sicher war, alle Kaltblütigkeit wiedergewonnen.
»Mein Herr«, sagte er zu dem Konsul, »ich habe keinen Zweifel mehr. Der Mann ist es. Er will für einen Sonderling gelten, der in achtzig Tagen um die Erde herum reist.«
»Dann ist es ein Schurke«, versetzte der Konsul, »und er denkt nach London zurückzukommen, nachdem er alle Polizisten der beiden Kontinente an der Nase herumgeführt hat.«
»Das wird sich noch zeigen«, erwiderte Fix.
»Aber irren Sie sich nicht?«, fragte der Konsul nochmals.
»Nein, ich irre mich nicht.«
»Warum hat dann dieser Dieb darauf bestanden, seine Anwesenheit in Suez durch ein Visum bestätigen zu lassen?«
»Warum? ... Ich weiß es nicht, Herr Konsul«, erwiderte der Detektiv, »aber hören Sie mich an.«
Und er erzählte in Hauptzügen, was er aus der Unterredung mit dem Diener Foggs wusste.
»Wirklich«, sagte der Konsul, »alle Wahrscheinlichkeit spricht gegen diesen Menschen. Und was wollen Sie nun tun?«
»Eine Depesche nach London schicken, mit dem dringenden Begehren, mir einen Haftbefehl nach Bombay zu senden; mich auf der Mongolia einschiffen, meinem Diebe bis nach Indien nachspüren und mich ihm dort, auf englischem Gebiete, höflich nähern, meinen Haftbefehl in der einen Hand und die andere auf seiner Schulter.«
Nachdem der Polizeiagent dieses kalt geäußert hatte, verabschiedete er sich vom Konsul und begab sich auf das Telegrafenbüro. Von hier aus ließ er an den Polizeidirektor der Hauptstadt die Depesche abgehen, welche wir bereits kennen. Eine Viertelstunde darauf befand sich Fix, sein leichtes Gepäck in der Hand, übrigens gut mit Geld versehen, an Bord der Mongolia; und bald fuhr der rasche Dampfer unter vollem Dampf auf den Wellen des Roten Meeres dahin.
NEUNTES KAPITEL
Das Rote und das Indische Meer zeigen sich Phileas Foggs Absichten günstig.
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ie Entfernung Adens von Suez beträgt genau 1.310 Meilen und die Kompanie räumt ihren Paketbooten eine Zeit von 38 Stunden zur Fahrt ein. Die Mongolia fuhr mit stärkerer Feuerung so gut, dass sie einen Vorsprung gewann. Die meisten der in Brindisi an Bord gestiegenen Passagiere hatten Indien als Reiseziel. Die einen begaben sich nach Bombay, die anderen nach Kalkutta, aber via Bombay, weil man, seit eine Eisenbahn die Indische Halbinsel in ihrer ganzen Breite quer durchzieht, nicht mehr um die Spitze von Ceylon herumzufahren braucht. Unter den Passagieren der Mongolia zählte man verschiedene Zivilbeamte und Offiziere jedes Grades. Von diesen gehörten einige der eigentlichen britischen Armee, die anderen kommandierten Truppen von Eingeborenen, Sepoys genannt, alle mit hohem Gehalt[1], selbst seitdem die Rechte und Lasten der früheren Indischen Kompanie an die Regierung übergegangen waren.
Man lebte daher an Bord der Mongolia aufwendig, in dieser Gesellschaft von Beamten, worunter sich einige junge Engländer befanden, welche mit Millionen in der Tasche im Begriff waren, Handelskontore in der Ferne zu errichten.
Der Proviantmeister, ein Vertrauensmann aus der Kompanie, von gleichem Rang mit dem Kapitän des Bootes, sparte keinen Aufwand. Beim Frühstück morgens, beim Zwischenimbiss um zwei Uhr, beim Diner um fünf Uhr dreißig und beim Abendessen um acht Uhr beugten sich die Tische unter den Platten frischen Fleisches und den Beilagen, welche die Metzgerei und die Küchen des Paketbootes lieferten. Die Frauen der Gesellschaft – es befanden sich einige dabei – wechselten zweimal täglich die Toilette. Man machte Musik, tanzte sogar, wenn das Meer ruhig genug dazu war.
Aber das Rote Meer ist sehr launenhaft und häufig schlimm, wie alle schmalen und langen Golfe. Wehte der Wind von der asiatischen oder afrikanischen Küste her, so geriet die Mongolia, von einer Seite erfasst, in fürchterliches Schwanken. Dann verschwanden die Damen; die Pianos verstummten; Gesang und Tanz hörte auf einmal auf. Und dennoch, trotz der Windstöße, trotz der hohen See, fuhr das Paketboot, von seiner starken Maschine angetrieben und ohne langsamer zu werden, der Straße Babel-Mandeb zu.
Was trieb inzwischen Phileas Fogg? Man hätte meinen können, er habe stets unruhig und ängstlich an nichts anderes gedacht, als an die der Fahrt des Schiffes hinderlichen Windwechsel, an die wilden Bewegungen der hohen See, welche eine Störung der Maschine veranlassen könnten, endlich an alle die möglichen Beschädigungen, welche dadurch, dass sie die Mongolia zum Anlegen in einem Hafen nötigten, seiner Reise Einhalt gegeben haben würden. Dies war aber durchaus nicht der Fall, oder wenigstens, wenn dieser Gentleman auch an alle diese möglichen Fälle dachte, ließ er sich nichts davon anmerken. Er war stets der leidenschaftslose Mann, das gleichmütige Mitglied des Reformclubs, welches durch keinen Unfall oder Zufall in Verlegenheit gebracht werden konnte. Er schien von keiner anderen Bewegung getrieben, als die der Chronometer an Bord. An Deck sah man ihn selten. Es kümmerte ihn wenig, dieses an Erinnerungen so reiche Rote Meer, diesen Schauplatz der ersten historischen Szenen des Menschengeschlechts, zu betrachten. Es lag ihm nichts daran, die merkwürdigen Städte zu betrachten, womit beide Ufer zahlreich besetzt sind und deren malerische Silhouetten sich manchmal am Horizont abzeichneten. Er machte sich keine Idee von den Gefahren des Arabischen Golfs, deren die alten Historiker von Strabo bis Edrisi stets mit Schrecken gedachten, und auf welchen sich die Seefahrer nie hinauswagten, ohne sich die Götter durch Sühnopfer geneigt zu machen.
Was trieb also dieses in der Mongolia eingekerkerte Original? Zunächst hielt er täglich seine vier Mahlzeiten, ohne dass eine so merkwürdig organisierte Maschine jemals durch Schwanken oder Stampfen in Unordnung gebracht werden konnte. Nachher spielte er Whist. Er hatte Spielgenossen gefunden, die ebenso leidenschaftlich dabei waren wie er: Es waren: ein Zolleinnehmer, der sich auf seinen Posten nach Goa begab; ein Geistlicher, der ehrwürdige Decimus Smith, der nach Bombay zurückkehrte, und ein Brigade-General der englischen Armee, der sich zu seinem Korps nach Benares begab. Diese drei Passagiere hatten für das Whistspiel eine gleiche leidenschaftliche Vorliebe wie Herr Fogg und spielten ganze Stunden lang ebenso still wie er.