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»Rede, lieber Junge, geniere dich nicht. Ich lasse dir alle Freiheit, deine Meinung zu sagen. Du bist nun nicht mehr mein Neffe, sondern mein Kollege. Also vorwärts.«
»Nun, so will ich Sie erst fragen: Was sind diese Yokuls, Sneffels und Scartaris, wovon ich nie ein Wort habe reden hören?«
»Das ist ganz leicht. Ich habe just vor kurzem von meinem Freund August Petersmann in Gotha eine Karte bekommen, die mir gerade zu rechter Zeit kam. Nimm den dreißigsten Atlas im zweiten Fach der großen Bibliothek, Reihe Z Brett 4.«
Ich stand auf und fand in Entsprechung dieser genauen Angabe rasch den gewünschten Atlas. Mein Onkel schlug ihn auf und sagte:
»Hier ist eine der besten Karten von Island, die Handersonsche; ich glaube, die wird uns bei allen Schwierigkeiten helfen.«
Ich beugte mich über die Karte.
»Sieh diese aus Vulkanen bestehende Insel«, sagte der Professor, »und beachte, dass sie alle mit dem Namen Yokul bezeichnet sind. Dies Wort bedeutet im Isländischen ›Gletscher‹, und unter dem hohen Breitengrad Islands geschehen die meisten vulkanischen Ausbrüche durch die Eisdecke.«
»Gut«, entgegnete ich, »aber was ist dann Sneffels?«
Ich hoffte, er könne diese Frage nicht beantworten. Wie irrte ich mich! Mein Onkel fuhr fort:
»Folge mir auf die westliche Küste Islands. Siehst du seine Hauptstadt Reykjavik? Ja? Gut. Fahre über die unzähligen Fjorde dieser zerrissenen Seeküste, und halte etwas unter dem 65. Breitengrad an. Was siehst du da?«
»Eine Art Halbinsel, gleich einem abgenagten Knochen.«
»Der Vergleich ist richtig, lieber Junge; und weiter siehst du nichts auf dieser Halbinsel?« »Doch, einen Berg, der aus dem Meer emporgewachsen scheint.« »Gut! Das ist der Sneffels.«

»Der Sneffels?«
»Der ist es, ein 5.000 Fuß hoher Berg, einer der merkwürdigsten auf der Insel, und gewiss der berühmteste der ganzen Welt, wenn sein Krater den Eingang zum Zentrum der Erde bildet.«
»Aber das ist unmöglich!«, rief ich mit einem Achselzucken und mich gegen eine solche Annahme sträubend.
»Unmöglich!«, entgegnete der Professor Lidenbrock mit strengem Ton. »Und warum?«
»Weil dieser Krater offenbar mit Lava verstopft ist, die Felsen glühen, und dann ...«
»Und wenn es ein verloschener Krater ist?«
»Verloschen?«
»Ja. Die Zahl der noch tätigen Vulkane auf der Erdoberfläche beträgt gegenwärtig nur etwa 300. Aber es gibt eine noch weit größere Anzahl verloschener Vulkane. Unter die letzteren gehört der Sneffels, der seit langen Zeiten nur einen Ausbruch gehabt hat, und zwar im Jahre 1219. Seitdem ist er allmählich stille geworden und er gehört nicht mehr zu den tätigen Vulkanen.«
Auf diese genauen Angaben hatte ich durchaus nichts zu entgegnen; ich warf mich also auf die übrigen Schwierigkeiten, die das Dokument enthielt.
»Was bedeutet das Wort Scartaris?«, fragte ich. »Und was hat der erste Juli damit zu tun?«
Mein Onkel besann sich einige Augenblicke. Einen Moment lang hatte ich Hoffnung, aber auch nur einen Moment lang, denn bald antwortete er mir folgendermaßen:
»Was du Dunkelheit nennst, ist für mich Licht. Dies beweist die sinnreiche Sorge, womit Saknussemm seine Entdeckung genau bezeichnen wollte. Der Sneffels hat mehrere Krater und es war daher erforderlich, denjenigen, welcher zum Mittelpunkt der Erde führt, anzugeben. Wie hat es nun der gelehrte Isländer gemacht? Er hat bemerkt, dass beim Herannahen des ersten Juli, also gegen Ende des Juni, eine der Bergspitzen, der Scartaris, ihren Schatten bis zu der Mündung des fraglichen Kraters wirft, und er hat diese Tatsache in dem Dokument niedergeschrieben. Dies war die genaueste Angabe, sodass man, wenn man sich einmal auf dem Gipfel des Sneffels befindet, unmöglich mehr in Zweifel sein kann, welcher Weg einzuschlagen ist.«
Allerdings wusste mein Onkel eine Antwort auf alles. Ich sah wohl, dass ihm bei den Worten des alten Pergaments nicht beizukommen war. Ich setzte ihm daher von dieser Seite aus nicht mehr zu, und da ich ihn vor allem überzeugen musste, so ging ich zu den wissenschaftlichen Einwendungen über, welche meines Erachtens ganz andere Bedeutung hatten.
»Nun«, sagte ich, »die Phrase Saknussemms, ich muss es zugeben, ist klar und lässt über ihren Sinn keinen Zweifel mehr. Ich gebe sogar zu, dass das Dokument denn Anschein völliger Echtheit hat. Dieser Gelehrte ist in das Innere des Sneffels hinabgestiegen, hat gesehen, wie der Schatten des Scartaris den Rand des Kraters vor dem ersten Juli bestrich; er hat sogar aus den sagenhaften Erzählungen seiner Zeit entnommen, dass dieser Krater zum Zentrum der Erde führe; aber dass er selbst dahin gedrungen, dass er von einer Reise dahin wieder zurückgekehrt sei, das glaube ich durchaus nicht!«
»Und warum nicht?«, fragte mein Onkel mit ausnehmend spöttischem Ton.
»Weil alle Theorien der Wissenschaft beweisen, dass eine solche Unternehmung undurchführbar ist!«
»Alle Theorien sagen das aus?«, fragte der Professor mit gutmütiger Miene. »Ja, die schlechten Theorien! Die armseligen Theorien werden uns genieren!«
Ich sah, dass er sich über mich lustig machte, aber ich fuhr dem ungeachtet fort:
»Ja! Es ist eine ausgemachte Sache, dass die Wärme unter der Erdoberfläche mit 70 Fuß Tiefe um einen Grad zunimmt; nehmen wir nun dies steigende Verhältnis als sich gleich bleibend an, so muss, da der Erdradius 1.500 Meilen beträgt, im Zentrum eine Temperatur von mehr als 200.000 Grad herrschen. Die Stoffe im Innern der Erde befinden sich daher im Zustand des glühenden Gases, denn die Metalle, Gold, Platin, die härtesten Steine halten einer solchen Hitze nicht stand. Ich darf also fragen, ob es möglich sei, in eine solche Umgebung zu gelangen!«
»Also, Axel, die Hitze macht dir zu schaffen?«
»Allerdings. Kämen wir bis zu einer Tiefe von nur zehn Meilen, so wären wir an der Grenze der Erdrinde, denn da ist die Temperatur bereits über 1.300 Grad.« »Und du hast Angst zu zerschmelzen?« »Ich überlasse Ihnen die Entscheidung der Frage«, antwortete ich mit Humor.
»So will ich dir meine Meinung genau sagen«, entgegnete der Professor Lidenbrock, indem er einen hohen Tonfall annahm: »Weder du noch irgendein Mensch weiß einigermaßen zuverlässig, was im Innern des Erdballs vorgeht, da man kaum erst den zwölftausendsten Teil ihres Radius’ kennt; daher ist die Wissenschaft außerordentlich vervollkommnungsfähig und jede Theorie wird von einer neuen umgestürzt. Hat man ja bis auf Fourier geglaubt, die Temperatur der Planetenräume sei stets abnehmend, und jetzt weiß man, dass die höchste Kälte der Ätherregionen nicht über 40 bis 50 Grad unter Null steigt. Warum könnte es mit der Wärme im Innern nicht ebenso der Fall sein? Weshalb sollte sie nicht in einer gewissen Tiefe eine nicht mehr zu übersteigende Höhe erreichen, anstatt bis zu einer Höhe zu steigen, wo die störrischsten Metalle schmelzen?«
Da mein Onkel die Frage auf das Gebiet der Hypothesen verpflanzte, so hatte ich nichts darauf zu entgegnen.
»Nun denn, ich will dir nur sagen, dass echte Gelehrte, wie unter anderen Poisson, bewiesen haben, dass, wenn im Innern des Erdballs eine Hitze von 200.000 Grad herrschen würde, das aus den zerschmolzenen Stoffen erzeugte glühende Gas eine solche Spannkraft erlangen würde, dass die Erdrinde nicht mehr Widerstand zu leisten vermöchte und zerspringen würde, wie die Wände eines Dampfkessels durch die Ausdehnung des Dampfes.«
»Das ist Poissons Ansicht, lieber Onkel, nichts weiter.«
»Einverstanden, aber es ist auch die Ansicht anderer ausgezeichneter Geologen, dass das Innere des Erdballs weder aus Gas, noch Wasser, noch schwereren Steinen besteht, als die wir kennen, denn in diesem Fall würde die Erde ein zweifach geringeres oder doppelt so hohes Gewicht aufweisen.«
»Oh! Mit Zahlen lässt sich alles beweisen!«
»Und ist es mit Tatsachen, lieber Junge, ebenso? Ist es nicht ausgemacht, dass die Zahl der Vulkane seit den ersten Tagen der Welt beständig abgenommen hat? Und wenn es eine Zentralwärme gibt, kann man daraus nicht schließen, dass sie immer schwächer wird?«
»Lieber Onkel, wenn du dich aufs Feld der Vermutungen begibst, habe ich nichts mehr zu sagen.«
»Und ich habe zu sagen, dass die Ansichten der berufensten Männer mit der meinigen übereinstimmen. Erinnerst du dich, wie mir im Jahre 1825 der berühmte englische Chemiker Humphry Davy einen Besuch abstattete.«
»Durchaus nicht, denn ich kam erst neunzehn Jahre später auf die Welt.«
»Nun, Humphry Davy besuchte mich auf einer Durchreise in Hamburg. Wir besprachen uns lange, unter anderem über die Hypothese der Flüssigkeit des inneren Kerns der Erde. Wir stimmten darin überein, dass das Erdinnere nicht flüssig sein kann, und zwar aus einem Grunde, auf den die Wissenschaft nie eine Antwort gefunden hat.«
»Und welcher ist das?«, fragte ich etwas verunsichert.
»Weil diese flüssige Masse gleich dem Ozean der Anziehung vonseiten des Mondes ausgesetzt wäre, und folglich zweimal täglich im Innern Ebbe und Flut herrschen müsste, welche durch Emporheben des Erdbodens zu periodischen Erdbeben Anlass gäben.«
»Aber es ist doch unverkennbar, dass die Erdoberfläche der Verbrennung ausgesetzt gewesen ist, und man darf annehmen, dass die äußere Kruste sich erst abkühlte, während sich die Hitze ins Zentrum zurückzog.«
»Irrtum«, entgegnete mein Onkel. »Die Erde ist erst durch Verbrennung ihrer Oberfläche in Hitze geraten, nicht anders. Ihre Oberfläche bestand aus einer großen Menge an Metallen, wie Kalium und Natrium, welche die Eigenschaft haben, bei der bloßen Berührung mit Luft und Wasser in Brand zu geraten. Diese Metalle gerieten in Brand, als die atmosphärischen Dünste als Regen auf den Boden herabkamen; und allmählich, als die Gewässer durch die Ritzen der Erdrinde drangen, veranlassten sie abermals Brand mit Explosionen und Ausbrüchen. Daher die zahlreichen Vulkane in der ersten Zeit der Welt.«
»Das ist doch eine geistreiche Hypothese!«, rief ich etwas widerwillig.
»Und Humphry Davy machte mir es durch ein sehr einfaches Experiment nachvollziehbar. Er fertigte eine metallene Kugel hauptsächlich aus den Metallen an, von denen ich gerade sprach, als ein vollständiges Ebenbild unseres Erdballs. Als man dieselbe mit einem feinen Tau auf ihrer Oberfläche benetzte, schwoll sie auf, oxydierte und bildete ein kleines Gebirge; an dessen Spitze öffnete sich ein Krater, es fand ein Ausbruch statt und setzte die Kugel einer derartigen Hitze aus, dass man sie nicht mehr in der Hand halten konnte.«
Wahrlich, die Beweisgründe des Professors fingen an, auf mich Eindruck zu machen; er machte sie zudem mit seiner gewöhnlichen Leidenschaft und seinem Enthusiasmus geltend.
»Du siehst, Axel«, fügte er hinzu, »dass der Zustand des inneren Kerns zu unterschiedlichen Hypothesen bei den Geologen geführt hat; nichts ist weniger bewiesen, als die Tatsache einer inneren Hitze; meiner Ansicht nach ist sie nicht vorhanden, kann gar nicht vorhanden sein; doch, wir werden es sehen und wir werden dann wissen, wie Arne Saknussemm, woran man sich hinsichtlich dieser Frage zu halten hat.«
»Nun ja!«, entgegnete ich, indem ich diesen Enthusiasmus zu teilen anfing. »Ja, wir werden es sehen, wenn man dort überhaupt sehen kann.«
»Und warum sollte man nicht? Können wir nicht auf elektrische Erscheinungen rechnen, die uns Licht geben, und selbst auf die Atmosphäre, die bei Annäherung an das Zentrum durch ihren Druck erleuchtet werden kann?«
»Ja!«, antwortete ich. »Ja! Das ist möglich, nach allem, was du gesagt hast!«
»Das ist sicher!«, entgegnete mein Onkel triumphierend. »Aber sei bloß schweigsam, verstehst du? Kein Wort von all diesem; kein Mensch soll auf die Idee kommen, das Zentrum der Erde vor uns entdecken zu wollen.«
7. Reisevorbereitungen
SIEBTES KAPITEL Reisevorbereitungen
S
o schloss diese merkwürdige Unterredung. Ich war fieberhaft erregt. Ich verließ das Kabinett meines Onkels total verblüfft und Hamburgs Luft reichte nicht aus, um mich darin zu erholen. Ich eilte daher an das Elbufer nach der Dampffähre hin, welche als Verbindung der Stadt mit der Hamburger Eisenbahn dient. War ich von dem, was man mich eben gelehrt hatte, überzeugt? War ich nicht vielmehr dem Professor Lidenbrock erlegen? Sollte ich im Ernst annehmen, dass er entschlossen sei, zum Zentrum der Erde zu kommen? Hörte ich soeben die tollen Spekulationen eines Narren oder die wissenschaftliche Darlegung eines großen Genies? Und vor allem, wo hörte die Wahrheit auf, wo begann der Irrtum? Ich schwankte zwischen tausenden sich widersprechenden Hypothesen, ohne mich an einer festhalten zu können. Doch erinnerte ich mich, dass ich überzeugt war, obwohl mein Enthusiasmus anfing geringer zu werden; aber ich hatte unverzüglich abreisen wollen, ohne mir Zeit zum Überlegen zu lassen. Ja, es hätte mir nicht an Mut gefehlt, augenblicklich meinen Koffer zu packen. Doch muss ich gestehen, eine Stunde danach war diese Überreizung schon abgeflaut, die Spannung meiner Nerven ließ nach und kam wieder aus den Abgründen der Erde zur Oberfläche hoch.
›Das ist ja lächerlich!‹, sagte ich zu mir. ›Es hat keinen rechten Sinn! Solch einen Vorschlag kann man einem verständigen Jungen nicht im Ernst machen. Das alles ist eitel Sonnenschein! Ich habe nur schlecht geschlafen, einen schlimmen Traum gehabt.‹
Inzwischen war ich am Ufer der Elbe entlang um die Stadt herum- und auf die Straße nach Altona gekommen. Eine richtige Ahnung hatte mich auf diesen Weg geführt, denn ich bemerkte bald mein liebes Gretchen, das raschen Schrittes tapfer nach Hamburg heimging.
»Gretchen!«, rief ich ihr von Weitem zu.
Das Mädchen stand still, etwas betroffen, schien es, auf offener Straße so angerufen zu werden. Mit zehn Schritten war ich bei ihr.
»Axel!«, sagte sie überrascht. »Du bist mir entgegengegangen, das ist ja wirklich nett.«
Als mich Gretchen aber nun anschaute, entging ihr meine unruhige, verstörte Miene nicht. »Was ist mit dir?«, fragte sie, indem sie mir die Hand reichte. »Was mit mir ist, Gretchen?«, fragte ich zurück.
Und in zwei Sekunden, in drei Sätzen hatte ich meine hübsche Vierländerin über die Lage der Dinge in Kenntnis gesetzt. Einige Augenblicke schwieg sie. Ob ihr Herz gleich dem meinigen klopfte, weiß ich nicht, aber ihre Hand in der Meinigen zitterte nicht. Hundert Schritte gingen wir stumm nebeneinander her.
»Axel!«, sagte sie endlich.
»Liebes Gretchen!«
»Das wird eine schöne Reise werden.«
Bei diesen Worten sprang ich auf.
»Ja, Axel, eine Reise, des Neffen eines Gelehrten würdig. Ein Mann muss sich durch ein großes Unternehmen beweisen!«
»Wie? Gretchen, du rätst mir nicht von solch einem Unternehmen ab?«
»Nein, lieber Axel, und ich würde euch gerne begleiten, wenn nicht ein armes Mädchen ein Hindernis für euch wäre.«

»Ist das wirklich dein Ernst?«
»Wirklich.«
Ach. Wie sind doch Frauen, junge Mädchen, weibliche Herzen stets unbegreiflich! Seid ihr nicht die schüchternsten Wesen, so seid ihr die Tapfersten! Vernunft hat bei euch keine Geltung. Wie? Dieses Kind ermunterte mich, die Reise mitzumachen! Sie hatte keine Furcht vor einer abenteuerlichen Fahrt! Sie drängte mich dazu, den sie doch liebte. Ich war verlegen und, um es offen zu sagen, schämte ich mich.
»Gretchen«, fuhr ich fort, »wir wollen sehen, ob du morgen noch genauso sprichst.«
»Morgen, lieber Axel, werde ich reden wie heute.«
Wir gingen Hand in Hand, aber in tiefem Schweigen unseres Weges weiter. Die Gemütsbewegungen des Tages hatten mich kleinlaut gemacht.
›Immerhin‹, dachte ich, ›ist der erste Juli noch weit entfernt, und bis dahin kann sich noch manches ereignen, was meinen Onkel von der tollen Lust, eine Reise unter die Erde zu machen, abbringen mag.‹
Es war schon dunkel geworden, als wir bei dem Hause in der Königstraße anlangten. Ich hatte vermutet, wir träfen die Wohnung ruhig an, meinen Onkel, wie gewöhnlich, schon zu Bette und Martha mit Abstauben des Speisezimmers beschäftigt. Aber ich hatte die Ungeduld des Professors nicht berücksichtigt. Ich fand ihn unter einer Truppe Lastträger, welche allerhand Waren in die Allee brachten, mit lautem Geschrei hin- und herrennend; die alte Dienerin wusste nicht, wo ihr der Kopf stand.
»Aber, so komm doch, Axel; eile doch, Unglückseliger!«, rief mein Onkel schon von Weitem, als er mich erblickte. »Und dein Koffer ist auch noch nicht gepackt, und meine Papiere sind noch nicht geordnet, und der Schlüssel meines Reisesacks ist nicht zu finden, und meine Gamaschen fehlen noch!«
Ich war wie vom Donner gerührt, die Stimme versagte mir. Kaum vermochten meine Lippen die Worte hervorzubringen: »Also reisen wir ab?«
»Ja, Unglückseliger, und du gehst spazieren, anstatt bei der Hand zu sein!«
»Wir reisen ab?«, fragte ich nochmals mit schwacher Stimme.
»Ja, übermorgen in aller Frühe.«
Ich wollte nichts weiter hören und flüchtete in mein Zimmerchen. Es war nicht mehr daran zu zweifeln. Mein Onkel hatte den Nachmittag dazu verwendet, einen Teil der Reiseutensilien anzuschaffen: Die Allee lag voller Strickleitern, Fackeln, Reiseflaschen, eisernen Haken, Spitzhacken, beschlagenen Stöcken, Spaten – wofür man mindestens zehn Mann zum Herbeischleppen brauchte. Ich brachte eine entsetzliche Nacht zu. Am folgenden Morgen hörte ich schon früh, wie man mich rief. Ich war entschlossen, meine Tür nicht zu öffnen. Aber wie hätte ich einer so süßen Stimme widerstehen können, die mir zurief: »Lieber Axel!« Ich ging aus meiner Kammer und dachte, mein verstörtes, blasses Aussehen, meine roten Augen würden auf Gretchen wirken, sodass sie ihre Gedanken änderte.
»Nun! Mein lieber Axel«, sagte sie zu mir. »Ich sehe, du befindest dich besser und die Nacht hat dich beruhigt.«
»Beruhigt?«, fragte ich.
Ich eilte vor meinen Spiegel. Ei nun! Ich sah nicht so übel aus wie ich gedacht hatte. Kaum zu glauben.
»Axel«, sagte Gretchen zu mir. »Ich habe gestern lange mit meinem Vormund geplaudert. Er ist ein kühner Gelehrter, ein mutiger Mann, und du wirst dich erinnern, dass sein Blut in deinen Adern fließt. Er hat mir von seinen Plänen erzählt, von seinen Hoffnungen, weshalb und wie er sein Ziel zu erreichen gedenkt. Ich zweifle nicht, dass er es erreichen wird. Ach! Lieber Axel, wie schön ist es, sich so seiner Wissenschaft hinzugeben! Welcher Ruhm wird Herrn Lidenbrock zuteil werden und auf seinen Genossen abfärben! Bei der Rückkehr wirst du ein Mann sein, seinesgleichen, frei zu reden, zu handeln, frei endlich zu ...«
Errötend stockte das Mädchen. Seine Worte machten mir wieder Mut. Dennoch wollte ich noch nicht an unsere Abreise glauben. Ich zog Gretchen mit mir in das Arbeitszimmer des Professors.
»Lieber Onkel«, fragte ich. »Es ist also ausgemacht, dass wir abreisen?«
»Wie? Du zweifelst noch daran?«
»Nein«, sagte ich, um ihm nicht zu widersprechen. »Nur möchte ich Sie fragen, ob es solch eine Eile damit hat.«
»Jawohl! Die Zeit drängt! Die Zeit, die unwiederbringlich schnell entflieht!«
»Wir haben ja doch erst den 26. Mai und bis Ende Juni ...«
»Hm! Meinst du denn, Unwissender, dass man so leicht nach Island kommt? Wärest du nicht wie ein Narr vor mir weggelaufen, so hätte ich dich mit auf das Kopenhagener Büro zu Liffender & Cie. genommen. Da hättest du erfahren, dass von Kopenhagen nach Reykjavik nur einmal monatlich, am 22., ein Boot abgeht.«
»Und?«
»Und? Wenn wir bis zum 22. Juni warten würden, würden wir zu spät ankommen, um zu sehen, wie ›des Scartaris Schatten den Krater des Sneffels liebkost‹. Wir müssen daher so schnell wie möglich nach Kopenhagen kommen, um daselbst für die Überfahrt ein Beförderungsmittel zu finden. Geh und pack deinen Koffer!«

Darauf war kein Wort zu entgegnen. Ich begab mich wieder in mein Zimmer. Gretchen folgte mir nach und bemühte sich selbst, meine Reiseutensilien in einen kleinen Ranzen zu packen. Das betrübte sie doch weniger, als wenn es sich um einen Ausflug nach Lübeck oder nach Helgoland gehandelt hätte. Ihre kleinen Hände bewegten sich ohne Eile hin und her. Sie redete ruhig und zählte mir die plausibelsten Gründe zugunsten unserer Unternehmung auf. Sie wirkten zauberhaft auf mich und ich konnte ihr nicht zürnen. Manchmal, wenn ich aufbrausen wollte, achtete sie nicht darauf und setzte mit methodischer Ruhe ihre Arbeit fort. Endlich war der letzte Riemen des Ranzens geschnallt und ich kam herab ins Erdgeschoss.
Diesen Tag über kamen die Lieferungen von physikalischen Instrumenten, Waffen, elektrischen Apparaten noch häufiger. Die gute Martha verlor den Kopf.
»Ist der Herr ein Narr geworden?«, fragte sie mich.
Ich machte ein Zeichen der Bestätigung.
»Und er nimmt Sie mit?«
Gleiches Ja.
»Wohin soll es denn gehen?«, fragte sie.
Ich deutete mit dem Finger nach dem Innern der Erde.
»In den Keller?«, fragte die alte Dienerin.
»Nein«, antwortete ich, »noch tiefer hinab!«
Der Abend kam. Ich wusste gar nicht mehr, wie die Zeit verflossen war.

»Morgen früh«, sagte mein Onkel, »exakt um sechs Uhr reisen wir ab.«
Um zehn Uhr sank ich wie eine träge Masse auf mein Bett. Während der Nacht kam mir wieder die Angst. Ich träumte in einem fort von Abgründen! Ich verfiel dem Wahnsinn. Ich fühlte mich von des Professors starker Hand ergriffen, fortgezogen, in einen Schlund gestürzt. Ich fiel in unergründliche Schluchten hinab mit der wachsenden Schnelligkeit fallender Körper. Mein Leben war nur noch ein endloses Fallen. Um fünf Uhr wachte ich auf, zerschlagen von Erschöpfung und Aufregung. Ich begab mich ins Speisezimmer hinab. Mein Onkel saß am Tisch und schlang sein Frühstück hinunter. Ich blickte ihn mit einer Art Grauen an. Aber Gretchen war zugegen. Ich sprach nichts, konnte auch nichts essen. Um halb sechs Uhr hörte man das Rattern eines Wagens in der Straße. Es kam eine große Kutsche, die uns zur Altonaer Eisenbahn bringen sollte. Sie war bald mit den Koffern meines Onkels bepackt.
»Und dein Koffer?«, fragte er mich.
»Er ist gepackt«, antwortete ich und es wurde mir schwach.
»So bring ihn schnell herunter oder du bist schuld, wenn wir den Zug verpassen!«
Gegen mein Schicksal anzukämpfen, schien mir damals unmöglich. Ich begab mich wieder in meine Kammer, ließ meinen Ranzen die Treppe hinabrutschen und folgte hinterdrein. In diesem Augenblick gab mein Onkel die ›Zügel‹ seines Hauses in Gretchens Hände. Meine hübsche Vierländerin bewahrte ihre gewohnte Ruhe. Sie umarmte ihren Vormund, konnte aber, als sie meine Wange mit ihren süßen Lippen berührte, eine Träne nicht zurückhalten.
»Gretchen!«, sprach ich.
»Geh, lieber Axel, geh!«, sagte sie zu mir. »Du verlässt deine Braut, aber bei der Rückkehr findest du deine Frau.«
Ich schloss Gretchen in meine Arme, dann setzte ich mich in den Wagen. Martha und das junge Mädchen sagten uns von der Schwelle des Hauses aus Lebewohl. Darauf rannten die Pferde, durch das Pfeifen ihres Kutschers auf Trapp gebracht, im Galopp über die Altonaer Straße.
8. Auf dem Weg nach Island
ACHTES KAPITEL Auf dem Weg nach Island
V
on Altona aus, welches zu den Außenbezirken Hamburgs gehört, führt eine Eisenbahn nach Kiel, von wo wir ans Ufer des Belts gelangten. In zwanzig Minuten kamen wir auf holsteinisches Gebiet. Um halb sieben hielt der Wagen vor dem Bahnhof; die zahlreichen Gepäckstücke meines Onkels, seine umfangreichen Reiseartikel wurden abgeladen, transportiert, gewogen, etikettiert, in den Gepäckwagen verladen und um sieben Uhr saßen wir uns im selben Eisenbahnabteil gegenüber. Der Dampf zischte, die Lokomotive setzte sich in Bewegung. Wir befanden uns auf dem Weg. Ich hatte mich immer noch nicht damit abgefunden. Doch wirkten die frische Morgenluft, die bei der Schnelligkeit der Fahrt rasch erneuerten Eindrücke darauf hin, mich durch Zerstreuung aus meiner großen Befangenheit zu reißen. Die Gedanken des Professors eilten dem Zug, der für seine Ungeduld zu langsam fuhr, offenbar voraus. Wir befanden uns allein im Abteil, sprachen aber kein Wort miteinander. Mein Onkel überprüfte seine Taschen und seinen Reisesack mit sorgfältiger Aufmerksamkeit. Ich sah wohl, dass es ihm für die Ausführung seiner Pläne an nichts mangelte. Unter anderem hatte er ein sorgfältig zusammengelegtes Blatt Papier mit dem Wappen des dänischen Konsuls aus Hamburg, der ein Freund des Professors war. Mit Hilfe desselben konnten wir in Kopenhagen leicht Empfehlungen an den Gouverneur von Island bekommen. Ich bemerkte auch das merkwürdige Dokument in der geheimsten Tasche des Portefeuilles aufs Sorgfältigste verstaut. Ich verfluchte es aus tiefstem Herzen und sah mir das Land an. Es war eine ungeheure Reihe wenig abwechslungsreicher Ebenen, die einförmig, schlammig und ziemlich fruchtbar waren: Eine Landschaft, die zur Anlage von Eisenbahnen sehr geeignet war und gerade Linien zuließ, welche den Eisenbahngesellschaften so erwünscht sind. Aber diese Einförmigkeit konnte mir nicht einmal langweilig werden, denn bereits drei Stunden nach unserer Abfahrt hielt der Zug in Kiel zwei Schritte vom Meer entfernt. Da unser Gepäck nach Kopenhagen eingeschrieben war, brauchten wir uns nicht darum zu kümmern. Doch wurde es vom Professor während des Transports zum Dampfboot mit prüfenden Augen überwacht. Hier wurde es im unteren Schiffsraum eingelagert.