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Mein Onkel hatte bei seiner übermäßigen Eile die Stunden des Anschlusses von Dampfboot und Eisenbahn so wohl berechnet, dass wir einen vollen Tag zu verlieren hatten. Das Dampfboot ›Ellenora‹ ging nicht vor Abend ab. Daraus entsprang ein neunstündiger Fieberzustand, währenddessen der zornwütige Reisende die Schiffs- und Eisenbahnverwaltung zum Teufel wünschte, samt den Regierungen, welche dergleichen Missstände gestatteten. Ich musste darin einstimmen, als er den Kapitän der ›Ellenora‹ darüber zur Rede stellte. Er wollte ihn nötigen, unverzüglich heizen zu lassen. Der aber hieß ihn seines Weges gehen.
In Kiel muss wohl, wie anderwärts, ein Tag hinzubringen sein. Wir gingen an den grünen Ufern des Hafens entlang, in deren Hintergrund sich das Städtchen erhebt, spazieren, durchliefen die belaubten Gebüsche, welche ihm das Aussehen eines Nestes unterm Gezweig geben, die Villen zu bewundern, welche sämtlich mit Badehäuschen versehen sind; so kam unter Herumlaufen und Fluchen zehn Uhr abends heran.
Die Rauchwolken der ›Ellenora‹ wirbelten in die Lüfte; das Verdeck zitterte unter den Stößen des Dampfkessels; wir befanden uns an Bord im Besitz von zwei Lagerstätten übereinander in der einzigen Kammer des Bootes. Um zehn Uhr fünfzehn Minuten wurden die Anker gelichtet und der Dampfer fuhr rasch über die dunklen Fluten des Großen Belts. Es war dunkle Nacht, ein hübscher Seewind, und das Meer wogte stark; einige Feuer an der Küste schimmerten durch die Finsternis; später, ich weiß nicht wo, glänzte ein Leuchtturm hell über die Fluten. Um sieben Uhr früh landeten wir in Korsör, einem Städtchen an der Westküste Seelands. Hier stiegen wir unverzüglich in den Waggon einer weiteren Eisenbahn und fuhren durch eine Landschaft, die nicht minder flach war, als die Ebenen Holsteins. Nach drei Stunden gelangten wir in der Hauptstadt Dänemarks an. Mein Onkel hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich glaube, in seiner Ungeduld trat er den Waggon mit Füßen. Endlich gewahrte er eine Mündung ins Meer.
»Der Sund!«, rief er.
Zu unserer Linken befand sich ein ungeheurer Bau, der einem Spital glich.
»Das ist ein Irrenhaus«, sagte einer unserer Reisegefährten.
›Gut‹, dachte ich, ›da sollten wir bis ans Ende unserer Tage bleiben! Und so groß dies Spital ist, so wäre es doch zu klein für alle Narrheit des Professors Lidenbrock!‹
Endlich, um zehn Uhr, stiegen wir in Kopenhagen aus; das Gepäck wurde auf eine Kutsche geladen und mit uns zum Hotel ›Phönix‹ an der Bredgade gefahren. Das dauerte eine halbe Stunde, denn der Bahnhof liegt außerhalb der Stadt. Darauf nahm mich mein Onkel, nachdem er ein wenig seine Toilette geordnet hatte, mit sich. Der Portier des Hotels sprach deutsch und englisch, aber der Professor, der vieler Sprachen kundig war, fragte ihn in gutem Dänisch und auf Dänisch gab ihm der Mann an, wo das Museum der Nordischen Altertümer lag. In dieser merkwürdigen Anstalt sind eine Menge wunderbarer Dinge aufgestapelt, woraus man die Geschichte des Landes mit seinen alten Steinwaffen, seinen Humpen und Schmucksachen wieder aufbauen könnte. Der Direktor desselben, der gelehrte Professor Thomson, war ein Freund des hamburgischen Konsuls. Mein Onkel hatte einen Brief an denselben, der ihn warm empfahl. Im Allgemeinen empfängt ein Gelehrter den anderen ziemlich schlecht. Aber hier war es ganz anders. Als dienstfertiger Mann ließ Herr Thomson dem Professor Lidenbrock und selbst seinem Neffen einen herzlichen Empfang zuteil werden. Dass mein Onkel dem trefflichen Direktor gegenüber sein Geheimnis bewahrte, brauche ich wohl kaum zu sagen. Unsere Absicht bestand ganz einfach darin, Island als Liebhaber ohne Interesse zu besuchen. Herr Thomson stellte sich uns ganz zur Verfügung und wir liefen über die Quais, um ein abfahrendes Schiff zu finden. Ich hoffte, es werde ganz an Beförderungsmitteln fehlen, aber ich täuschte mich. Eine kleine dänische Corvette, die ›Valkyrie‹, sollte am 2. Juni nach Reykjavik in See stechen. Der Kapitän, Herr Bjarne, befand sich an Bord. Sein baldiger Passagier drückte ihm in seiner Freude tüchtig die Hände. Der wackere Mann war über diese Herzlichkeit etwas perplex. Er fand es ganz natürlich, dass er, wie es seine Aufgabe war, nach Island fahre. Meinem Onkel kam das als etwas Erhabenes vor. Der würdige Kapitän benutzte diesen Enthusiasmus, um uns für die Überfahrt doppelt bezahlen zu lassen. Aber wir machten uns daraus nicht viel. Herr Bjarne strich eine ansehnliche Summe Speziestaler ein und sagte: »Erscheinen Sie Dienstag um sieben Uhr früh an Bord.« Wir dankten Herrn Thomson für seine Bemühung und begaben uns ins Hotel ›Phönix‹ zurück.
»Das läuft ja prima! Prima!«, sprach mein Onkel. »Welch glücklicher Zufall, dass wir dieses Schiff zur Abfahrt bereit fanden! Jetzt wollen wir frühstücken und dann die Stadt besichtigen.«
Wir begaben uns zum Kongens-Nytorv, einem großen Platz, wo sich ein Posten befand mit zwei aufgemotzten unschuldigen Kanonen, die keinem Menschen Angst machen. Dicht daneben, im Haus Nr. 5, befand sich ein französisches Speiselokal, das von einem Koch namens Vincent geführt wurde. Dort frühstückten wir ausgiebig für den mäßigen Preis von vier Mark. Danach freute ich mich wie ein Kind darauf, die Stadt zu besichtigen; mein Onkel ließ sich führen; übrigens sah er nichts, weder den unbedeutenden Königspalast, noch die hübsche Brücke aus dem 17. Jahrhundert, die vor dem Museum über den Kanal führt, noch das ungeheure Grabmal Thorwaldsens, das an den Wänden mit abscheulichen Gemälden verziert ist und die Werke dieses Bildhauers enthält, noch in einem ziemlich schönen Park das allerliebste Schloss Rosenberg, noch den bewundernswerten Renaissance-Bau der Börse, noch deren Turm, der aus den verschlungenen Schwänzen von vier bronzenen Drachen gebildet ist, noch die großen Mühlen der Festungswerke, deren ungeheure Flügel gleich den Segeln eines Schiffes im Seewind schwellen. Was hätten wir da, meine hübsche Vierländerin und ich, für herrliche Spaziergänge entlang des Hafens machen können, wo die Zweidecker und Fregatten unter ihrer roten Bedachung ruhten, an dem grünen Gestade der Meerenge, durch das schattige Buschwerk, in dessen Schoße sich die Zitadelle birgt, deren Kanonen zwischen Holunder- und Weidenzweigen ihre schwarzen Mündungen hervorstrecken! Aber ach! Mein armes Gretchen war fern und konnte ich hoffen, sie jemals wiederzusehen?

Mein Onkel jedoch hatte kein Auge für diese Schönheiten. Umso mehr aber gefiel ihm ein Glockenturm der Insel Amak, welche den südwestlichen Teil Kopenhagens bildet. Wir richteten unsere Schritte dorthin, bestiegen ein kleines Dampffahrzeug, welches zum Verkehr auf den Kanälen diente, und in einigen Augenblicken legte es am Quai Dock-Yard an. Nachdem wir durch einige enge Straßen gekommen waren, wo Galeerensträflinge in halb gelben, halb grauen Hosen unter dem Stock der Aufseher arbeiteten, kamen wir zur Vor-Frelsers-Kirk. Diese Kirche bietet nichts Auffälliges. Dagegen wurde die Aufmerksamkeit des Professors durch einen ziemlich hohen Turm angezogen, um dessen Spitze sich von der Plattform an außen im Freien eine Treppe spiralförmig windet.
»Steigen wir hinauf!«, sagte mein Onkel.
»Und was ist mit meinem Schwindel?«, fragte ich.
»Dann umso eher, man muss sich gewöhnen.«
»Doch ...«
»Komm, sag ich dir, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Ich musste mich fügen. Der Küster, der gegenüber wohnte, gab uns einen Schlüssel und wir begannen hinaufzusteigen. Mein Onkel ging mit munterem Schritt voran. Ich folgte nicht ohne Angst nach, denn es wurde mir sehr leicht schwindelig. Die Haltung eines Adlers und die Unempfindlichkeit seiner Nerven besaß ich nicht. Solange wir uns in der inneren Schnecke befanden, ging alles gut. Aber nach etwa 150 Stufen wehte mir die Luft ins Gesicht; wir waren bis zur Plattform gekommen, von wo aus die Treppe in freier Luft begann, mit einem schwachen Geländer und Stufen, die stets enger wurden und bis zum Unendlichen zu führen schienen.
»Es ist mir nicht möglich! Niemals!«, sprach ich.
»Solltest du wohl so feige sein? Steig hinauf!«, entgegnete der Professor unnachgiebig.
Ich musste ihm durchaus folgen und klammerte mich an. In der freien Luft schwand mir die Besinnung; bei den heftigen Windstößen fühlte ich den Turm schwanken, meine Beine versagten mir den Dienst; ich rutschte bald auf den Knien, dann auf dem Leib; ich schloss die Augen, es wurde mir übel. Endlich, indem mein Onkel mich am Kragen fasste, kam ich bei der Kuppel an.
»Jetzt schau«, sagte er, »und schaue genau hin! Du musst lernen, in einen Abgrund zu blicken!«
Ich öffnete die Augen. Ich sah die Häuser platt und zusammengedrückt, wie mitten im Nebelrauch. Über meinem Kopf zog flockiges Gewölk und durch eine optische Täuschung schien es mir unbeweglich, während der Turm, die Kuppel, wir zugleich mit in fantastischer Eile fortgezogen wurden. In der Ferne sah man auf der einen Seite grüne Felder, auf der andern das im Sonnenlicht schimmernde Meer. Bei der Spitze von Helsingör breitete sich der Sund aus, mit etlichen weißen Segeln, und östlich zeigten sich im Nebel wogend die halb verwischten Gestade Schwedens. Dies alles zusammen wirbelte vor meinen Augen. Dem ungeachtet musste ich aufstehen, mich gerade halten, schauen. Meine erste Schwindel-Lektion dauerte eine Stunde. Als ich endlich wieder hinabsteigen und den festen Boden des Pflasters betreten durfte, war ich in allen Gliedern steif.
»Morgen wiederholen wir die Lektion«, sagte mein Professor. Und wirklich, fünf Tage wurde diese Schwindelübung fortgesetzt und ich machte, mit meinem und gegen meinen Willen, spürbare Fortschritte in der Kunst, von einem hohen Standort aus zu blicken.
9. Ankunft auf Island
NEUNTES KAPITEL Ankunft auf Island
D
er Tag der Abreise kam heran. Tags zuvor überbrachte uns der hilfsbereite Herr Thomson dringende Empfehlungsbriefe an den Statthalter Islands, den Grafen Trampe, den Koadjutor des Bischofs, Herrn Pictursson, und den Bürgermeister von Reykjavik, Herrn Finsen. Mein Onkel dankte ihm mit wärmstem Händedruck. Am 2., sechs Uhr früh, befand sich unser kostbares Gepäck an Bord der ›Valkyrie‹. Der Kapitän führte uns in ziemlich enge Kabinen.
»Haben wir günstigen Wind?«, fragte mein Onkel.
»Vorzüglichen«, antwortete Kapitän Bjarne. »Südost. Wir werden mit vollen Segeln aus dem Sund in die weite See stechen.«
Nach einer kleinen Weile stach die Goelette, mit Fockmast, Mars-, Brigg- und Bramsegel, in See und fuhr unter vollem Wind in die Meerenge ein. Eine Stunde danach schien die Hauptstadt Dänemarks fern in den Fluten zu versinken und die ›Valkyrie‹ fuhr entlang der Küste von Helsingör. Ich befand mich in gereizter Stimmung, glaubte Hamlets Schatten auf der Terrasse des alten Schlosses zu sehen, das übrigens weit jünger ist, als der heroische Prinz von Dänemark. Es dient gegenwärtig als noble Behausung des Pförtners am Sund, an der jährlich 15.000 Schiffe aller Nationen vorbeifahren. Das Schloss Kronborg verschwand bald im Nebel, ebenso der Turm von Helsingborg auf dem schwedischen Gestade, und die Goelette neigte sich ein wenig unterm Wehen der Seewinde des Kattegats. Die ›Valkyrie‹ segelte ausgezeichnet, aber auf ein Segelschiff kann man sich nie sehr verlassen. Es war für Reykjavik mit Kohlen, Haushaltsgegenständen, Töpferwaren, wollenen Kleidungsstücken und einer Ladung Getreide befrachtet. Fünf Mann, lauter Dänen, genügten als Besatzung.
»Wie lange wird die Überfahrt dauern?«, fragte mein Onkel den Kapitän.
»Zehn Tage etwa«, entgegnete dieser, »wenn wir nicht bei den Färöerinseln mit allzu viel Gegenwind aus Nordwest zu kämpfen haben.«
»Aber Sie werden sich dadurch doch nicht bedeutend verspäten?«
»Nein, Herr Lidenbrock; seien Sie beruhigt, wir werden schon zur rechten Zeit ankommen.«
Gegen Abend fuhr die Goelette um das Kap Skagen an der Nordspitze Dänemarks, dann während der Nacht durch den Skagerrak, streifte beim Kap Lindenäs an der Südspitze Norwegens vorüber und stach ins Nordmeer. Zwei Tage danach sichteten wir die schottische Küste bei Petterhead und die ›Valkyrie‹ fuhr zwischen den Orkney- und Shetlandinseln auf die Färöer zu. Bald glitt unsere Goelette über die Wogen des Atlantischen Ozeans; sie musste gegen den Nordwind lavieren und kam mit Mühe bei diesen Inseln an. Am 8. erkannte der Kapitän Myggenäs, die östlichste Insel dieser Gruppe, und von nun an fuhren wir gerade auf Kap Portland an der Südküste Islands zu. Es kam nichts Ungewöhnliches bei der Fahrt vor. Ich überstand leicht die Seekrankheit; mein Onkel war zu seinem großen Leidwesen beständig unwohl und schämte sich dessen. Er konnte also den Kapitän Bjarne nicht über den Sneffel, über die Verkehrsmittel und den Transport befragen. Er musste dies also auf seine Ankunft verschieben und brachte seine ganze Zeit liegend in seiner Kabine zu, deren Scheidewände vom Wogenschlag krachten. Er verdiente auch wirklich sein Schicksal ein wenig. Am 11. sichteten wir Kap Portland. Das damals helle Wetter ließ Myrdals Yokul, der es beherrscht, erkennen. Das Kap besteht aus einer starken, sich vereinzelt am Ufer erhebenden Anhöhe mit steilen Abhängen. Die ›Valkyrie‹ hielt sich in mäßiger Entfernung von den Küsten, indem sie entlang derselben westwärts mitten durch Schwärme von Hai- und Walfischen fuhr. Bald zeigte sich ein ungeheurer durchbrochener Felsen, durch welchen das schäumende Meer mit wütendem Brausen spritzte. Die Westman-Inselchen schienen wie hingesäte Felsen über dem Meeresspiegel emporzuragen. Von hier fuhr die Goelette weiter vom Land ab, um das Kap Reykjanäs, welches die Westspitze von Island bildet, in gehöriger Entfernung zu umsegeln. Mein Onkel war durch das starke Wogen des Meeres gehindert, das Deck zu betreten, um die ausgezackten Küsten zu bewundern. 48 Stunden später, nach einem Sturm, der mit eingeholten Segeln zu fliehen zwang, gewahrte man östlich die Boje der Spitze Skagen, deren gefährliche Felsen sich weithin unter dem Wasserspiegel ziehen. Es kam ein isländischer Lotse an Bord und nach drei Stunden ankerte die ›Valkyrie‹ in der Bucht Faxa vor Reykjavik. Nun kam der Professor endlich aus seiner Kabine heraus, etwas blass und zerschlagen, aber immer noch enthusiastisch, und aus seinen Augen leuchtete Befriedigung.
Am Kai strömte die Bevölkerung der Stadt, die sich für das ankommende Schiff ungemein interessierte, zusammen. Mein Onkel beeilte sich, um sein Gefängnis, um nicht zu sagen, sein Krankenhaus, zu verlassen. Bevor er aber von Deck stieg, zog er mich in den Vordergrund und zeigte mir mit dem Finger auf der Nordseite der Bucht einen hohen Berg mit zwei Spitzen, einen doppelten, mit ewigem Schnee bedeckten Kegel.
»Der Sneffels!«, sagte er. »Der Sneffels!«
Darauf, nachdem er mir mit einem Wink unbedingtes Schweigen anbefohlen hatte, stieg er in das Landungsboot, ich ihm nach, und bald betraten wir den Boden Islands. Sofort erschien ein stattlicher Mann in Generalsuniform. Es war jedoch nur ein Magistrat, der Statthalter der Insel, Baron Trampe, in eigener Person. Der Professor überreichte ihm seine Briefe aus Kopenhagen und es entspann sich eine kurze Unterhaltung in dänischer Sprache, woran ich mich, aus gutem Grunde, durchaus nicht beteiligte. Das Resultat war, dass der Baron Trampe sich dem Professor Lidenbrock völlig zur Verfügung stellte. Ein herzlicher Empfang wurde meinem Onkel von dem Bürgermeister Finsen zuteil, der gleich dem Statthalter in militärischer Uniform ebenso friedlichen Charakters war. Der Koadjutor Pictursson befand sich eben auf einer bischöflichen Rundreise im nördlichen Bezirk; wir mussten vorerst darauf verzichten, ihm vorgestellt zu werden. Aber der Professor der Naturwissenschaften an der Schule von Reykjavik, Herr Fridrickson, ein sehr hilfsbereiter Mann, gewährte uns einen sehr schätzbaren Beistand. Dieser bescheidene Gelehrte sprach nur Isländisch und Latein; er bot mir in letzterer Sprache seine Dienste an und wir konnten uns in derselben leicht verständigen. Er war auch in der Tat der einzige Mann, mit dem ich mich während meines Aufenthalts auf Island unterhalten konnte. Von den drei Zimmern, welche seine Wohnung enthielt, stellte uns der zuvorkommende Mann zwei zur Verfügung und wir richteten uns flugs bei ihm ein, über die Menge unseres Gepäcks waren die Bewohner von Reykjavik etwas erstaunt.

»Nun, Axel«, sagte mein Onkel. »Es wird gut gehen; die Hauptschwierigkeit liegt schon hinter uns.«
»Wie, die Hauptschwierigkeit?«, fragte ich verblüfft.
»Allerdings, wir brauchen nur noch hinabzusteigen.«
»Wenn Sie es so verstehen, haben Sie Recht; aber am Ende, denke ich, müssen wir auch wieder heraufkommen.«
»Oh! Das bereitet mir keine Sorgen! Wohlan! Es ist keine Zeit zu verlieren. Ich gehe nun in die Bibliothek, da findet sich vielleicht ein Manuskript von Saknussemm, das ich sehr gerne zu Rate ziehen würde.«
»Dann besichtige ich unterdessen die Stadt. Wollen Sie das nicht auch tun?«
»Das interessiert mich sehr wenig. Die Besonderheiten dieses Landes liegen nicht über, sondern unter der Erde.«
Ich ging aus und streifte umher. Sich in den zwei Straßen Reykjaviks zu verirren, wäre nicht leicht gewesen. Ich brauchte daher nicht nach dem Weg zu fragen, was in der Gebärdensprache auch zu Missverständnissen hätte führen können. Die Stadt zieht sich auf ziemlich niederem und sumpfigem Boden zwischen zwei Anhöhen hin. Auf der einen Seite ist sie von einer ungeheuren Lavaschicht bedeckt, die in allmählichen Stufen nach dem Meer zu abfällt; auf der andern erstreckt sich die ungeheure, nördlich von dem großen Gletscher des Sneffels begrenzte Bucht Faxa, worin eben die ›Valkyrie‹ das einzige vor Anker liegende Schiff war. Gewöhnlich liegen hier die englischen und französischen Fischerboote in Mengen; diese waren aber damals auf der Nordküste der Insel beschäftigt. Die längere der beiden Straßen von Reykjavik verläuft parallel zum Ufer; in derselben wohnen die Kauf- und Geschäftsleute in hölzernen Hütten, die aus roten, horizontal gelegten Balken aufgebaut sind; die andere läuft westlicher zwischen den Häusern des Bischofs und der anderen, nicht dem Handel angehörigen Personen einem kleinen See zu. Die trübseligen, düsteren Straßen hatte ich rasch durchschritten. Ich sah darin mitunter ein Stückchen farblosen Rasen gleich einem alten abgetragenen Teppich oder auch ein Fleckchen, das wie ein Nutzgarten aussah, mit etwas Gemüse, Kartoffeln, Kohl und Lattich, welches wohl für eine Liliputanertafel ausgereicht haben würde; einige kränkelnde Levkojen suchten auch am Sonnenstrahl Erquickung. Ungefähr in der Mitte der nicht geschäftlichen Straße fand ich, umgeben von einer Erdmauer, den öffentlichen Friedhof, bei dem es an Platz nicht mangelte. Hierauf, nach einigen Schritten, gelangte ich zur Wohnung des Statthalters, einem Gemäuer gleich dem Stadthause in Hamburg, einem Palast neben den Hütten der isländischen Bewohner. Zwischen dem kleinen See und der Stadt erhob sich die Kirche, die im protestantischen Stil aus verkalktem, von den Vulkanen ausgeworfenem Gestein erbaut war; durch die argen Westwinde wäre ihr Dach aus rotem Ziegelstein augenscheinlich in alle Lüfte zerstreut worden. Auf einer nahen Anhöhe erblickte ich die Nationalschule, wo man, wie ich danach von unserem Hauswirt hörte, die hebräische, englische, französische und dänische Sprache lehrte, von welchen vier Sprachen ich, zu meiner Schande, nicht ein Wörtchen verstand. Ich wäre unter den vierzig Schülern dieses kleinen Gymnasiums der schlechteste gewesen, und nicht würdig, mit ihnen in den Schränken mit zwei Abteilungen zu schlafen, worin die schwächeren in der ersten Nacht ersticken konnten.

In drei Stunden hatte ich nicht allein die Stadt, sondern auch ihre Umgebung gemustert. Im Allgemeinen ein höchst trauriger Anblick. Keine Bäume, sozusagen keine Vegetation. Überall lebende Spitzen vulkanischen Gesteins. Die Hütten der Isländer sind aus Erde und Torf gebaut, ihre Wände nach innen geneigt. Sie sehen wie Dächer aus, die unmittelbar auf dem Boden ruhen. Nur sind diese Dächer Wiesen, die einigermaßen sprießen. Infolge der Wärme ihrer Bewohner sprießt das Gras darauf sogar ziemlich gut und man mäht es zur Zeit der Heuernte sorgfältig ab, sonst würden die Haustiere auf den grünen Dächern weiden.
Während meines Spaziergangs begegneten mir nur wenige Leute. Auf dem Heimweg durch die gewerbliche Straße fand ich die meisten Einwohner beschäftigt, Kabeljau zu trocknen, zu salzen und einzuladen; denn dies ist der Hauptausfuhrartikel. Die Menschen schienen kräftig, aber schwerfällig, Musterstücke von blonden Deutschen mit bedachtem Auge, die sich etwas außerhalb der menschlichen Gesellschaft fühlen, arme, in dieses Eisland verwiesene Verbannte, welche die Natur dazu verurteilte, auf dieser Grenze des Polarkreises zu leben! Ich bemühte mich vergebens, ein Lächeln auf ihrem Antlitz wahrzunehmen; manchmal lachten sie wohl aus unwillkürlicher Muskelbewegung, niemals aber kam es zur Freundlichkeit eines Lächelns. Ihre Tracht bestand in einem groben Rock aus schwarzer Wolle, die in den skandinavischen Ländern unter dem Namen ›vadmel‹ bekannt ist, einem breitrandigen Hut, Hosen mit roter Borde und einem Stück Leder, das zu einer Art Fußbekleidung zusammengelegt ist. Die Frauen, von traurigem Aussehen, zeigten ziemlich angenehme, aber ausdruckslose Züge; ihre Kleidung bestand aus Leibchen und Rock aus dunklem ›vadmel‹; die Mädchen trugen ihr Haar in Zöpfen geflochten unter einem braunen gestickten Häubchen; die Verheirateten hatten als Kopfbedeckung ein buntes Tuch, worüber sich eine Verzierung aus weißem Leinen befand.
Als ich nach diesem hübschen Spaziergang in die Behausung des Herrn Fridrickson zurückkam, fand ich meinen Onkel bereits in Gesellschaft seines Hauswirts.
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