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– Viel Aufsehen? rief ein leidenschaftlicher Artillerist.
»Sehr viel Aufsehen, im echten Sinne des Worts«, erwiderte Barbicane.
– Nicht unterbrechen! rief es von anderen Seiten.
»Ich bitte Sie also, wackere Collegen, fuhr der Präsident fort, mir Ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken.«
Unwillkürliche Bewegung ergriff die Versammlung. Barbicane rückte rasch seinen Hut und drückte ihn fest, dann fuhr er mit ruhiger Stimme fort:
»Es ist keiner unter Ihnen, wackere Collegen, der nicht den Mond gesehen, oder mindestens von ihm sprechen gehört hätte. Wundern Sie sich nicht, daß ich Sie hier über das Gestirn der Nacht unterhalte. Vielleicht ist's uns vorbehalten, für diese unbekannte Welt die Rolle des Columbus zu spielen. Begreifen Sie mich, unterstützen Sie mich mit allen Kräften, so will ich Sie führen, diese Eroberung zu machen, und der Name des Mondes wird sich denen der sechsunddreißig Staaten anreihen, welche den großen Bund dieses Landes bilden.«
– Hurrah dem Mond! rief der Gun-Club wie mit einer Stimme.
»Man hat viel Studien über den Mond gemacht, fuhr Barbicane fort. Seine Masse, Dichtigkeit, sein Gewicht und Umfang, seine Beschaffenheit, Bewegungen, Entfernung, seine Rolle in der Sonnenwelt sind nun genau bekannt; man hat Mondkarten gefertigt, welche an vollkommener Ausführung den Erdkarten wenigstens gleich kommen, wofern sie dieselben nicht übertreffen; die Photographie hat von unserem Trabanten Musterbilder von unvergleichlicher Schönheit geliefert. Kurz, man weiß von dem Mond Alles, was die mathematischen Wissenschaften, Astronomie, Geologie, Optik uns lehren können; aber bis jetzt ist noch nie ein directer Verkehr mit demselben hergestellt worden.«
Bei diesem Satz des Redners gab sich eine heftige Bewegung des Interesses und der Ueberraschung zu erkennen.
»Gestatten Sie mir, fuhr derselbe fort, mit einigen Worten daran zu erinnern, wie einige glühende Geister in phantasievollen Reisebeschreibungen vorgaben, die Geheimnisse unseres Trabanten ergründet zu haben. Im siebenzehnten Jahrhundert rühmte sich ein gewisser David Fabricius, die Bewohner des Mondes mit eigenen Augen gesehen zu haben. Im Jahre 1649 veröffentlichte ein Franzose I. Beaudoin, eine Reise in den Mond, von dem spanischen Abenteurer Dominico Gonzalez unternommen. Zu derselben Zeit ließ Cyrano de Bergerac die berühmte Expedition, welche in Frankreich so viel Erfolg hatte, erscheinen. Später schrieb ein anderer Franzose, Fontenelle mit Namen, über die Mehrheit der Welten ein Hauptwerk; aber die Wissenschaft überbietet in ihrem Fortschritt auch die Meisterwerke! Um's Jahr 1835 erzählte ein aus dem New-York Americain übersetztes Werkchen, Sir J. Herschel, der zum Zweck der astronomischen Studien an's Cap der guten Hoffnung gesendet worden war, habe vermittelst eines vervollkommneten Teleskops den Mond bis auf eine Entfernung von achtzig Yards nahe gebracht. Da habe er ganz deutlich Höhlen beobachtet, worin Flußpferde hausten, grüne mit Goldsaum befranzte Berge, Schöpfe mit Hörnern von Elfenbein, weiße Rehe, Bewohner mit pergamentgleichen Flügeln, wie bei den Fledermäusen. Dieses von einem Amerikaner Namens Locke verfaßte Werkchen hatte großen Erfolg. Bald aber erkannte man darin eine Mystification der Wissenschaft, und die Franzosen lachten zuerst darüber.«
– Ueber einen Amerikaner lachen! rief J. T. Maston, da haben wir ja einen Casus belli . . .
»Beruhigen Sie sich, mein würdiger Freund. Bevor die Franzosen lachten, haben sie sich von unserem Landsmanne vollständig anführen lassen. Ich füge bei, daß ein gewisser Hans Pfaal aus Rotterdam in einem Ballon, der mit Stickstoffgas gefüllt war, welches fünfunddreißigmal leichter als Wasserstoffgas ist, in neunzehn Tagen bis zum Mond gelangte. Diese Reise war, gleich der vorausgehenden, nur eine Phantasie-Unternehmung, aber sie hatte einen populären amerikanischen Schriftsteller, der ein Genie von seltenem Tiefsinn war, Poë, zum Verfasser.«
– Hurrah dem Edgar Poë! rief die Versammlung voll Begeisterung.
»So viel, fuhr Barbicane fort, von den Versuchen, die als lediglich wissenschaftlich durchaus ungenügend sind, um ernstlich Verbindungen mit dem Gestirn der Nacht einzurichten. Doch muß ich hinzufügen, daß einige praktische Geister den Versuch machten, sich wirklich mit ihm in Verbindung zu setzen. Vor einigen Jahren machte ein deutscher Geometer den Vorschlag, eine Commission von Gelehrten in die Steppen Sibiriens zu schicken. Dort solle man auf ungeheuer ausgedehnten Ebenen unermeßliche geometrische Figuren mit Hilfe beleuchteter Metallspiegel entwerfen, unter anderen das Quadrat der Hypothenuse, das die Franzosen gewöhnlich »Eselsbrücke« nennen. »Jedes intelligente Wesen«, sagt der Geometer, »muß die wissenschaftliche Bedeutung dieser Figur begreifen. Wenn es nun Mondbewohner giebt, so werden sie mit einer ähnlichen Figur antworten, und ist einmal die Verbindung eingerichtet, so ist's keine schwere Sache, ein Alphabet zu schaffen, welches in Stand setzt, sich mit den Bewohnern des Mondes zu unterhalten.« So lautet der Vorschlag des deutschen Geometers, aber er kam nicht zur Ausführung, und bis jetzt ist noch keine directe Verbindung zwischen der Erde und ihrem Trabanten eingerichtet. Aber es ist dem praktischen Genie der Amerikaner vorbehalten, die Verbindung mit der Sternenwelt in's Leben zu rufen. Das Mittel dafür ist einfach, leicht, sicher, unfehlbar; mein Vorschlag wird's Ihnen auseinandersetzen.«
Lautes Beifallgeschrei, ein Sturm von Zurufen erfolgte. Es war auch nicht ein Einziger unter den Anwesenden, der nicht von den Worten des Redners bewältigt, hingerissen wurde.
– Hört! Hört! Stille doch! rief man auf allen Seiten.
Als es wieder ruhig geworden, fuhr Barbicane mit ernsterer Stimme fort:
»Sie wissen, welche Fortschritte die Ballistik seit einigen Jahren gemacht hat, und zu welch hohem Grade der Vollkommenheit diese Waffen gelangt wären, wenn der Krieg fortgedauert hätte. Ebenso ist's Ihnen im Allgemeinen nicht unbekannt, daß die Widerstandskraft der Kanonen und die Treibkraft des Pulvers ohne Grenzen sind. Nun! von diesem Grundgedanken ausgehend, habe ich mir die Frage gestellt, ob es nicht, vermittelst hinreichender Vorrichtung innerhalb bestimmter Widerstandsbedingungen, möglich wäre, ein Geschoß bis zum Mond zu entsenden!«
Bei diesen Worten entfuhr ein staunendes »Oh!« aus beklommener Brust von Tausenden; dann nach einer kleinen Pause, gleich der Stille, welche dem Donner vorausgeht, entlud sich ein gewitterartiger Beifallssturm von Schreien und Rufen, daß der Sitzungssaal davon erbebte. Der Präsident versuchte zu sprechen; vergebens. Erst nach zehn Minuten konnte er zum Wort kommen.
»Lassen Sie mich ausreden, fuhr er kalt fort. Ich habe die Frage unter allen Gesichtspunkten betrachtet, habe sie entschlossen angefaßt, und aus meinen unbestreitbaren Berechnungen ergiebt sich, daß jedes Geschoß, das mit einer anfänglichen Geschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde in der Richtung nach dem Mond hin abgeschleudert wird, nothwendig dort anlangen muß. Ich habe daher die Ehre, meine wackeren Collegen, Ihnen dieses kleine Experiment vorzuschlagen!«
Drittes Capitel.
Welchen Eindruck Barbicane's Mittheilung machte.
Der Eindruck, welchen diese letzten Worte des ehrenwerthen Präsidenten machten, läßt sich nicht beschreiben. Das war ein Schreien! ein Grunzen! ein Rufen mit Hurrah! Hip! Hip! Hip! und allen den Naturlauten, woran die amerikanische Sprache so reich ist; es war ein Getümmel, ein Lärmen ohne Gleichen! Die Kehlen schrieen, die Hände klatschten, die Füße stampften den Boden. Kein Wunder das: es giebt Kanoniere, die im Lärmen mit ihren Kanonen wetteifern.
Barbicane bewahrte mitten in diesem Enthusiasmus seine Kaltblütigkeit; seine Handbewegungen forderten vergebens zur Stille auf, die donnernden Töne seiner Glocke wurden nicht gehört. Man riß ihn von seinem Präsidentenstuhl und trug ihn im Triumph umher.
Ein Amerikaner läßt sich nicht in Bestürzung versetzen. Für den Begriff »unmöglich« findet sich in seinem Wörterbuch kein Ausdruck. In Amerika ist Alles leicht, einfach, die mechanischen Schwierigkeiten sind wie todtgeboren. Ein wahrer Yankee war nicht im Stande, nur einen Schein von Schwierigkeit zwischen Barbicane's Vorschlag und seiner Ausführung zu erkennen. Gesagt, gethan.
Der Triumphzug des Präsidenten dauerte den ganzen Abend! es war ein echter Fackelzug. Irländer, Franzosen, Schotten, alle die gemischten Nationalitäten, woraus die Bevölkerung Marylands besteht, schrieen in ihrer Muttersprache, und es mischten sich die Vivat! Hurrah! und Bravo! in einem Schwung, der über alle Beschreibung geht.
Luna, als begriffe sie, daß es sich um sie handle, strahlte in heiterer Pracht, die irdischen Feuer verdunkelnd. Alle Yankees richteten die Blicke nach ihrer glänzenden Scheibe; die Einen grüßten sie mit der Hand, die Anderen mit zärtlichen Worten; diese maßen sie mit den Augen, Andere drohten mit der Faust: ein Optiker hatte bis Mitternacht nur Augengläser zu verkaufen. Frau Luna wurde wie eine Dame der hochvornehmen Welt lorgnettirt, und das mit einer Rücksichtslosigkeit, wie sie amerikanischen Gutsbesitzern eigen ist. Gerade als gehöre die blonde Phöbe bereits ihren kühnen Eroberern an als Gebietstheil der Union. Und doch handelte sich's erst darum, ein Geschoß zu ihr zu schleudern: eine ziemlich brutale Art Verbindungen anzuknüpfen, selbst gegenüber einem Trabanten; doch ist sie unter den civilisirten Nationen sehr in Gebrauch.
Es war Mitternacht, und der Enthusiasmus war auf seinem Höhepunkt, verbreitete sich gleichmäßig unter allen Klassen der Bevölkerung: die Stadtbehörden, Gelehrten, Großhändler und Kaufleute, Lastträger, verständige Leute und Gelbschnäbel, fühlten sich bis in die zartesten Fasern des Daseins aufgeregt; es handelte sich um eine Nationalunternehmung; so waren denn auch die Ober- und Unterstadt, die Quais an den Ufern des Patapsco, die Fahrzeuge in ihren Bassins dicht voll gedrängt von einer Menge im Rausch der Freude, des Gin und Whisky; jeder plauderte, schwatzte, disputirte, discutirte, billigte, klatschte, von dem Gentleman, der auf dem Kanapee der Schenkstube vor seinem Schoppen Sherry-Cobbler flegelhaft hingestreckt lag, bis zu dem Bootsmann, der in den dunkeln Kneipen von Fells-Point sich mit »Knock me down« betrank.
Gegen zwei Uhr legte sich die Aufregung. Nun gelang es dem Präsidenten heim zu kommen, wie ein geräderter Mann. Es gehörte eine Herkulesnatur dazu, solch einen Enthusiasmus zu bestehen. Die Menge auf den Straßen verlief sich allmälig. Die vier Eisenbahnen, welche in Baltimore zusammentreffen, nach dem Ohio, Susquehanna, Philadelphia und Washington, führten das auswärtige Publicum nach den vier Weltgegenden zurück, und die Stadt kam wieder in einen verhältnißmäßig ruhigeren Zustand.
Uebrigens wäre es ein Irrthum, wenn man glaubte, nur zu Baltimore habe diesen Abend solche Aufregung geherrscht. Die großen Städte der Union, New-York, Boston, Albany, Washington, Richmond, Crescent-City, Charleston, Mobile, von Texas bis Massachussets, von Michigan bis Florida, nahmen alle Theil an der Schwärmerei der Begeisterung. Die dreißigtausend correspondirenden Mitglieder des Gun-Clubs kannten ja den Brief ihres Präsidenten, und warteten mit gleicher Ungeduld auf die merkwürdige Mittheilung des 5. October. Sowie daher die Worte des Redners seinen Lippen entströmten, wurden sie noch denselben Abend von den Telegraphendrähten durch alle Staaten der Union befördert, mit einer Schnelligkeit von zweihundertachtundvierzigtausendvierhundertsiebenundvierzig (engl.) Meilen in der Secunde. Man kann also ganz bestimmt sagen, daß die Vereinigten Staaten Amerikas, welche zehnmal so groß als Frankreich sind, in demselben Augenblick in einem einzigen Hurrah zusammen stimmten, und daß fünfundzwanzig Millionen Herzen, von Stolz geschwellt, denselben Pulsschlag fühlten.
Am folgenden Morgen nahmen fünfzehnhundert Journale, Tags- und Wochenblätter, monatliche und zweimonatliche Zeitschriften, die Frage in Betrachtung; sie prüften dieselbe unter den verschiedenen Gesichtspunkten, dem physischen, meteorologischen, ökonomischen oder moralischen, auf dem Standpunkt des Uebergewichts in Politik oder Civilisation. Man fragte, ob denn der Mond ein fertiger Weltkörper sei, oder noch Umbildungen unterworfen. Glich er der Erde zu der Epoche, da dieselbe noch keine Atmosphäre hatte? Welchen Anblick würde seine unsichtbare Seite unserer Erdkugel darbieten? Obwohl es sich nur erst darum handelte, eine Kugel dahin zu schleudern, so sahen doch Alle, daß eine Reihe von Untersuchungen von diesem Punkte ausgehen würden; Alle gaben sich der Hoffnung hin, Amerika werde in die tiefverhüllten Geheimnisse der mysteriösen Scheibe dringen, und Manche schienen sogar zu befürchten, seine Eroberung werde auffallend das europäische Gleichgewicht stören.
Nachdem das Project besprochen war, setzte kein einziges Blatt seine Ausführbarkeit in Zweifel; die von den gelehrten, wissenschaftlichen oder religiösen Gesellschaften herausgegebenen periodischen Blätter, Brochüren, Bulletins, Magazine strichen seine Vortheile heraus, und die »Gesellschaft für Naturgeschichte« zu Boston, die »Amerikanische Gesellschaft der Wissenschaften und Künste« zu Albany, die »Geographische und Statistische Gesellschaft« zu New-York, die »Amerikanische Philosophische Gesellschaft« zu Philadelphia, das »Smithson'sche Institut« zu Washington, sendeten in tausend Zuschriften dem Gun-Club Glückwünsche, mit unverzüglichen Anerbietungen von Geld und Dienstleistung.
Darum, kann man kecklich versichern, gab's auch nie einen Vorschlag, dem so viele Anhänger zufielen; von Zweifeln, Bedenken, Besorgnissen war keine Rede. In Europa, zumal in Frankreich, hätte wohl die Idee, ein Geschoß bis zum Mond zu schleudern, Scherzreden, Caricaturen, Spottlieder hervorgerufen: so etwas hätte sich Jemand nicht einfallen lassen dürfen; kein »Lebenssicherer« auf der Welt hätte gegen die allgemeine Entrüstung geschützt. In der neuen Welt giebt's Dinge, die über's Lachen hinaus sind.
Impey Barbicane wurde daher von dem Tag an den größten Bürgern der Vereinigten Staaten angereiht, er galt etwa für einen Washington der Wissenschaft. Ein einziger Zug kann unter anderen zeigen, bis zu welchem Grad die Hingebung eines Volkes an einen Mann plötzlich gestiegen war.
Einige Tage nach der famosen Sitzung des Gun-Clubs kündigte der Director einer englischen Theatertruppe zu Baltimore das Shakespeare'sche »Viel Lärmen um Nichts« an. Da das Stadtvolk darin eine verletzende Anspielung auf die Projecte Barbicane's sah, drang es in den Theatersaal, zertrümmerte die Bänke und nöthigte den unglücklichen Director, seinen Zettel abzuändern. Als gescheiter Mann beugte er sich dem Volkswillen, setzte an die Stelle des leidigen Stücks desselben Dichters »Wie es Euch beliebt,« und bekam einige Wochen beispiellos enorme Einnahmen.
Viertes Capitel.
Gutachten des Observatoriums zu Cambridge.
Inzwischen verlor Barbicane inmitten der Huldigungen, die ihm zu Theil wurden, keinen Augenblick. Vor allem ließ er die Bureaux des Gun-Clubs zu einer Berathung sich versammeln. Man beschloß, über die astronomische Seite des Unternehmens die Astronomen zu befragen; sodann auf Grund eines Gutachtens derselben sich über die technischen Mittel zu bereden, um nichts zu versäumen was den Erfolg des großen Versuchs sichern könne.
Es wurde daher ein klar und genau abgefaßtes Schreiben mit speciellen Fragen redigirt, und an das Observatorium zu Cambridge in Massachussets gerichtet. Dieser Sitz der ersten Universität in den Vereinigten Staaten ist durch sein astronomisches Bureau sehr berühmt. Da finden sich die verdienstvollsten Gelehrten und das weitreichende Teleskop, mit dessen Hilfe Bond das Nebelgestirn Andromeda durchdrang und Clarke den Trabanten des Sirius entdeckte. Das Vertrauen des Gun-Clubs zu diesem Institut war also in jeder Hinsicht gerechtfertigt.
Zwei Tage nachher traf die so ungeduldig erwartete Antwort beim Präsidenten Barbicane ein. Folgendes ihr Wortlaut:
Der Director des Observatoriums zu Cambridge an den Präsidenten des Gun-Clubs zu Baltimore.
Cambridge, 7. Oktober.
»Bei Empfang Ihres geehrten, unterm 6. d. im Namen der Mitglieder des Gun-Clubs zu Baltimore an das Observatorium zu Cambridge gerichteten Schreibens hat sich unser Bureau unverzüglich versammelt und für angemessen erachtet, folgendermaßen zu antworten:
Die ihm vorgelegten Fragen sind:
»1. Ist's möglich, ein Wurfgeschoß auf den Mond zu schleudern?
»2. Welches ist genau berechnet die Entfernung der Erde von ihrem Trabanten?
»3. Binnen welcher Zeit hätte das Geschoß bei einer hinreichenden Anfangsgeschwindigkeit diese Distanz zu durchfliegen; folglich in welchem Zeitpunkt wird man es abschleudern müssen, damit es in einem bestimmten Moment auf dem Mond eintreffe?
»4. In welchem Zeitpunkt wird der Mond genau in der Stellung sich befinden, welche am günstigsten ist, daß er von demselben getroffen werde?
»5. Nach welchem Punkt am Himmel wird das Geschütz zu richten sein, womit das Projectil abgeschossen werden soll?
»6. An welcher Stelle wird sich der Mond am Himmel befinden, wann das Geschoß abfliegen wird?
»Die Antwort auf die erste Frage ist:
»Ja, es ist möglich, ein Projectil auf den Mond zu schleudern, wenn es gelingt, demselben eine Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde zu geben. Richtiger Berechnung nach reicht diese Geschwindigkeit hin. Je weiter man sich von der Erde entfernt, nimmt die Schwerkraft ab im umgekehrten Verhältniß des Quadrats der Entfernung, also z.B. für eine dreimal größere Entfernung bedarf's einer neunmal geringeren Bewegkraft. Folglich wird die Schwere des Geschosses reißend abnehmen und endlich völlig aufhören im Moment, wo die Anziehungskraft der Erde von der des Mondes aufgewogen wird, d. h. bei siebenundvierzig Zweiundfünfzigtheilen der Entfernungslinie. In diesem Moment wird das Projectil keine Schwerkraft mehr haben, und sowie es noch weiter fliegt, wirkt die Anziehungskraft des Mondes auf dasselbe ein, und es fällt auf den Mond. Theoretisch ist hiermit die Möglichkeit des Experiments bewiesen; ob es gelingt, hängt allein von der Kraft der angewendeten Maschine ab.
»Auf die zweite Frage lautet die Antwort:
»Der Mond beschreibt bei seinem Umlauf um die Erde nicht einen Kreis, sondern eine Ellipse, worin unsere Erdkugel einen der Brennpunkte einnimmt; demnach befindet sich der Mond in einer bald näheren, bald weiteren Entfernung von der Erde, astronomisch ausgedrückt, bald in der Erdnähe, bald in der Erdferne. Nun ist der Unterschied zwischen seinem weitesten und nächsten Abstand ziemlich bedeutend, so daß man im besonderen Fall denselben nicht unberücksichtigt lassen darf. Die größte Entfernung des Mondes beträgt nämlich zweihundertsiebenundvierzigtausendfünfhundertzweiundfünfzig Meilen (= neunundneunzigtausendsechshundertvierzig Lieues zu vier Kilometer), die geringste nur zweihundertachtzehntausendsechshundertsiebenundfünfzig (= achtundachtzigtausend und zehn Lieues), so daß der Unterschied achtundzwanzigtausendachthundertundfünfundneunzig (= elftausendsechshundertunddreißig Lieues) beträgt, also mehr als den neunten Theil der Umlaufslinie. Der Abstand der Erdnähe muß nun den Berechnungen zu Grunde gelegt werden.
»Auf die dritte Frage:
»Wenn das Geschoß die Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde, welche man ihm beim Abschießen gäbe, unverändert beibehielte, so bedürfte es nur etwa neun Stunden, um an dem Ort seiner Bestimmung anzulangen; da aber diese Geschwindigkeit in zunehmendem Verhältniß sich beständig vermindert, so wird es aller Berechnung nach dreihunderttausend Secunden brauchen, d. h. dreiundachtzig Stunden und zwanzig Minuten, um an den Punkt zu gelangen, wo die Anziehungskraft der Erde und des Mondes sich aufwiegen, und von diesem Punkt an bedarf es noch fünfzigtausend Secunden, oder dreizehn Stunden, dreiundfünfzig Minuten und zwanzig Secunden, um auf den Mond zu fallen. Man muß es also siebenundneunzig Stunden, dreizehn Minuten und zwanzig Secunden eher abschießen, als der Mond an dem Punkt, wohin man zielt, ankommen wird.
»Auf die vierte Frage:
»Nach dem Gesagten muß man zuerst die Zeit der Erdnähe des Mondes wählen, und zugleich den Moment, wo er sich im Zenith befinden wird, wodurch die Linie, welche das Geschoß zurückzulegen hat, um das Maaß eines Erdradius kürzer wird, nämlich um dreitausendneunhundertundneunzehn Meilen; so daß die zu durchlaufende Linie definitiv zweihundertvierzehntausendneunhundertsechsundsiebenzig Meilen (= sechsundachtzigtausendvierhundertundzehn Lieues) betragen wird. Aber wenn auch der Mond allmonatlich in seine Erdnähe kommt, so steht er in dem Moment nicht immer im Zenith: ein Zusammentreffen, welches nur in langen Zwischenräumen stattfindet. Solch ein Zusammentreffen der Erdnähe mit dem Zenithstand ist also abzuwarten. Glücklicherweise wird am vierten December folgenden Jahres sich bei dem Mond diese doppelte Bedingung ergeben: um Mitternacht wird er in seine Erdnähe treten, d. h. seinen kürzesten Abstand von der Erde, und zu gleicher Zeit wird er im Zenith stehen.
»Auf die fünfte Frage:
»Die vorausgehenden Bemerkungen zu Grunde gelegt, wird das Geschütz auf den Zenith des Ortes gerichtet werden müssen; dergestalt wird der Schuß perpendiculär auf die Fläche des Horizonts gehen, und das Geschoß wird um so schneller der Anziehungskraft der Erde entzogen. Aber damit der Mond in den Zenith eines Ortes zu stehen komme, darf dieser Ort nicht unter höherem Breitegrad liegen, als die Abweichung dieses Gestirns vom Aequator beträgt, mit anderen Worten, er muß zwischen 0° und 28° nördlicher oder südlicher Breite sich befinden. An jedem anderen Ort würde der Schuß nothwendig in schiefer Richtung geschehen, was dem Gelingen des Experiments hinderlich sein würde.
»Auf die sechste Frage:
»Im Augenblick, wo das Projectil in den Weltraum geschleudert wird, muß der Mond, der in seiner Bahn täglich dreizehn Grad, zehn Minuten und fünfunddreißig Secunden läuft, sich viermal so weit vom Zenithpunkt entfernt befinden, nämlich zweiundfünfzig Grad, zweiundvierzig Minuten und zwanzig Secunden, denn so lange wird er noch zu laufen haben. Aber da man auch die Abweichung in Anschlag bringen muß, welche die Bewegung der Erde um ihre Achse bei dem Geschoß hervorbringen wird, und da dasselbe erst nach einer Abweichung von sechzehn Halbdurchmesser der Erde auf dem Mond ankommen wird, welche auf der Mondscheibe gemessen ungefähr elf Grad ausmachen, so muß man diese elf Grad noch zu denen hinzurechnen, welche die erwähnte Zögerung des Mondes ausdrücken, nämlich rund vierundsechzig Grad. So wird also im Moment des Schusses die nach dem Mond gerichtete Sehlinie mit der verticalen des Ortes einen Winkel von vierundsechzig Grad bilden.«
So lauteten die Antworten, welche auf die dem Observatorium zu Cambridge von den Mitgliedern des Gun-Clubs gestellten Fragen ertheilt wurden. Resumiren wir:
»1. Das Geschütz muß in einem Land zwischen 0° und 28° nördlicher oder südlicher Breite aufgestellt werden.
»2. Es muß auf den Zenith des Ortes gerichtet werden.
»3. Dem Geschoß muß eine anfängliche Geschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde gegeben werden.
»4. Es muß am ersten December des folgenden Jahres um elf Uhr, weniger dreizehn Minuten und zwanzig Secunden, abgeschossen werden.
»5. Es wird vier Tage hernach, am vierten December, Punkt zwölf Uhr Nachts, in dem Moment, wo der Mond in den Zenith treten wird, dort anlangen.
»Die Mitglieder des Gun-Clubs müssen also unverzüglich die für eine solche Unternehmung erforderlichen Arbeiten vornehmen, um zu dem bestimmten Zeitpunkt zum Operiren bereit zu sein; denn, lassen sie diesen vierten December vorübergehen, so werden sie erst achtzehn Jahre und elf Tage hernach den Mond wieder in demselben Verhältniß der Erdnähe und des Zeniths finden.
»Das Bureau des Observatoriums zu Cambridge stellt sich ihnen für die Fragen theoretischer Astronomie zu Verfügung, und vereinigt seine Glückwünsche mit denen ganz Amerikas.
»Für das Bureau:
J. M. Belfast, Director des Observatoriums zu Cambridge.«