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Lucian Vicovan
Kein Tanz wie jeder andere
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
Kein Tanz wie jeder andere
von Lucian Vicovan
überarbeitet von Lara Fraisl
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.
1
Ein “Norte”, wie sie ihn hier in Tampico nennen - also ein schreckliches Unwetter - verbot mir für zwei Tage mein Haus zu verlassen. Ein grässliches Naturschauspiel. Mit fast sechzig Kilometer pro Stunde fegte der Wind über die Strände, durch die Lagunen und mit einem lauten Pfeifen auch durch das kleine Häuschen, welches ich seit kurzem bezogen hatte. Es war so stark, dass es sogar den Buchstaben “R” aus der bunten und fröhlichen Installation am Strand von Miramar ausriss und wegtrug.
Zwei Tage, in denen mir nicht viel anderes übrig blieb, als dem Pfeifen zu lauschen, aus dem Fenster zu schauen, wie der einzige Baum, der hinter meinem Haus stand in allen Richtungen geschüttelt wurde und auf ein baldiges Vorbeiziehen zu hoffen. Spät nachts, da an Schlaf nicht zu denken war, ging ich wieder in die Küche, um mir einen weiteren Kurzen des ortsüblichen Tequila´s zu gönnen. Nachdem das erledigt war, spürte ich, wie das einzige Buch das im Haus lag mir in die Seele starrte.
“Luczizcki, Luczizcki, Luczizckiiiii!”, schien es mir zuzuflüstern.
Verstehen sie mich nicht falsch, im Grunde finde ich Bücher sehr schick. In einem schön dekorierten Haus gehören sie einfach dazu, das will ich nicht abstreiten. In meinem Häuschen war es aber mehr als fehl am Platz. Nicht nur wegen der nicht vorhandenen Dekoration, vor allem auch wegen des Misstrauens, welches ich gegenüber Büchern und den Menschen, die sie öffnen, hege. Bringen Sie mich an jeden Platz dieser Erde und ich werde Ihnen mit einem Blick sagen können, welche Menschen sich dem Bücherlesen hingeben und welche, so wie ich, sie zwar als Dekoration dulden, aber nie auf den Gedanken kommen würden, ihre so knapp bemessene Zeit damit zu verschwenden aus ihnen zu lesen. Woran ich das erkenne, fragen Sie? Nun ich werde Ihnen einen Weg verraten, wie Sie es selber herausfinden können.
Nehmen Sie jemanden aus Ihrem Freundeskreis, jemanden so wie wir, einen gewöhnlichen Herbert, einen mit dem Sie gerne trinken zum Beispiel, den Sie gut kennen, dessen Körpersprache und Gestik Ihnen wohlbekannt ist und von dem Sie vor allem wissen, dass er höchstens die Zeitung liest. Drücken Sie ihm ein Buch in die Hand, zusammen mit dem Versprechen einer Summe Geld, sollte er das Buch lesen. Ich würde meinen dreißig Euro sollten genug sein, um jedem den nötigen Ansporn zu bieten. Nun warten Sie ab und beobachten, merken Sie die Änderungen in seiner Körpersprache, seiner Gestik, hören Sie ihm zu, was er spricht und wie er spricht. Glauben Sie mir, Sie werden erstaunt sein und mit allergrößter Wahrscheinlichkeit sich gezwungen sehen, einen neuen Trinkkumpanen zu finden. Jemandem, dem die Bücher zu Kopf steigen - und das ist so sicher wie das “Amen” in der Kirche oder das “Prost” in der Kneipe, die Bücher steigen jedem, der sich ihnen hingibt zu Kopf - will man nicht mehr an seinem Stammtisch haben. Jetzt aber genug davon.
Es war also nachts, der Wind pfiff und rüttelte durch und an den Fenstern, ich hatte ein Drittel der Flasche schon intus, das Buch wollte mich weiterhin wie eine Meerjungfrau mit schönen, geheimnisvollen Rufen in seinen Bann ziehen.
“Luczizcki, bleib stark!”, befahl ich mir und ging zurück zum Fenster.
Von links nach rechts, von rechts nach links bog und beugte sich der Baumstamm, wie jemand, der sich nicht recht entscheiden konnte, in welche Richtung er gehen wollte. Ich sinnierte ein wenig über die Unentschlossenheit, dann über Bäume, dann über die Nacht, die Dunkelheit, dann verfluchte ich den, der diese undichten Fenster einbaute, dann den, der so etwas überhaupt herstellte, den Glasmacher, die Bauarbeiter und den Vermieter. Später verfluchte ich Menschen, die gerne pfeifen. Was um alles in der Welt hatte es damit auf sich? Wieso würde jemand pfeifen? Manche geben sich dem Pfeifen sogar mit einer unglaublichen Leidenschaft hin, begleiten all ihre Tätigkeiten mit diesen Klängen. Was kann einer bitteschön gegen die Ruhe haben? Was ist so schlimm daran, wenn es still ist? Die Vorderzähne sollte man ihnen allen ausschlagen, die zwei Schneidezähne, sodass jeder gleich weiß, aha, das ist einer von den Komischen, die gerne pfiffen. Vor diesen Charakteren sollte man sich unbedingt in Acht nehmen.
Schon allein der Gedanke an diesen Schlag Menschen stieß mir so sauer auf - ich brauchte mehr Tequila.
“Luczizcki, Luczizcki, Luczizckiiiiii!”
Ich wischte mir mit der Rückhand über den Mund, setzte das Glas mit einem lauten Knall auf dem Tisch ab und schaute in die Richtung des Buches. Ehe ich mich versah hatte ich schon den Namen des Autors (Gabriel García Márquez) und den Titel (Hundert Jahre Einsamkeit) gelesen.
“Nun, Luczizcki, wenn du schon so weit gekommen bist, kannst du ja einmal umblättern, du wirst es ja jederzeit weglegen können.”, sprach ich mir zu.
Ich näherte mich also vorsichtig und nahm es in die Hand, dann schaute ich über die Schulter, es könnte mich ja jemand durch das Fenster beobachten, der zufällig meine Trinkkumpane kannte und ihnen davon erzählen. Dann erinnerte ich mich, dass ich mich fernab von Österreich in Mexiko befand und noch nie einen Trinkkumpanen hatte, mit dem ich nicht schon nach dem zweiten Mal nebeneinandersitzen zu streiten oder gar zu raufen angefangen habe. Also beruhigte ich mich wieder, schlich zur Bank vor dem Fenster und öffnete das Buch.
“Luczizcki, bist du da?” Es klopfte am Fenster, ich sprang auf. Aus dem rechten Mundwinkel rann ein kleiner Streifen Speichel. Ich zog den Vorhang zur Seite. Diana meine Nachbarin stand davor.
“Wo sollte ich sonst sein?”
“Zieh dir eine Hose an, wenn du mit einer Frau sprichst, Luczizcki, du bist hier nicht in Europa.”
“Mir wird dieses Gespräch aufgezwungen, ich hätte gern noch etwas geschlafen.” Sie hatte eine Jacke an obwohl die Sonne schien. Ich öffnete die Türe und suchte nach meiner Hose.
„¡Qué Dios!”, entfuhr es ihr, “hier stinkt es ja wie auf einer Nerzpelzfarm.” Sie trat ein in die Dunkelheit die zurückgekehrt war, nachdem ich den Vorhang losgelassen hatte. Sie steuerte geradewegs darauf zu, riss ihn zur Seite und das Fenster auf - die Tür krachte zu.
“Ich bin ja schon munter, hör auf mit dem Krach.”
“Sag einmal, Luczizcki? Hast du die ganze Flasche alleine gesoffen?” Sie war sichtlich entsetzt, ich immer noch auf der Suche nach meiner Hose. Wenn ich mich nur daran erinnern könnte, was ich am Vorabend getrieben hatte.
“Es waren zwei lange Tage.”
Die Hose schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
“¡Dios y todos sus santos!”
`Diese Mexikaner und ihre Heiligen!´, dachte ich, während ich Schublade nach Schublade aufriss. In einer fand ich eine kurze Hose - die musste vorerst genügen.
“Du musst wieder aus dem Haus, Luczizcki! Du bist schon seit einer Woche in Tampico und ich hab dich noch nie außerhalb des Hauses gesehen.”
“Verfolgst du mich etwa?”
“Ich habe einen zwölf Stunden Job und auch ohne den hätte ich viel besseres zu tun, aber Sorgen macht mir das schon.”
“Mir machen deine Arbeitsstunden Sorgen, ich befehle dir trotzdem nicht daheimzubleiben.”
Falls ich mich recht erinnere, arbeitete sie als Ärztin für PEMEX, das Ölunternehmen, welches so gut wie jeden einzelnen Einwohner dieser Stadt, der im arbeitsfähigen Alter war, anstellte. Es könnte aber auch sein, dass sie Zahnärztin oder Tierärztin war, bei unserem bislang einzigen Treffen war ich betrunken, also unfähig Informationen entsprechend zu verarbeiten.
“Ich dachte, du gehörtest zu diesen unternehmungslustigen und spannenden Ausländern, einer mit dem man Spaß haben könnte.”
“Wenn du mit Spaß Alkohol meinst, dann liegst du da gar nicht einmal so falsch.”
“Ich hätte mich nie mit dir eingelassen Luczizcki, hätte ich gewusst, dass du nichts weiter als ein Säufer bist, davon haben wir schon genug in Mexiko.”
“Du warst einfach rattig und wolltest es mit dem Europäer treiben, ich kann dir keinen Vorwurf machen.” Ich wollte nachsehen, ob ich etwas Essbares im Kühlschrank finden konnte, obwohl ich schon lange nichts hineingetan habe. Dort lag meine Hose, schön zusammengefaltet.
“Macht man das so bei euch in Europa?” Sie war hinter mir aufgetaucht, ich habe sie nicht kommen gehört.
“Was meinst du?”
“Na, alles, die Hose im Kühlschrank aufbewahren, unfreundlich zu den Frauen sprechen...”
“Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen, lass uns Essbares suchen gehen.”
“Ich kann dir ein paar Spiegeleier machen, mit Schinken, zwei Bananen liegen auch noch rum. Du solltest einkaufen gehen und diesmal nicht nur Alkohol.” Das ‚sollte’ gefiel schon mir schon eher, als das vorher verwendete ‚musst’, ich entschied mich freundlicher zu sein.
“Ein Freund von mir spielt heute bei der Eröffnung einer Kunstausstellung im ‚Metropolitana’, magst du mich begleiten?” Fragte sie mich mit honigsüßer Stimme.
“Kunst? Ausstellung? Was soll das? Was willst du von mir?”
“Jetzt stell dich nicht so an!” Sie gab mir einen leichten Schubser, lachte und zeigte mir ihre strahlendweiße Zahnreihe. Sie sah umwerfend aus, so viel musste ich ihr zugestehen.
“Sag, magst du es manchmal zu pfeifen?”
“Pfeifen?” Sie blickte verwundert, dann pfiff sie kurz. “Meinst du das?”
“Ja!” Jetzt stellte ich sie mir ohne die zwei Vorderzähne vor - verdammt, sie würde immer noch gut aussehen, nur eben ohne Vorderzähne.
“O Dios, was fallen dir nur für Sachen ein? Wieso fragst du so etwas? Oder warte mal, ist das irgendeine schmutzige Anspielung?”
“Nein, ich wollte nur wissen, ob du manchmal pfeifst.”
“Nein, ich denke nicht, keine Ahnung.”
“Gut, ich mag das nämlich gar nicht.”
“Ich freue mich, darüber gesprochen zu haben,” sagte sie und schüttelte den Kopf “kommst du rüber?”
“Ich muss nur noch schnell meine Hose wärmen.” Antwortete ich, legte die Selbige auf die Bank und setzte mich darauf.
“Klopf einfach bei mir an, wenn du so weit bist. Ich bereite schon einmal alles vor.” Sie ging kopfschüttelnd aus dem Haus.
“Eine Kunstausstellung, hast du das gehört Luczizcki, was bildet sie sich ein, wer ich bin?” sagte ich zu mir selbst und musste fast kurz lachen. Dann blickte ich zur Flasche, sie war leer, dann suchte ich nach dem Glas. Vielleicht habe ich mir ja noch das letzte Bisschen eingeschenkt und vergessen auszutrinken. Ich fand das Glas unter der Bank, leer, daneben lag das Buch, ich hatte es beinahe fertiggelesen.
“Das ist alles deine Schuld, Gabriel García Márquez!” Sagte ich mit lauter, verärgerter Stimme. “So fängt das ganze Unglück an, zuerst lese ich, danach gehe ich zur Kunstausstellung und ehe ich mich versehe, rauche ich Pfeife und erkenne genauestens, welche anderen Früchte zum Aroma des jeweiligen Rotweins beitragen. Was hab ich nur angerichtet?“
Ich saß auf der Hose und verfluchte den Nordwind, Mexiko, Bücher, Gabriel García Márquez, Buchstaben, Wörter, Kunst, Ausstellungen aller Art, Wolken, den Kühlschrank und als ich ansetzten wollte, auch meine Nachbarin mit einigen Flüchen zu versehen, fielen mir keine neuen noch ungebrauchten mehr ein. Stattdessen dachte ich an ihren nackten Körper, ihren vollen Busch und daran, wie sehr ich so einen Busch davor vermisst hatte. In Zeiten wie unseren wurden sie immer rarer und schwieriger zu finden. Was kann eine Frau schon gegen einen Busch haben? Die Welt wird verrückt.
Später zog ich mir die Hose an und ging hinüber, klopfte an, wurde hereingebeten, frühstückte, und wir trieben es miteinander bis sie zu ihrer Schicht musste.
3
“Es kommen kaum noch junge Leute zu solchen Ausstellungen, weißt du? Das ist sehr traurig, Luczizcki.”
“Mhh.” Meine Antwort fiel sehr kurz aus. Ich fand, es reichte, dass ich sie begleitete, gezwungenermaßen wohlgemerkt. Ich brauchte mich nicht auch noch an der Konversation zu beteiligen, die sie mir aufzuzwingen versuchte.
“Weißt du, alles worum es in dieser Stadt geht, ist das schwarze Gold, das Erdöl. Alle Jungs wollen einen Job in der Raffinerie ergattern, alle Mädchen wollen einen Mann finden, der in der Raffinerie arbeitet, am besten schon mit sechzehn. Dann beeilen sie sich schnell einen Haufen Kinder in die Welt zu setzen und mit Ende zwanzig, Anfang dreißig lassen sie sich scheiden und starten eine neue Familie mit jemand anderem.” Sie sprach so, als würde sie mir einen Gefallen damit tun. Sie bildete sich wohl ein, es würde mich interessieren, wie und was und wieso die Menschen hier machten was sie machten.
“Aha!” sagte ich, während sie ihr kleines orangenes Auto durch den Abendverkehr lenkte. Die Straßen waren voll. Menschen, die alle in der gleichen Arbeitskluft (grau mit grünen reflektierenden Streifen) unterwegs waren, sprangen aus oder in Busse, kreuzten die Straße, standen in kleinen Grüppchen herum, schwatzten, lachten, rauchten, riefen sich Sachen zu. Manche gingen in oder verließen die Restaurants, oder was auch immer hier am Stadtrand als Restaurant durchging - allem Anschein nach war es kurz nach Schichtwechsel.
“Schau sie dir nur an, sie alle führen ein so eintöniges Leben, manchmal könnte ich vor Mitleid weinen. Ihre Ehe- und Beziehungsdramen liefern die einzigen Abwechslungen und das aber immer mit bitterem Beigeschmack. Wie kleine Ameisen, schau sie dir an, sie sehen jetzt in der Dunkelheit sogar alle gleich aus.” Es war Anfang Dezember, es wurde schon um sechs Uhr abends dunkel.
Ich schaute sie mir an, aber nicht, weil sie es mir auftrug, ich hätte sie auch so angesehen. Tatsächlich sahen sie nicht sehr glücklich aus. Dann bildete sich ein Loch in den Wolken und wir hatten freie Sicht auf den letzten Vollmond des Jahres.
“Siehst du das? Hast du es gesehen? Sieh hin! Wie ein Wolfsmond.”
Ich sah schon dort hin. Wieso liebte sie es so sehr, die Ziele für meine Augen zu bestimmen? Wieso konnte sie mich nicht frei wählen lassen, wohin ich meine Augäpfel richtete und was ich ins Visier nahm?
“Schön!” sagte ich und meinte es auch, ich fand es wirklich schön.
“Weißt du, an Vollmondnächten gebären ungewöhnlich viele Frauen, der Mond hat solch eine starke Wirkung auf die Schwerkraft.”
“Aha.” Eine weitere Portion unnützes Wissen. Ich würde nie schwanger werden, auch hatte ich nicht vor noch irgendjemanden zu schwängern. Zwei Kinder, die nichts von mir wissen wollten waren mehr als genug, und die Schwangeren Anderer interessierten mich sowieso nicht. Aber so war sie nun einmal, meine Nachbarin Diana, sie spuckte Wissen aus, wie dieser komische Clown, der auf der Kärtnerstraße in der Wiener Innenstadt Seifenblasen in die Luft bläst.
“Ich weiß was du brauchst!” Sie rief diesen Satz und zog ruckartig am Lenkrad. Das Auto verließ die Straße und blieb nach einer Vollbremsung wenige Zentimeter vor dem Ladenfenster eines OXXO-Supermarktes stehen.
“Warte hier!”, befahl sie. Ich kämpfte immer noch damit, mein Herz zu beruhigen, das mir wegen der brüsken und unerwarteten Wendung und der darauffolgenden Notbremsung gegen den Adamsapfel klopfte.
Sie ging hinein und dann zielstrebig auf die Kassiererin zu. Ein kurzer Wortaustausch fand statt, die Kassiererin deutete auf eine der Flaschen, die ihren Platz hinter der Kasse hatten. Diana schüttelte den Kopf, der Finger wanderte weiter zu einer kleineren Flasche (verflixt!) jetzt nickte Diana. Sie segneten den Handel ab, das Geld wanderte in die Kasse, Diana schnappte sich die Flasche und kam zurück. Sie lachte mir zu, zwinkerte sogar mit einem Auge und als ob das nicht schon genug war, sandte sie mir einen Kuss zu. Ich hatte nur Augen für die Flasche.
“Ich werde auf keinen Fall den ganzen Abend mit so einem mürrischen Kerl an meiner Seite verbringen, nimm, trink!”
Sie sagte mir all das, noch bevor sie zurück ins Auto stieg, reichte mir die Flasche zuerst und setzte sich dann erst hin.
Nun, das waren Befehle, mit denen ich viel eher etwas anzufangen wusste. Ich setzte an und nahm drei große Schlucke.
“Luczizcki, du bist ein Tier, unmöglich bist du! Dass du mir dort ja keine Szene machst!” Ich lachte auf, zum ersten Mal an dem Tag. Genauso wild wie sie von der Straße abgefahren war, fädelte sie sich auch wieder in den Verkehr ein.
4
Entgegen dem, was Diana vorausgesehen hatte, war das “Metropolitano” sehr gut besucht, wir mussten das Auto sehr weit vom Eingang auf einer Wiese parken.
“Was ist da nur los? Unmöglich, dass die Alle wegen der Ausstellung hier sind.” Ich sagte nichts und trank einen weiteren Schluck, dann noch einen und während sie den Motor aus machte und ihre Sachen zusammensuchte, noch einen.
“Jetzt gib mir auch etwas davon! Ich hab es nicht nur für dich gekauft.” Ich reichte ihr die Flasche, sie trank in kleinen Schlucken. Auf dem Weg zum Eingang läutete ihr Handy, sie entschuldigte sich, hob ab, ich stand rum und sah viele schick hergerichtete junge Menschen das lichterfüllte Gebäude betreten.
“Das war meine beste Freundin, sie macht sich Sorgen um mich, du musst wissen, in letzter Zeit verschwinden Frauen hier in Tampico. Erst letzte Woche stieg eine junge Frau in ein Taxi ein, meldete sich noch per SMS bei ihrer Mutter und war dann unauffindbar. Einige Tage später fand man ihre Leiche.”
“Schrecklich, aber ich bin ja bei dir.”
“Luczizcki! Dein erster vollständiger Satz seitdem wir das Haus verlassen haben.” Sie lachte vergnügt. Der Tequila hatte mir mittlerweile die Ohren erwärmt und die Augen befeuchtet.
“Ándale, jetzt versteh ich alles, ¡Dios mío!”, rief sie aus, als wir in den Eingangsbereich des modernen “METRO”, wie es in der Kurzform heißt, eintraten.
“DER NUSSKNACKER, DIE EINZIGE VORFÜHRUNG DES SANKT PETERSBURGER BALLET IN UNSERER STADT!”
War auf Plakaten, die an jeder Säule hingen ausgeschrieben.
“Das müssen wir uns unbedingt ansehen!”, rief meine Nachbarin begeistert.
“Unbedingt!”, rief der Tequila aus mir.
Sie wartete erst gar nicht, sondern ging schnurstracks zu dem Fenster, wo man sich Karten kaufen kann.
“Wo möchtest du sitzen?”, fragte sie mich, als ich sie einholte.
“Ganz oben!”
Danach ging sie aufs Klo. Ich wartete mit den Karten in der Hand und fragte mich, wie es nur so weit kommen konnte. Bevor der „Norte“ Tampico erreichte, war ich ein Mensch, der zwar nicht genau wusste welche Richtung sein Leben am besten einschlagen sollte und was ich mit meiner Zeit und den wenigen verbleibenden Jahren meiner ersten Lebenshälfte (vorausgesetzt ich sollte es bis sechzig schaffen, was ich meines Ermessens nach, als das beste Alter sah um sein Reitgeschirr abzugeben) anstellen sollte. In achtundvierzig Stunden hat mein Leben jedoch eine Wendung genommen, die unerwartet, zuvor unvorstellbar und beängstigend war. Ja, ich gebe es zu, ich fürchtete mich vor dem was vor sich ging. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Zuerst das Buch (ich erfrischte schnell meine Flüche gegenüber Gabriel García Márquez) und jetzt das, eine Kunstausstellung besuchen und in derselben Nacht auch noch ein Ballett ansehen!
`Der Herr sei mir gnädig, hoffentlich bekommt das alles niemand von meinem Stammtisch mit!´ Ich erinnerte mich wieder, dass ich an keinem Stammtisch willkommen war, war mir aber gleichzeitig sicher, dass jeder Barkeeper in Linz mich auslachen und mir aus Spott statt Bier nur noch Radler servieren würde, sollte das jemals an ihre Ohren gelangen.
Aus einem der verschlossenen Räume drang Applaus nach draußen. Ich erinnerte mich vage an den sozialen Zwang, welcher einem bei solchen Veranstaltungen auferlegt wird. Man musste den Artisten und ihre Leistung mit Applaus bedenken. Wozu in aller Welt benötigten sie Applaus? Als ich neben Diana die Sitze auswählte, erhaschte ich einen kleinen Blick auf die Preisliste. Demnach sollten die Artisten uns, denen, die es geschafft haben, sich dieses Geld anzusparen, applaudieren. Eine verrückte und verkehrte Welt war das, mein lieber Mann, und ich war kopfüber, wie durch ein magisches Loch im Boden in sie gefallen. (Bleibe ewig verflucht Gabriel García Márquez, in Ewigkeiten!).
Diana gab den Eindruck ihren ganzen Körper zu duschen. Was machen Frauen sonst so lange im Bad? Man rechne nur die Lebenszeit die eine Frau im Bad verbringt und die der Männer, die mit dem Warten und Starren auf eine Toilettentüre vergeudet wird. Schrecklich!
Ich schritt durch den Eingangsbereich und fand am äußeren, rechten Ende einen Raum mit einer kleineren Bilderausstellung. “FLORETE” stand in weißen Buchstaben auf einer schwarzen Wand geschrieben, darunter ein langer Text. Ohne mich nach meiner Meinung zu fragen, begannen meine Augen den Text zu lesen. Ein gewisser Herr Sosa, ein Sohn Tampicos, hat sich demnach die Geschlechterfrage gestellt und bemerkt, dass niemand die Blumen danach fragte, ob die nun männlich oder weiblich wären. Man bewundert und liebt sie für ihre Schönheit und Zartheit. Da hat er weitergedacht und sich vorgestellt, dass auch Männer zart sein, sich mit Grazie bewegen können und “mehr” (Gott weiß, was damit schon wieder gemeint war). Ich schnaufte, erinnerte mich aber sofort, dass ich eigentlich nichts gegen Schwule hatte und fest die Meinung vertrat, dass jeder Einzelne tun und lassen sollte, wie es ihm beliebte. Also entschied ich mich, keine Abfälligkeit zu zeigen, sondern einfach ohne hinzusehen an den Bilder vorbei zu spazieren, denn dahinter sah ich ein Männerklo. Ein Viertel von der Flasche war noch übrig, ich hatte es dringend nötig.
“Wo warst du denn so lange?”, fragte mich Diana, als ich nach einer Minute, zwei großen Schlucken und drei Mal Würgen, wobei ich einem wütenden Eisbär sehr ähnlich klang, vor der Damentoilette eintraf.
Eine bodenlose Frechheit, ich sagte aber nichts, hauptsächlich weil ich befürchtete, dass sich mein Magen entleeren würde, sollte ich meinen Mund auch nur einen Spaltbreit öffnen. Ich hörte erneut Applaus. Diana fand heraus zu welchem Eingang wir mussten. Wir fanden unsere Plätze, ich lies mich in den weichen Klappstuhl hoch oben im Saal fallen und atmete tief durch, ein und aus, ein und aus. Mein Magen grölte noch einmal, mir schossen Tränen in die Augen, doch dann legte sich alles wieder und langsam aber sicher konnte ich immer klarer werdende Umrisse auf der Bühne erkennen. Diese hüpften und liefen herum, drehten und schoben sich, zogen sich zueinander, hoben sich in die Luft.
`Was in aller Welt?´
Langsam erkannte ich ein Schema, da gab es eine Prinzessin, sie trug ein hellblaues Kleid. Es gab die schwarzen Gestalten mit langem Schwanz. Sie stahlen die Weihnachtsgeschenke, dann kamen die roten Soldaten. Die Musik stoppte, ein Schuss, eine von den beschwänzten Figuren wurde nach hinten geschleudert, aber von seinen Kumpanen aufgefangen. Ich klatschte wie wild - als Einziger.
“Psssschhhhht!”, zischte Diana neben mir und packte mich am Knöchel.