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Um Mitternacht wenigstens schlich er nach der grüngestrichnen Bank im Friedrichshain, aber die Sonne schien ja nicht! Und zu allem Mißgeschick fand er noch so ein verdammtes Paar auf seinem Lieblingsplatz, und hinter dem Busch glaubte er plötzlich eine Uniform auftauchen zu sehen.
Da zitterte er und enteilte, floh durch die nachtstillen Straßen wie ein gejagter Hund und verkroch sich wieder weit draußen im Dunkel in einer halb eingestürzten Bretterbude.
Die Sonne des neuen Tages zog freundlich auf, aber nicht für den Flüchtling. Der lag in seinem Versteck auf dem Bauch, hatte die Ellbogen aufgestützt und stemmte den schweren Schädel zwischen die Hände.
Er versuchte zu schlafen, aber wirre Phantasien beunruhigten ihn, er träumte mit offenen Augen. Uniformen mit blinkenden Knöpfen umstellten das Feld.
– – – Bataillon marrrsch! Ganzes Bataillon kehrt! – –
Vor seinen Ohren schrillte das Pfeifen der Piccoloflöte, der Tambour schlug die Trommel: »trom, trom« – jedes »trom« fühlte er im Kopf, im Herzen. Bei jedem Trommelwirbel ging ihm ein Zittern durch Mark und Bein. Der Affe drückte, der Schießprügel rieb die Schulter wund, er wollte beide abwerfen, aber sie waren festgewachsen, sie gingen nicht herunter, so sehr er auch zerrte. Und seine Hände zitterten so.
Der Atem stockte ihm. Durst, Durst!
Der furchtbare Staub, den all die Beine aufwirbelten, erstickte ihn fast, die Kehle brannte wie Höllenfeuer, ordentlich eng wurde sie. Er tastete nach der Flasche im Sande neben sich – ha, nur ein Schluck!
Donnerwetter, schon wieder leer! Mit einem Fluch ließ er sie fallen. Er wurde ganz schwach; kaum, daß er noch Energie genug besaß, seinen schwammigen Leib halb aus dem morschen Lattenhaufen heraus zu schieben und mit blutunterlaufenen, verquollenen Augen über’s Feld zu spähen.
Ach, es war ja keine Seele da! Erleichtert atmete er auf.
Pah, sie würden’s schon längst aufgegeben haben, ihn zu suchen! Er war dumm, daß er noch Angst hatte. Wer dachte noch an ihn?! Sonst kümmerte sich ja auch keiner um ihn, ob er lebte oder tot war, das war allen ganz schnuppe!
Warum sollte er sich nicht ruhig wieder trauen, nach der grüngestrichenen Bank zu gehen und sich in die Sonne zu setzen?
Und so saß er denn wieder auf dem Lieblingsplatz, streckte behaglich die Beine weit von sich in den Sand, vergrub die Hände in die Hosentaschen, hatte die Mütze tief über die Augen gerückt und ließ sich’s warm über den Buckel und in den Magen rieseln. Unbeweglich saß er, wie eine Figur aus dem Panoptikum; er lauschte dem Gesang der Vögel, die am großen Froschteich in den Büschen jubilierten.
Freundlich von der Sonne beschienen, fand ihn die Polizei.
*
Der Reservist Papeczinski war schlapp geworden.
Eine mörderische Hitze brannte auf die Haide. Die Stiefel wurden grau bis hoch zu den Schäften hinauf, bei jedem Tritt sank der Fuß tief in losen Wüstensand. Und fort ging’s doch im Geschwindtritt, den Tornister auf dem Buckel, den schweren Helm auf der Stirn. Eine lähmende Müdigkeit lag in der Luft; eine Staubwolke, dicht wie ein unzerreißbares Gewebe, hüllte die Kolonne ein.
Am Himmel keine Sonne; lastend gleich einem durchglühten Bleidach drückte die Wolkendecke. Grau, grau, alles grau bis weit zu dem im Dunst verschwimmenden Kieferngestrüpp.
Die Mannschaft lechzte – wenn doch ein erlösendes Donnerwetter käme! Lieber naß bis auf die Knochen, als diese stumme, dumpfe, grausame Schwüle! Die Stirnen glühten dunkelrot, große Schweißperlen rollten zäh über die staubbemalten Backen und gruben ihre Spuren ein als hellere Rinnen. Kein Wort war zu hören; die Blicke starr geradeaus gerichtet, die Beine mit gewaltsamer Anstrengung aus dem dürren umstrickenden Heidekraut herausreißend, stampften die Soldaten weiter.
Da hatte Papeczinski plötzlich an seine Stirn gefühlt, und sein wirrer Blick war nach einem Halt umhergerollt. Der ganze Mann fing an zu taumeln, ließ das Gewehr fallen, griff mit beiden Händen wild um sich.
Sein Nebenmann packte ihn unter den Arm.
»Unteroffizier du jour! Unteroffizier du jour!«
Da war der auch schon. Er schwitzte auch und fluchte innerlich über die Rennerei in der Hitze; aber er war sowas gewohnt, martialisch stand er da.
»Was’s denn los? Wieder so’n Kerl schlapp jeworden? Lazarettjehilfe! Man los, ’rin mit ihm in ’n Jraben!«
Sie faßten ihn unter den Schultern und bei den Beinen und schleiften ihn in den Graben unter den halbentblätterten Busch, der keinen Schatten mehr gab.
Der Erkrankte hatte die Augen glasig halb offen stehen und röchelte; der Unteroffizier und der Lazarettgehilfe blieben bei ihm zurück, während die Kolonne weitertrottete in Staub und Schweiß.
»Besoffenes Schwein!« schimpfte der Unteroffizier und stieß den Liegenden mit der Fußspitze an.
»Schwitzt nich mal«, brummte der Lazarettgehilfe, der dem Regungslosen den Rock geöffnet und die Binde gelockert hatte.
Sie legten ihm seinen Tornister unter den Kopf und machten ihm Umschläge mit dem bißchen Wasser, das sie im halbausgetrockneten Graben fanden; aber, wenn sie ihm auch den letzten Schwurr auf dem Helm ganz über den Kopf gossen, daß die trübe Lake ihm an den Ohren entlang den Hals herunter rieselte, er kam nicht zu sich. Nur als der Gehilfe ihm die Feldflasche zwischen die Lippen preßte, schien sein Leben wieder zu erwachen; gierig schluckte er, um gleich danach mit einem Stöhnen die Lippen fest zusammenzukneifen – ’s war nur kalter Kaffee in der Flasche.
Der Hauptmann selbst kam angesprengt, um sich nach dem Kranken umzusehen. Auf hohem Roß hielt der Vater der Kompanie am Grabenrand, fuchtelte mit dem Säbel und beorderte dieses und jenes.
»Kannibalische Hitze – armer Teufel – machen Sie doch mal künstliche Atmung, Kittelmann! So – – –!“
Der Lazarettgehilfe vergoß Ströme von Schweiß; er hatte Rock und Tasche abgeworfen und arbeitete nun hemdärmelig an dem Patienten herum.
»Unangenehme Geschichte! Der Mann wird mir doch nicht eingehen?!« Der Hauptmann war sehr besorgt und zögerte noch; sein ungeduldig scharrender Gaul warf dem Untenliegenden ganze Ladungen Sand in’s Gesicht.
Da fing der Kranke unvermutet an zu lallen, ganz ungereimtes Zeug; der Unteroffizier und der Lazarettgehilfe, die sich geschäftig über ihn beugten, mußten an sich halten, um nicht laut zu lachen.
Reservist Papeczinski schimpfte, schimpfte ganz respektlos auf die »jemeine Schinderei«, auf den »verdammten Hauptmann«, und: »Olle Knöppe, die niederträchtigen blanken Knöppe!« Das klang so toll, die beiden bissen sich auf die Lippen, um nicht loszubrüllen vor Vergnügen.
»Was sagt er – was?« fragte der Hauptmann begierig vom Pferde herab; er war eben erst zum Kompaniechef befördert und nahm seine Pflichten noch sehr ernst.
»Zu Befehl, Herr Hauptmann, der Kerl ist besoffen«, meldete der Unteroffizier und stand stramm. – – –
Sie hatten sich doch geirrt: der Reservist Papeczinski war nicht betrunken gewesen – woher denn auch? Seit drei Tagen war er beim Militär, in der Augusthitze angekommen, gleich stramm in die Übung hinein; die Zeit hätte gar nicht gelangt, sich einen anzududeln, selbst wenn er das Geld gehabt hätte, was er nicht hatte.
In Berlin war’s, wo er den letzten Schluck zu sich genommen; der Schnaps-Willem hatte großmütig einen Abschiedstrunk spendiert, der war so kräftig und ausgiebig gewesen, daß Ede noch drei Tage danach ein Brennen in Schlund und Eingeweiden verspürte, als hätte er Feuer im Leibe. Und nun auf einmal hier keinen Tropfen mehr! Die Nächte lag er wach, obgleich er totmüde war, wie gebrochen an allen Gliedern, und verzweifelte vor Durst. Eine furchtbare Schlaflosigkeit quälte ihn. Nur trinken, trinken! Seine Hand tappte umher und faßte den Wasserkrug und stieß ihn doch wieder zurück – brr, Wasser! Ihn ekelte vor dem faden Soff.
Und üben, immer üben – – »Bataillon soll chargieren – geladen« – »präsentiert das Gewehr –« »zur Attacke Gewehr
rechts!«
Die Gedanken wirrten ihm durcheinander, wie Hammerschläge dröhnte es durch sein Gehirn. Ohne zu verstehen, stierte er die Kameraden an, die ihn hänselten; er stierte auch den Unteroffizier an und führte mechanisch die Kommandos aus, recht und schlecht. Schnaps, Schnaps –! Ein wütendes Verlangen peinigte ihn, dazu eine Schwäche, ein plötzlicher Verfall aller Kräfte.
Nun war er im Lazarett.
Auf die Wellblechbaracke prallte die Sonne, als wollte sie durch’s Dach hindurch brennen, hinab auf das Bett, wo er lag.
»Meningitis«, konstatierte der junge Assistenzarzt, stolz im Gefühl der eigenen Wissenschaft, und sah zugleich, devot fragend, seinen Vorgesetzten, den zweiten Stabsarzt an.
»Apoplexia cerebri nicht ausgeschlossen«, sagte dieser belehrend. –
Der Fall Papeczinski erregte Aufsehen; es war der erste Fall dieses Sommers, der erste überhaupt in hiesiger Gegend.
Und es gab Unzufriedene genug im nahen Städtchen. Ein Soldat bei einer Felddienstübung umgefallen? Unerhört! Die reine Tierquälerei! Leuteschinderei sondergleichen! Bei der Hitze! Ein Wunder, daß nicht alle den Hitzschlag gekriegt! Höchstwahrscheinlich würde der arme Mensch dran glauben müssen! Und mitleidige Frauenherzen bedauerten das arme junge Blut, um das wohl bald die liebende Mutter weinen würde.
Selbst Hauptmann von Hohensleben-Brückhorst zeigte besonderes Interesse für diesen ersten Fall in seiner Kompanie, er ließ sich nach dem Reservisten Papeczinski erkundigen.
»Wird sich schon wieder melden, wenn er gesund ist«, zischelte der Stabsarzt zwischen den Zähnen und sah wütend aus; er liebte es durchaus nicht, wenn die Vorgesetzten sich nach den Leuten erkundigten.
Die Krankheit steigerte sich rapide: die Wärter hatten ungemütliche Nächte. Papeczinski wollte durchaus in der Sonne auf einer grüngestrichenen Bank sitzen und machte Miene, zum Fenster herauszuspringen; kaum drei Mann konnten ihn bändigen. Er tobte und schrie und wehrte sich gegen die weißen Mäuse, die aus allen Winkeln huschten und frech über seine Wolldecke liefen. Mit dem Wasserkrug warf er nach ihnen, mit allem, was in der Nähe des Bettes stand. Die Eisumschläge riß er sich ab und heulte: »Huh, huh!« Krämpfe zogen seine Glieder zusammen und reckten sie dann wieder aus, wilde Delirien quälten ihn. Er hatte keinen lichten Moment mehr.
Im Städtchen sprach man jetzt mit hochgezogenen Brauen von »Typhus«, und daß dieser Erkrankungsfall gewiß nicht vereinzelt bleiben würde; Mütter, deren Söhne in absehbarer Zeit auch zum Militär sollten, beunruhigten schon ihre Gemüter.
Die Ärzte umstanden das Krankenlager; sie waren sich nicht ganz einig. Der erste Stabsarzt neigte sich der Version »typhöses Fieber« zu und verordnete kalte Bäder und Chinin, der zweite Stabsarzt und der Assistent blieben bei ihrer Ansicht und waren mehr für andere Mittel.
Der wohlbewanderte Lazarettgehilfe war noch anderer Meinung.
»Ä was«, grinste er hinter den Herren drein, zupfte sich an seiner roten Nase und blinzelte pfiffig, »ä was, hat sich was mit Typhus und was noch allens! Quatsch! Wat ich jloobe: Delirium. Delirium hat das versoffene Schwein! Det janz jemeene Säuferdelirium!«
Am vierten Tag war der Reservist Papeczinski gestorben.
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Die guten Bürger des Städtchens standen vor ihren Türen, als der Leichenzug passierte. Das arme Opfer! Manch einer ballte heimlich die Faust im Sack; die Frauen blickten mitleidsvoll, Kinder liefen nebenher mit neugierig staunenden Augen und offenen Mäulern.
Wenigstens ein schönes Begräbnis hatte er! Acht Mann trugen den gelben Sarg, zwanzig andere trotteten hinterdrein mit gesenkten Köpfen.
Voran schritt der Hauptmann: Schärpe an der Seite, Helm auf dem Haupte; die helle Sonne bestrahlte die Helmspitze, daß sie weithin blendete wie ein Blitz. Er tat, was über seine Pflicht war, aber dieser erste Todesfall in seiner Kompanie hatte eben sein ganzes Interesse; was sollte er dem armen Kerl da nicht die besondere Ehre antun?
Martialisch, geradauf gerichtet, folgte auch ein Unteroffizier, das Gesicht wie aus Erz gegossen; er zuckte mit keiner Wimper, und fluchte doch innerlich: Wie die Kerle schlichen! Wie die Hammel, die zur Schlachtbank geführt werden! Wie sie die Mäuler verschlafen hängen ließen! Kreuzbombenelement, Schockschwerenot, das war aber auch ein Pech, heut am Sonnabendnachmittag, den man sonst frei hatte, wegen so’nem dämlichen Luder den weiten sonnigen Weg zum Kirchhof zotteln zu müssen!
Am Grabe machten sie halt. Da wartete schon der Geistliche.
»Helm ab zum Gebet!«
Die Hände falteten sich. Der Geistliche machte es kurz, aber warm; sie standen alle in der prallen Sonne. Auf so und so viel blanken Helmspitzen spielte sie und entzündete leuchtende sprühende Funkenblitze. Sie konnte sich heute gar nicht genug tun mit sieghaftem Scheinen, bis hinunter in die Gruft goß sie ihre goldene Glanzfülle und wob eine reiche Gloriole um Ede Papeczinskis Grab.
Und der Geistliche schloß:
»Er starb, ein braver Soldat, im Dienste seines Königs!«
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