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Sie kümmerten sich um Haus und Hof. Erhard war ein geborener Hausmeister, konnte gärtnern, reparieren und renovieren. Unter seinen geschickten Händen waren der Wintergarten und der Swimmingpool entstanden.
Neidisch beobachteten die Nachbarn das Tun auf dem Grundstück. Ihre Häuser waren älter, gehörten noch der Zeit an, als die Landwirtschaft die Dorfbewohner ernährte. Bauern gab es im Dorf keine mehr.
Der letzte Bauer war vor zehn Jahren in den Ruhestand gegangen. Seine Felder wurden von der Agrargenossenschaft aus dem Nachbarort übernommen. Der Genossenschaft gehörten die großen Felder, die das Dorf umgaben. Von weitem sah es aus, als ob das Dorf eine Insel inmitten eines Feldermeeres sei.
Die Kappenbachs zuckten immer mit den Schultern, wenn andere sie fragten, warum sie in dem gottverlassenen Nest ein Grundstück gekauft hatten. Sie hatten sich eben für das Dorf entschieden. Vielleicht mochten sie ja genau die Ruhe und Abgeschiedenheit. Sie waren bodenständig, gingen selten aus und schienen auch sonst keine Hobbys zu haben, die sie von ihrem Grundstück wegzogen. Im Sommer sah man Silke Kappenbach in einem albernen Bikini mit Rüschen am Beckenrand des Swimmingpools liegen, während ihr Mann sich um den korrekten Heckenschnitt bemühte. Der Nachwuchs war mit Oma und Opa im Grasgarten zugange und entdeckte Schmetterlinge und andere Kerbtiere. Haus Nummer Vierzehn war eine moderne Idylle. Alles hatte seinen Platz und seinen Sinn.
Der Freitagabend war für Familie Kappenbach Junior schon entspannte Freizeit, Einstieg ins Wochenende. Marius half seiner Frau, die großen Einkaufstüten ins Haus zu schleppen. Am Sonntagnachmittag wollten sie grillen. Eine Tüte war gefüllt mit Steaks, Würstchen, Schaschlik-Spießen und Putenbrustschnitzelchen. Auch ein Fünfzehn-Liter-Fässchen mit Bier rollte Marius ins Haus. Gäste wurden erwartet.
Erhard Kappenbach sah dem ganzen Treiben skeptisch zu. Dass die jungen Leute grillen wollten, hatten sie ihm noch gar nicht gesagt. Gerade wollte er einen Kommentar abgeben, als Marius ihn anblaffte. Ob er seinen Golf da wegfahren könnte, denn am Sonntag kämen doch Gäste, da würde der Parkplatz benötigt.
Erhard wollte etwas erwidern, hatte schon Luft geholt, ließ es dann doch bleiben. Diskussionen dieser Art hatte es im Hause Kappenbach schon oft genug gegeben. Es war sinnlos. Er winkte ab und ging zurück in seine Haushälfte.
Seine Frau Gisela erwartete ihn schon. Sie wusste natürlich Bescheid. Aber sie schien darüber nicht sonderlich überrascht zu sein. Marius war der einzige Sohn der Kappenbachs. Sein Wohlergehen war das einzige Lebensziel von Gisela Kappenbach. Auf ihr Betreiben wurde schließlich auch das Haus samt Grund und Boden Marius übertragen. Wer sollte sich denn um sie kümmern, wenn sie alt und krank würden?
Daher sollte Marius so früh wie nur möglich an das Grundstück samt deren Bewohner gebunden werden. Das waren ihre Hintergedanken. Sie kannte die Tragödien in den vielen Nachbarshaushalten. Die Alten blieben zurück, die Jungen zogen weg.
Sie konnte es jeden Tag beobachten. Gleich neben ihrem Grundstück lag der Hof Nummer Sechs der Baierstedts. Alte Bauernfamilie, drei erwachsene Töchter, allesamt weggezogen. Sie lebten mit ihren Familien weit entfernt, kamen nur alle paar Monate vorbei, blieben ein, zwei Tage und verschwanden wieder, ihre Eltern in der abgeschiedenen Trostlosigkeit ihres Dorfes zurücklassend. Kein Mensch kümmerte sich ansonsten um sie.
Aus der nahen Kreisstadt kamen zweimal täglich die jungen Damen vom Pflegedienst und verrichteten die notwendigsten Handgriffe. Der Hof jedoch erstarrte in einer Zeitschleife. Man sah es den Gärten an, keine pflegende Hand sorgte für den Baumschnitt, anstelle der Beete wucherte überall Gras und die einst mit Tieren gefüllten Stallungen waren allesamt verwaist.
Ab und zu schlurfte der alte Mann oder dessen Frau über den Hof, spürte dem vergangenen Leben nach, um dann wieder kopfschüttelnd zurück ins Haus zu gehen.
Baierstedts waren inzwischen im Pflegeheim in Lindow. Der Hof blieb ohne Bewohner zurück.
Nein, so wollten Kappenbachs Senior nicht enden. Da nahm man eben auch die arrogante Attitüte des Sohnes und die schnippische Wesensart der Schwiegertochter in Kauf, zumal sie ja den kleinen Enkelsohn oft zu ihnen rüberbrachten, der für freudige Abwechslung bei Kappenbachs Senior sorgte.
Gisela Kappenbach hatte Probleme mit ihrer Hüfte. Ein künstliches Hüftgelenk hatte zwar die Schmerzen beim Laufen mildern können, aber sie war stark eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit. Treppensteigen bereitete ihr Höllenqualen, längeres Stehen ebenfalls. Meistens saß sie in der Küche auf ihrem bequemen Stuhl und beschäftigte sich mit dem Verarbeiten der Schätze aus ihrem Garten. Erhards »grüner Daumen« ließ alles in großer Menge und bester Qualität wachsen und reifen.
Zu jeder Jahreszeit, abgesehen vom Winter, hatte sie zu tun, alles zu zerkleinern, einzukochen, einzufrieren und einzukellern.
Der Keller der Kappenbachs war wohlgefüllt mit Dutzenden Einweckgläsern voller Obst, Bohnen, Erbsen, Beeren und sauer eingelegtem Gemüse. Der Sommer war lang und warm, die Ernte entsprechend groß. Jetzt zum Ende des Septembers kamen noch zahlreiche Tomaten, Gurken und Paprika aus dem kleinen Gewächshaus hinzu, dass von den jungen Leuten etwas hochtrabend als »Wintergarten« bezeichnet wurde. Auch die Äpfel, Pflaumen und Birnen warteten noch auf ihre Ernte.
Gisela Kappenbach seufzte. Heute Abend wollte sie eigentlich noch einmal ihre Schwester besuchen, die am anderen Ende der Straße lebte.
Irene Flumming war drei Jahre älter als sie und seit zwei Jahren verwitwet. Sie lebte allein in dem großen Haus mit der Hausnummer Zehn. Irene hatte keine Kinder. Gisela bekam immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie an Irene dachte. Aber Irene war ein eigenwilliger Mensch. Sie beharrte darauf, dass sie gut allein mit allem zurechtkam und dass Alles, genauso wie es war, Bestens sei. Die beiden Frauen fuhren drei- bis viermal wöchentlich mit dem Auto in die Stadt zum Kaffeetrinken.
Am Markt gab es ein Café, in dem man stundenlang sitzen konnte und das Gefühl hatte, mitten im Leben zu sein. Ab und zu kam auch eine Bekannte vorbei, setzte sich mit dazu und man tauschte die neuesten Klatsch- und Tratsch-Geschichten aus. Es gab immer etwas, worüber man spekulieren konnte oder wo es Gerüchte gab.
Währenddessen kümmerte sich Erhard um das Anwesen. Er hatte sich eine Liste gemacht, auf der penibel alle Aufgaben notiert waren, die in der Woche erledigt werden sollten. Erhard arbeitete früher als Ingenieur, war es gewohnt, systematisch vorzugehen. Manchmal begleitete er seine Frau und die Schwägerin ins Café, aber eigentlich langweilte ihn das Herumsitzen und Stöbern in den Privatangelegenheiten wildfremder Menschen.
Da war er doch lieber mit seinen Pflanzen im Garten zusammen. Ab und zu besuchten ein paar gesellige Rabenvögel seine Obstbäume. Sie saßen gutgelaunt in den Ästen, krakeelten ein bisschen herum und flatterten nach ein paar Minuten wieder davon. Seltsamerweise fühlte sich Erhard Kappenbach durch die Besuche der Schwarzgefiederten erheitert.
Er hatte sich auch diesen Freitag wieder in sein Rückzugsgebiet begeben. Weder hatte er Lust, mit seiner Frau über die Laster und Gebrechen der übrigen Dorfbewohner zu sprechen noch mochte er den jungen Leuten über den Weg laufen, die sowieso nur mit sich selbst beschäftigt waren.
Hier hinten im Garten war er mit sich und der Welt im Reinen. Mit Stolz begutachtete er die zu erwartende Apfelernte und prüfte die Pflückreife der großen Pflaumen. Noch ein paar Tage …
Gisela war mit ihrem Elektroroller zu ihrer Schwester gefahren. Gut so! Endlich war Ruhe. Manchmal ging ihm Gisela mächtig auf die Nerven mit ihrer Art.
Alles war schlecht, was er machte. Nichts konnte er ihr recht machen. Dabei hatte er doch den gesamten Haushalt bestens im Griff. Alle Dorfbewohner, die er kannte, hatten Respekt vor seinen Hausmeisterqualitäten und bewunderten seine sichere Hand beim Planen und Bauen. Nun ja, er war eben Ingenieur …
III
Das Dorf, Haus Nr. 10
Freitag, 28. September 2007

Das Haus auf dem Grundstück mit der Nummer Zehn war schon etwas älter, obwohl es kein Bauernhaus war. Der ockerfarbene Rauputz und die Doppelfenster wiesen auf eine Bauzeit in den späten Sechzigern, möglicherweise sogar in den Fünfzigern hin. Zum Haus gehörte ebenfalls ein großer Hof und ein Obstgarten. Darinnen standen ein paar ehrwürdige Apfelbäume, die allerdings dringend eines ordnenden Schnittes bedurft hätten. Wild wucherten Asttriebe nach oben, die zwar viel Blattwerk aber dafür wenig Äpfel trugen.
Irene Flumming war das egal. Die paar Äpfel, die sie aß, waren ausreichend genug am Baum. Früher, als ihr Mann noch lebte, hatte er sich um die Bäume gekümmert. Jetzt bevölkerten Elstern, Raben und andere Federtiere die Bäume und stritten sich um die wenigen Früchte. Um die Früchte war es Irene nicht schade, aber der dauernde Lärm der unliebsamen Besucher hatte schon etwas Nerviges. Sie war sich sicher, dass sie die aufdringlichen Vögel ihrem verstorbenen Mann zu verdanken hatte. Er hatte die Vögel immer gefüttert.
Hubi, eigentlich Hubert, war nun schon zwei Jahre tot, eigentlich waren es bald drei Jahre …
Hubert hatte sich um alles gekümmert, was draußen auf dem Hof und im Garten gemacht werden musste. Er war ein stiller Mensch, saß ansonsten meist in seinem Sessel und las Zeitung. Eines schönen Tages im Winter saß er auch in seinem Sessel, sagte kein Wort und schien zu schlafen. Irene war schon etwas ärgerlich, dass er nicht reagierte, als sie ihn rief. Sie tippte ihn an, spürte just in dem Moment, dass etwas nicht stimmte. Hubi kippte langsam zur Seite weg. Er war einfach gestorben ohne etwas zu sagen.
Etwas ratlos rief sie ihre Schwester an, die auch gleich mit ihrem Elektroroller kam. Sie schaute auf Hubert, der seltsam verrenkt in dem Sessel lag. Ob man die Eins-Eins-Zwei anrufen solle?
Oder gleich den Leichenwagen? Na, irgendein Arzt müsse wohl vorbeikommen, der sollte den Totenschein ausstellen. Das war alles, was Gisela einfiel.
Eine Woche später war Hubert auf dem nahegelegenen Waldfriedhof begraben. Gerade mal Neunundsechzig Jahre alt geworden. Hatte keine Laster, rauchte nicht, trank nicht, trieb sich nicht herum, hatte sein stilles, friedliches Leben gelebt.
Etwas ratlos blieb Irene allein zurück. Dabei war sie heimlich immer ganz stolz auf Hubi gewesen.
Wenn sie sich mit den Frauen der Nachbarshöfe unterhielt und deren Nöte mit ihren Männern erzählt bekam, beglückwünschte sie sich leise. Hubi war eine Seele von Mann. Und trotzdem war er einfach so gestorben.
Ernst Flachbein aus der Vier war schon vierundsiebzig und trieb sich überall herum, bloß nicht zu Hause bei seiner Frau. Und Paule Wüllersbarth, der sich mit den Flachbeins den großen Hof teilte und die zweite Doppelhaushälfte mit seiner Frau bewohnte, soff nun schon seit drei Jahrzehnten ohne dass es seiner robusten Gesundheit zu schaden schien. Vorn aus dem Hof Nummer Fünf, der Reini, also Reinhard Bachhorn, der qualmte täglich drei Schachteln Zigaretten, hustete und spuckte schon seit Jahren, lebte aber dennoch. Ach, die Welt war ungerecht.
Irene wartete auf das bekannte Geräusch, das Surren des kleinen Elektromotors vom Roller ihrer Schwester.
Endlich drang das vertraute Knattern an ihr Ohr. Sie schaute aus dem Fenster, sah Gisela zu, wie diese sich mühsam mit ihrer kaputten Hüfte vom Roller bemühte und öffnete die Tür.
Die beiden Schwestern waren sich äußerlich nicht sehr ähnlich. Gisela war eine etwas fülligere Dame mit sehr gepflegtem Äußeren, die Haare stets ordentlich frisiert, einmal wöchentlich ging sie ja auch zum Friseur nach Lindow, immer sorgfältig geschminkt und mit modisch bunten Blusen und Jacken angetan.
Irene war da praktischer. Sie war eher der sehnige Typ Frau. Meist trug sie eine Kittelschürze und legte auch nicht so viel Wert auf ihre Frisur. Trotzdem waren sich die Schwestern sehr zugetan.
Irene litt seit dem Tod ihres Mannes unter Schlaflosigkeit. Oftmals wanderte sie nach Mitternacht ruhelos durchs Haus, dass ihr immer größer und bedrohlicher erschien. Manchmal glaubte sie sogar, den Schatten von Hubi zu erkennen, der irgendwo im Hause auf sie lauerte. Doch stets verschwand er wieder wie von Geisterhand. Mit keiner Menschenseele hatte sie über ihre nächtlichen Alpträume gesprochen, nicht mal mit Gisela.
Seit zwei Tagen war Irene nun schon in einem seltsamen Zustand. Es hing wohl mit dem Erlebnis in der Nacht zum Donnerstag zusammen. Wieder konnte sie nicht schlafen. Sie saß in der Küche, starrte in die Dunkelheit, traute sich nicht, Licht anzumachen. Was sollten denn die Nachbarn denken, wenn bei ihr nachts um Drei noch Licht brannte?
Nur der Radio dudelte leise sein Nachtprogramm. Wenigstens ein vertrautes Geräusch. Irene hatte wieder den Schatten gesehen. Hubi besuchte sie, wollte nach dem Rechten schauen. Sie fühlte sich immer ertappt, dass er so wenig Zutrauen zu ihr hatte.
Mein Gott, ihre Ehe war kein Zuckerschlecken gewesen. Die gemeinsamen Jahre waren zum Schluss eine Zumutung für beide. Aber keiner wollte aus dem unerträglichen Zustand ausbrechen. Man schwieg, ging sich aus dem Weg. Es könnte ja noch schlimmer kommen. Und allein sein, nein, das ging schon gar nicht … Außerdem, was sollten die Leute im Dorf sagen?
Sie schluckte nun schon seit zwei Tagen die kleinen roten Kügelchen, Beruhigungspillen. Aber die halfen inzwischen auch nicht mehr. Sie musste etwas tun, wusste aber nicht was.
Als einziger Ausweg fiel ihr ein, bei Gisela anzurufen. Gisela war immer die praktischere von den beiden Schwestern gewesen, ihr fiel immer etwas ein.
Und jetzt saß Gisela am Küchentisch. Irene hatte Kaffee gekocht. Beide hatten eine große Kaffeetasse vor sich stehen.
»Gisi, ich glaub‘, ich muss zum Arzt.«
»Was ist los? Hast du wieder dein Nervenleiden?«
»Ach Gisi, ich glaub‘ ich werd‘ langsam meschugge. Seit drei Tagen schlafe ich nicht mehr, bin aber vollkomen hundemüde.«
»Du solltest nicht so lange mehr fernsehgucken. Und immer das wilde Zeug, was du siehst, da würde ich ja auch ganz meschugge werden.«
»Quatsch, ich hab‘ den Fernseher überhaupt nicht angehabt in der ganzen Woche. Nein, es ist …«
»Renchen, du bist einfach überspannt. Du solltest dich am besten öfters mal hinlegen und nichts machen. Geh doch mal zum Friseur! Das ist auch ganz entspannend.«
»Gisi, manchmal höre ich furchtbare Geräusche. Vorgestern Nacht, da gab es ein fürchterliches Geräusch. Ein Schrei, ganz laut und langgezogen. Es war furchtbar, ganz furchtbar …«
»Ach, du spinnst ja. Ich habe nichts gehört und ich habe einen leichten Schlaf. Wer weiß, vielleicht hat sich der Fuchs ein Kaninchen geholt. Die pfeifen dann vor Todesangst.«
»Meinst du?«
»Ja, wer soll denn sonst in der Nacht schreien? Überleg‘ doch mal! Die paar Leutchen, die hier wohnen, da ist keiner bei, der nachts rumrennt und schreit. Wir sind doch nicht in Berlin, wo so etwas üblich ist. Was haste denn wieder für einen Schundroman gelesen? Du mit deinen komischen Krimis immer …«
Irene antwortete nicht. Natürlich, Gisela hatte ja Recht. Wer sollte hier draußen auch mitten in der Nacht schreien? Sie hatte auf die Uhr gesehen. Nachts um Drei war es. Da schlief normalerweise ein jeder. Außerdem, es war ja auch mitten in der Woche. Da wurde nie so lange gefeiert oder Blödsinn gemacht.
Trotzdem war Irene ratlos. Gisela war nicht die wirkliche Hilfe, die sie erwartet hatte. Sie wurde noch vollkommen verrückt, so allein in dem großen Haus. Vielleicht sollte sie sich ein Haustier zulegen? Einen Hund? Oder wenigstens eine Katze, dann wäre sie nicht ganz allein. Irene winkte jedes Mal ab. Sie solle doch einfach mal einen Blick in den großen Apfelbaum vor der Tür werfen. Dort seien genug Haustiere versammelt. Eine ganze Schar aufdringlicher Raben habe sich im Baum eingenistet und gebärde sich wie ein Tollhaufen.
Sie goss Kaffee nach. Gisela rührte etwas Zucker in den schwarzen Sud und goss auch Sahne aus dem kleinen Kännchen zu. Der Kaffee sei so bekömmlicher. Sie hatte es ja etwas mit ihrem Magen. Aber das kam immer, weil sie sich so aufregte. Eigentlich grundlos. Stets war Erhard der Grund für ihre Aufregung.
Erhard hier, Erhard da, Erhard machte und schraubte und buddelte und fuhr herum … sie sollte eigentlich froh sein, noch einen Mann zu haben, der sich so kümmerte. Aber Erhard konnte es Gisela nie recht machen. Er war stets im Verzug, immer war etwas zu tun und er vergaß es einfach.
Ach, das war alles so ungerecht. Sie saß nun ganz allein in ihrem Haus. Irene hatte keinerlei Geldsorgen, nein, ihre eigene Rente und die Witwenrente reichten vollkommen aus, um ein sorgenfreies Leben zu führen.
Nein, das war es nicht, was ihr Kummer bereitete. Es war die Angst vor der Einsamkeit.
Dass sie einfach so umfallen könnte wie Hubi, aber dass dann niemand da wäre, der sie fände. Eine unerträgliche Vorstellung war das. Neidisch schaute sie daher immer zu ihrer Schwester.
Gisela hatte es gut und das pralle Leben um sich. Ihr Mann lebte noch und kümmerte sich um alles.
Nichts war wirklich wichtig. Und da gab es ja auch noch Marius und die Schwiegertochter und natürlich das Enkelchen …
Kein Wunder, dass sie ruhig schlafen konnte!
Irene hingegen grübelte ständig. Immer hatte sie Angst, etwas vergessen zu haben. Bestimmt dreimal pro Nacht kontrollierte sie die elektrischen Geräte, ob sie denn auch alle ausgeschaltet waren. Speziell die Kochfelder des neuen Ceranfeld-Herdes, die waren ihr sowieso unheimlich. Auch die Lichtschalter wurden inspiziert und die Wasserhähne, ob sie nicht tropften.
Manchmal lief sie auch einfach im Nachthemd auf den Hof und schaute nach, ob die Gartentür geschlossen war. Das hatte sie früher nicht gemacht. Da lebte ja auch Hubert noch, der kümmerte sich um so etwas.
Man hörte neuerdings immer von den Räuberbanden, die nachts herumzogen. Die Welt war unsicher geworden. Ach, nein, es machte wirklich keinen Spaß mehr; alt zu werden war kein Zuckerschlecken. Dabei war sie gerade erst vierundsechzig.
Früher hatte sie in der Kreisstadt gearbeitet im Handel, wie sie immer zu sagen pflegte. Sie stand im Lebensmittelgeschäft an der Käsetheke, schnitt Edamer und Gouda auf, portionierte Frischkäse in schöne Plastiknäpfchen und war auch für die Salattheke verantwortlich. Das hatte ihr Spaß gemacht. Zumal sie stets mit einer blendend weißen Schürze und einem weißen Häubchen wie aus dem Ei gepellt inmitten ihrer hunderterlei Käsespezialitäten hantierte. Stets konnte sie mit den Kunden auch ein paar Worte wechseln, so dass nie Langeweile aufkam.
Seit vier Jahren war sie nun schon in Rente. Sie hätte ja noch gern ein paar Jahre gearbeitet, aber Hubert wollte es nicht. Naja, viel hatte er ja nicht von ihr gehabt. Seit fast drei Jahren war er nun schon tot. Sie hatten sich sowieso nicht viel mehr zu sagen.
Hubert starrte immer nur in seine Zeitung. Irene war sich sicher, dass er sie gar nicht las. Er wollte hinter den großen Seiten einfach verschwinden, sich unsichtbar machen. Speziell, wenn sie mit Staubsauger und anderen Geräten in der Wohnung herumwirtschaftete. Dabei war es immer pieksauber.
Und jetzt geisterte Hubert als Wiedergänger durch das leere Haus und raubte ihr den Schlaf. Natürlich, sie hatte ihn öfters angefahren, wegen seiner stupiden Rumsitzerei und überhaupt, er könne sich doch mal ein Beispiel nehmen an Erhard, dem Mann von ihrer Schwester, was der so alles machte.
Hubert schwieg zu alledem. Manchmal sprachen die beiden tagelang kein Wort miteinander. Irene ging dann immer zu Gisela und fuhr mit ihr ins Café um den Frust bei einem Stück Sahnetorte loszuwerden. Was Hubert machte, um seinen Groll zu vergessen, sie wusste es nicht. Es war ihr eigentlich auch egal.
Aber das war ja nun auch schon alles wieder lange Zeit vorüber. Jetzt hatte sie andere Probleme. Schlaflosigkeit, Einsamkeit und eben die Geräusche, die vielleicht gar nicht wirklich vorhanden waren. Wurde sie verrückt?
So wie die alte Martha Dellerkamm aus der Fünf? Die hatten sie vor einem halben Jahr abgeholt. Ins Heim. War alterssenil geworden. Mehrfach hatte man sie aufgegriffen, als sie hilflos und orientierungslos irgendwo in der Landschaft herumirrte. So wollte sie nicht enden.
Ob Gisela ihre Ängste verstand? Schwer zu sagen. Jetzt saß sie ihr gegenüber, rührte ihren Kaffee um und sah immer nervös auf ihre kleine Armbanduhr. Als ob sie etwas verpassen würde.
Ob sie vielleicht morgen mit ihr rüber in die Stadt …?
Gisela zuckte mit den Schultern. Sie müsse erst Marius fragen, der habe am Sonntag ein Grillfest geplant. Möglicherweise brauche er ja Hilfe beim Vorbereiten. Die Schwiegertochter wäre da nicht so eine große Hilfe.
Ein Grillfest?
Naja, es kämen wohl ein paar Arbeitskollegen, auch sein Chef. Marius wollte sich doch um den Posten des Kämmerers bewerben. Das habe er ihr bereits im August erzählt.
Ach, Kämmerer? So eine Art Buchhalter wäre das wohl?
Naja, nicht direkt, mehr so ein Finanzverwalter, aber genau wüsste sie es wohl auch nicht.
Irene war suspekt, was ihr Neffe im Amt machte. Früher hatte sie zu Marius eine recht gute Leitung gehabt. Immer, wenn er klamm war, kam er zu ihr. Sie steckte ihm dann stets ein paar Scheine zu. Naja, das hatte sich seit seiner Heirat erledigt. Marius war seitdem nicht einmal wieder bei ihr zu Besuch gewesen.
Sie fand das schoflig. Als ob sie nicht mehr existieren würde. Und den kleinen Nicki hatte sie auch nur sehr selten zu Gesicht bekommen. Silke, die Schwiegertochter von Gisela, schirmte den Jungen wie eine Glucke vor allem ab. Alte Frauen würden einen schlechten Einfluss auf seine Entwicklung haben, sagte sie immer.
Eine komische Person war das schon.
Wie Marius an die geraten war, wusste bis heute noch keiner. Eines Tages kam er zurück vom Studium und stellte sie ihnen als seine Verlobte vor.
Silke war ein Stadtmensch. Trotz ihrer Jugend hatte sie eine altkluge Art über alle Dinge zu sprechen. Sie kleidete sich auch eigenwillig. Meist trug sie Rüschenblusen. Vielleicht wollte sie damit ihren etwas zu flach geratenen Busen kaschieren.
Silke blickte auf das Landleben immer etwas geringschätzig herab. Auch sie hatte zusammen mit Marius studiert, war wohl ein Studienjahr unter ihm gewesen.
Warum sie nun nur als Sekretärin …? Aber das ging sie ja nichts an, schließlich war es ja deren Sache.
Gisela hatte ihren Kaffee ausgetrunken. »Ich rufe dich morgen an. Mal seh’n, vielleicht können wir uns ja für den Nachmittag ein paar Minütchen Zeit gönnen.«
Irene nickte. Vor ihr lag wieder eine lange, schlaflose Nacht.
IV
Das Dorf, Haus Nr. 2
Freitag, 28. September 2007
Es war eines der ältesten Anwesen im Dorf. Ein großes Bauernhaus trug die Nummer Zwei. Aus Feldsteinen gebaut, mit einem Anbau aus roten Klinkersteinen, dazu ein großer Hof mit Taubenhaus, Hühnerstall, Ententeich und Ställen, die immer noch ein paar Schafe und Ziegen beherbergten.
Ein alter Traktor zierte die Einfahrt. Er stand als Monument aus den Zeiten der Industrialisierung herum, rostete still vor sich hin und diente den beiden Kindern, die auf dem Hof heranwuchsen als Abenteuerspielplatz.
Das große Bauernhaus beherbergte zwei Familien. Im rechten Trakt lebten Günter und Almtrud Weidenbaum. Zu den Weidenbaums gehörten die Tochter Simone und deren Lebenspartner Giovanni. Simone war schon längst über dreißig und weit davon entfernt, noch als junge Frau zu zählen. Dennoch führte sie sich als solche auf. Giovanni war gut und gerne zehn Jahre jünger als Simone. Sie kleidete sich wie ein Teenie, trug ihre Haare entweder in Pippi-Langstrumpf-Manier oder als zerzausten Wischmopp. Meist hatte sie kreischend bunte T-Shirts an, die mit englischen Wörtern dekoriert waren und keinerlei Sinn ergaben.
Dazu trug sie halblange Jeans, die mit extrabreiten Hosenträgern dem ganzen Outfit etwas Schwung geben sollten. Simone war nicht die Schlankste. Ihre üppige Oberweite ragte nur knapp über den ebenfalls üppigen Bauchansatz. Glücklicherweise fiel der nicht so auf, da ihr imponierendes Hinterteil die Jeans vollkommen ausfüllte und immer alle Blicke auf sich zog.






