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Giovanni, ein eher mickeriges Kerlchen, war das egal. Er mochte stramme Frauen. Almtrud war es eigentlich nicht recht, dass ihre Tochter sich mit so einem jungen Bengel eingelassen hatte. Aber das war immer noch besser als gar kein Freund.
Es gab im Dorf auch junge Frauen, die einsam vor sich hinwelkten. Die hatten die Schwelle zur Dreißig überschritten und konnten keinen Mann finden, der sie von hier wegholte.
Gleich nebenan, in der linken Haushälfte lebte eine solche Frau mit ihren zwei Kindern. Ihr Freund und Kindsvater war über alle sieben Berge verschwunden und hatte sie allein zurückgelassen.
Heidemarie Gontschorek war bereits fünfunddreißig, alleinstehend, und führte einen eigenen Haushalt. Die beiden Jungs waren acht und sechs Jahre alt. Ab und zu kam Heidis Mutter aus dem fernen Berlin zu Besuch.
Dann konnte sie endlich auch einmal abends weg. Aber sie wusste schon, für sie war es zu spät. Die Disco im benachbarten Dorf war mit jungen Mädchen überfüllt, die halb so alt waren wie sie. Sie bewegte sich wie ein Alien inmitten der Backfische.
Auch mit der lauten, dumpf hämmernden Musik konnte sie nichts mehr anfangen. Die jungen Leute bewegten sich zu den Technoklängen wie durchgeknallte Roboter, zuckten mit allen Gliedmaßen und verdrehten ekstatisch die mit Haar-Gel strapazierten Köpfe. Männliche Wesen waren ebenso seltsam gestylt und eigentlich noch Kinder. Sie konnte sich die ausgeflippten Jungs jedenfalls besser als Spielkameraden für ihre beiden Söhne vorstellen, denn als Partner im Bett.
Heidi hatte es auch schon mit Partnersuche übers Internet probiert. Aber außer ein paar flüchtigen Bettbekanntschaften war daraus nichts geworden. Sie hatte es inzwischen aufgegeben, den richtigen Mann zu suchen.
So etwas wie nebenan die dicke Simmi an Land gezogen hatte, also, auf so etwas konnte sie verzichten. Dem Mickerling quollen ja jedes Mal die Augen aus seinem Spitzmausgesicht, wenn sie Wäsche aufhing und nur eine leichte Schürze trug. Sollte er mal ruhig sehen, wie eine schöne Frau aussah.
Auch Günni, also Günter Weidenbaum schlich dann immer ganz zufällig über den großen Hof. Günni war ein Schlappschwanz, machte nur, was Almtrud sagte.
Der konnte ja noch nicht einmal allein Einkaufen fahren. Ein Wunder, wie er es bisher geschafft hatte, durchs Leben zu kommen. Mit Dackelblick wartete er stets bis Almtrud mit wichtiger Miene erschien und Anweisungen gab.
Almtrud sah genauso aus wie ihre Tochter, eben bloß zwanzig Jahre älter und nicht ganz so schräg gekleidet. Sie trug eine Dauerwellenfrisur, wie viele Landfrauen. Wetterfest, praktisch und pflegeleicht. Ihren gewaltigen Hintern verbarg sie geschickt unter weiten Röcken, darüber eine legere Schürze, die ihr das Aussehen einer russischen Matrjoschka gab. Günni war ein farbloses Nichts, meist in beige gekleidet, dass seine Unauffälligkeit noch betonte. An seinem Handgelenk baumelte stets ein Herrentäschchen, das schon bestimmt seit einem Jahrzehnt außer Mode war.
Sie grinste. Mit Almtrud hatte sie sich einmal über Günnis Herrentäschchen unterhalten. Almtrud hatte ihr anvertraut, dass das Täschchen nur zu seiner Sicherheit sei. Falls er ihr unterwegs einmal abhandenkomme, wäre da alles drin, was er bräuchte, um zu ihr zurück zu finden: ein Prepaid-Handy, seine Ausweiskärtchen, ein Fünfzig-Euro-Schein und ein Taschentuch.
Heute Abend waren die beiden vom Großeinkauf zurückgekehrt. Günni schleppte die Vorräte ins Haus. Heidi, die gerade Wäsche aufhing, beobachtete die beiden Weidenbaums. Wo sich Simone und ihr spitzmäusiger Galan herumtrieben, wusste sie nicht. Vielleicht waren die ja auf Disco …
Almtrud grüßte kurz, kam für ein paar Sekunden zu ihr. Ihr Günni würde spinnen, neuerdings. Naja, er war sowieso noch nie eine Leuchte gewesen, aber seit ein paar Tagen wäre er vollkommen durch den Wind …
Heidi schaute etwas betreten zu Almtrud. Soviel intime Geheimnisse aus dem Familienleben der Weidenbaums wollte sie gar nicht wissen. Schlimm genug, dass sie das laute Stöhnen von Simmi jede Nacht ertragen musste, wenn sich Giovanni an ihr zu schaffen machte. Aber Almtrud war da robust. Sie hatte ihr schon öfters im Vertrauen peinliche Dinge berichtet.
Außerdem schien sie bestens über die anderen Dorfbewohner Bescheid zu wissen. Zu jedem Hof fiel ihr immer eine anrüchige Geschichte ein.
Heidi wollte das eigentlich nicht wissen, aber sie konnte sich der plumpen Vertraulichkeit Almtruds auch nicht entziehen. Wer weiß, was Almtrud über sie im Dorf erzählte? Aber das war ihr auch egal. Sie wohnte nun mal eben hier, grüßte die Leute, wenn sie welche sah und ging ansonsten ihrer Arbeit nach.
Nun stand sie also direkt vor ihr, verdeckte mit ihrem massigen Hinterteil die Sicht zu ihren beiden Söhnen, die mal wieder auf dem alten Trecker herumkletterten und wartete darauf, dass sie etwas erwiderte.
»Ach, Günter ist doch noch ganz okay. Schau dir doch mal den ollen Wüllersbarth an, den Suffkopp, oder Flachbein, der mit seinen vierundsiebzig immer noch herumzigeunert und den Frauen an die Wäsche geht. Da ist doch Günni eher ein harmloses Wesen, auch wenn er manchmal etwas spinnt.«
Almtrud nickte. Ja, natürlich, da habe sie schon recht. Aber sie wolle ja ihren Günni auch nicht mit solchen Gestalten wie Wüllersbarth und Flachbein verglichen haben, nein, so schlimm sei es um ihn nicht bestellt.
Günni habe im Moment die fixe Idee, einen Todesschrei gehört zu haben. In der Nacht zum Donnerstag, seitdem brabbele er ohne Unterlass von dem Schrei. Sie traue sich mit ihm gar nicht ins Dorf unter die Leute.
Wer weiß, was er noch alles für seltsame Dinge von sich gebe. Naja, Günni sei sowieso nicht der fixeste im Kopf. Das wüssten ja alle. Simonchen; Almtrud nannte ihre Tochter, die bestimmt hundert Kilo auf die Waage brachte, immer noch wie zu Kindergartenzeiten Simonchen, also Simonchen habe auch nichts gehört und sie selber schlafe ja, also, da könnte nebenan die Welt untergehen, sie würde da nichts von mitbekommen.
Heidi stutzte, vor zwei Tagen war sie auch aufgeschreckt mitten in der Nacht. Zuerst glaubte sie einen Schrei gehört zu haben, dann klang es nach dem Gekrächze von herumflatternden Raben. Aber die schliefen normalerweise doch nachts. Ob es vielleicht ein Käuzchen war? Oder doch etwas ganz anderes?
Sie dachte, dass Giovanni mit Simmi wieder irgendwelche wilden Spielchen machte, es war ein seltsames Geräusch, aber sie war noch ziemlich benommen vom Schlaf, lauschte kurz ins Kinderzimmer, dort war aber alles friedlich, und schlief wieder ein. Sie erzählte Almtrud davon, die mit weitgeöffneten Augen Heidis Bericht verfolgte. Hatte ihr Günni also doch nicht gesponnen? Was war dann die Quelle des Geräuschs? Wieso flatterten Krähen nachts durchs Dorf?
Heidi zuckte mit den Schultern. Wer weiß, vielleicht sei ja ein wildes Tier verendet, die gäben ja im Todeskampf manchmal schauerliche Geräusche von sich. Und Krähen waren Aasfresser, möglicherweise hatten sie nur ihre gefiederten Kameraden verständigt, dass es etwas zu fressen gab.
Nachdenklich stapfte Almtrud hinüber zu ihrer Haushälfte. Vielleicht sollte sie Günni ja noch einmal fragen, was er wirklich gehört hatte.
V
Landstraße Nr. 16, kurz vor dem Dorf
Samstag, 29. September 2007

Mit einem schlechten Gewissen schlenderte Ernst Flachbein Richtung Dorf. Er war seit vier Tagen unterwegs. Auf Tour, nannte er seine monatlichen Ausbrüche aus dem Alltag des Dorflebens. Immer, wenn sein Geld alle war, kam er wieder nach Hause zurück. Manchmal reichte es nicht mal mehr für ein Busticket, dann musste er laufen.
Trotz seiner vierundsiebzig Jahre war Flachbein noch gut zu Fuß. Er war eine Frohnatur. Meistens jedenfalls. Im Dorf waren seine Eskapaden bekannt. Die anderen nannten ihn etwas neidisch auch den ewigen Zigeuner. Naja, das Herumzigeunern, das lag ihm im Blut. Schon vor vierzig Jahren zog es ihn hinaus. Damals war er mit dem alten Trecker losgefahren, tuckerte wochenlang durch die Gegend, machte dabei stets einen großen Bogen ums Dorf. Er wollte eben was erleben.
Seine Frau war Kummer gewöhnt. Oftmals wurde sie von der Polizei benachrichtigt, dass sie ihren Mann abholen könne. Er wäre mal wieder aufgegriffen worden. Mittellos, etwas ungepflegt, aber dennoch gesund wie ein Fisch im Wasser.
Meist lag eine Anzeige wegen öffentlicher Ruhestörung vor, manchmal auch eine wegen sexueller Belästigung. Die konnte jedoch immer abgewehrt werden. Flachbein war harmlos, auch wenn er den Frauen manchmal nachstellte. Angerührt hatte er noch keine.
Immer, wenn es ihm gelungen war, ein paar Euro zusammenzusparen, machte er sich auf den Weg. Je nachdem, wieviel Geld er hatte, fiel seine Tour etwas länger oder kürzer aus. Diesmal hatte es genau für vier Tage gereicht.
Übernachtet hatte er einmal in einem alten Heuschuppen, einmal in einer verfallenen Kaserne und einmal unter freiem Himmel. Seine Geldvorräte reichten immer gerade so, um etwas Essbares zu kaufen und sich mit dem Überlandbus oder dem Regio fortzubewegen.
Das Unterwegssein, das war es, was ihn reizte. Die Landschaft an sich vorbeiziehen zu sehen, alle fünf Minuten einen neuen Horizont zu entdecken, dafür lohnte es sich, die Strapazen auf sich zu nehmen und aus dem sicheren Dorfidyll aufzubrechen.
Seine Tour hatte ihn bis an den Rand Brandenburgs gebracht. Noch ein paar Kilometer weiter und er wäre in Mecklenburg-Vorpommern gelandet. Doch davor schreckte er zurück. Nein, so weit weg wollte er nun doch nicht.
Zufrieden mit sich und der Welt zockelte er an dem Samstagmorgen auf der Landstraße Richtung Dorf. Ein Milchtanklaster hatte ihn bis zur großen Kreuzung mitgenommen. Der Milchtanker fuhr weiter in die Prignitz, er musste jetzt nur noch die paar Kilometer bis zum Dorf laufen. Ein schöner Morgenspaziergang, vielleicht drei Stunden Wanderung …
Und dennoch hatte er ein schlechtes Gewissen. Er hatte vor ein paar Wochen, kurz vor seinem vierundsiebzigsten Geburtstag seiner Frau geschworen, nicht mehr auf Tour zu gehen. Nein, mit dem Herumzigeunern sei jetzt Schluss, versprach er ihr. Elvira war skeptisch, doch sie freute sich. Endlich kam der olle Zausel zur Vernunft.
Tja, und dann war es wieder passiert. Die Sehnsucht nach der Ferne kam über ihn wie bei Zigarettenrauchern die Sucht nach dem Nikotin. Aus Elviras Portemonnaie hatte er sich einen Hunderter stibitzt und war einfach so am Mittwochmorgen mit dem Überlandbus losgefahren. Erst im Bus hatte er sich beruhigt. Sie hatte nichts bemerkt, war wie immer rüber zu Wally Wüllersbarth gegangen, um mit ihr Kaffee zu trinken. Wally, eigentlich Waltraud, war ihre beste Freundin.
Er hatte keine wirklichen Freunde im Dorf. Die meisten Nachbarn waren mit sich selbst beschäftigt, grüßten nur kurz und widmeten sich dann ihrem Hof und Garten. Das war ihm zu langweilig. Dutzende Geschichten konnte er erzählen von seinen Touren. Aber sie schienen niemand wirklich zu interessieren. In den kalten Winternächten hatte er angefangen, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Aus dem Lebensmittelmarkt hatte er sich ein paar linierte Schulhefte mitgebracht. Die kosteten nicht viel.
Da schrieb er alles hinein. Nicht chronologisch geordnet, nein, so, wie es ihm gerade wieder einfiel. Seine Erlebnisse waren vielfältig und aufregend. Er war in einem russischen Panzer mitgefahren und hatte bei Berufsfischern auf dem Kahn geholfen, hatte zwei Tage in einem Kühlhaus verbracht und war zum Helden avanciert, als er einem kleinen Mädchen das Leben rettete. Die Kleine war beim Baden zu weit hinaus ins Tiefe geraten. Sein beherzter Sprung ins Wasser brachte sie wieder zurück. Prustend und heulend lag sie dann im Gras. Die Mutter hatte sich ebenfalls heulend ihm an den Hals geworfen. Naja.
Als Erntehelfer war er auf einem »Gurkenflieger« gefahren und hatte in den Gewächshäusern Tomaten gepflückt, Spargelstechen war nicht so sein Ding, hatte er aber auch eine Woche ausprobiert. Ein Binnenschiffer nahm ihn einmal elbaufwärts von Mühlberg bis nach Wittenberge mit. Das war toll. Die Welt von einem Schiff aus vorüberziehen zu sehen, war noch einmal etwas ganz Anderes als sie durch das Fenster eines Zuges zu beobachten.
Ein aufregendes Leben war das, er war eigentlich zufrieden mit dem, was er erlebt hatte. Und jetzt war er wieder zurück.
Vielleicht noch zweihundert Meter bis zu den ersten Häusern des Dorfes. Die Landstraße war hier schnurgerade. Links und rechts war die große Einöde der abgeernteten Felder, nichts bot sich dem Auge als Ruhepunkt an außer den Dächern des Dorfes. Selten kam ein Fahrzeug vorbei. Die Landstraße verband nur kleine Flecken miteinander. Irgendwo im Norden mündete sie dann auch in eine größere Fernverkehrsstraße. Er kannte die Stelle. Ein gelbes Schild zeigte schon lange vorher den Abzweig an.
Jetzt kam erst einmal ein grünes Schild mit gelben Buchstaben. Das waren die neuen Ortsteilbezeichnungen. Seit acht Jahren war das Dorf kein eigenständiges Dorf mehr, sondern eingemeindet worden. Der offizielle Name war seitdem »Siedlung Krähwinkel – Gemeinde Ruppiner Heide«.
Flachbein war das egal. Er nannte die vierzehn Häuser inmitten der Felder einfach nur das Dorf.
So wie alle anderen Einwohner auch. Nur die neuhinzugezogenen Leute sprachen von der Siedlung. Das klang immer wie Sibirien, dort gab es Siedlungen. Aber man war nicht in Sibirien, sondern mitten in Deutschland!
Gleich würde er das grüne Schild passieren, dann war er wieder zurück. Eine schwarze Wolke erhob sich kurz vor ihm. Krähen hatten es sich im Straßengraben und auf dem Feld gemütlich gemacht. Wer weiß, was sie gefunden hatten.
Er war schon fast am Schild vorüber, als er die dunkle Gestalt im Straßengraben liegen sah. Zuerst dachte er, es sei ein Vagabund, so wie er auch, der einfach verschlafen hatte.
Doch dann sah er die vielen dunklen Flecken. Das war getrocknetes Blut. Fliegen schwirrten herum. Er traute sich nicht, nachzusehen, wer da im Straßengraben lag.
Schnellen Schrittes lief er ins Dorf. Er brauchte ein Telefon. Sofort. Nein, so was war ihm noch nie vorgekommen. Ein Toter am Straßenrand. Und direkt vor seinem Dorf!
Flachbeins Atem ging schneller. Elvira war ihm entgegengekommen. Sie schaute ihn verstört an. So hatte sie ihren zigeunernden Ehemann ja noch nie erlebt. Mit weit aufgerissenen Augen stammelte er etwas von einem Toten im Straßengraben, und dass die Polizei kommen müsse, es gäbe auch viel Blut.
Ob er fantasiere, fragte sie ihn. Es würde kein Mensch vermisst im Dorf. Da wäre niemand. Wer weiß, was er gesehen habe, vielleicht ein totes Tier.
Flachbein wurde ungehalten. Er wisse wohl, wie ein überfahrenes Reh aussehe, und Rehe trügen keinen Kapuzenpullover, das sei nun einmal Fakt.
Elvira schüttelte den Kopf. Sie war ja froh, dass er wieder gesund und munter zurück gekommen war von seiner Tour. Immer hatte sie Angst, dass ihm etwas passieren könnte.
Mit zitternden Fingern wählte Ernst Flachbein die Eins-Eins-Null. Eine hohe Frauenstimme fragte ihn, ob er Hilfe benötige. Flachbein schilderte kurz seinen Fund, dann legte er auf.
Elvira sah ihn immer noch etwas ungläubig an. Doch nach zwanzig Minuten rollte ein Polizeiauto auf den Hof. Zwei Uniformierte stiegen aus, grüßten höflich und ließen sich von Flachbein noch einmal schildern, was er da im Straßengraben entdeckt habe. Dann nahmen sie ihn mit im Polizeiwagen, er solle doch die Stelle zeigen. Eine Stunde später wimmelte es im Dorf vor Polizei. Ein Krankenauto und ein Leichenwagen waren ebenfalls vor Ort, dazu noch zahlreiche Zivilfahrzeuge. Die Landstraße am Ortseingang war mit rotweißem Flatterband abgesperrt worden.
Flachbein saß in einem weißen Kastenwagen und unterzeichnete das Zeugenprotokoll. Die Leiche aus dem Straßengraben war eines unnatürlichen Todes gestorben. Ein Schnitt mit einem scharfen Messer hatte die Kehle durchtrennt. Der Anblick war selbst für die durch zahlreiche Verkehrsunfälle abgehärteten Beamten gewöhnungsbedürftig.
Nach vier Stunden kam das Dorf wieder zur Ruhe.
Ende der Schonzeit
Das Morgen von gestern ist das Gestern von morgen,
man nennt es auch Heute.
Ein Spruch von Regina Pepperkorn, Profilerin

Ausländer, Fremde, sind es meist, die unter uns gesät den Geist der Rebellion. Dergleichen Sünder, Gottlob! sind selten Landeskinder.
Der Obrigkeit gehorchen, ist die erste Pflicht für Jud und Christ. Es schließe jeder seine Bude. Sobald es dunkelt, Christ und Jude.
Wo ihrer drei beisammen stehn, da soll man auseinander gehn. Des Nachts soll niemand auf den Gassen sich ohne Leuchte
sehen lassen.
Es liefre seine Waffen aus ein jeder in dem Gildenhaus; Auch Munition von jeder Sorte wird deponiert am selben Orte. Wer auf der Straße räsoniert, wird unverzüglich füsiliert; Das Räsonieren durch Gebärden soll gleichfalls hart bestrafet werden.
Vertrauet Eurem Magistrat, der fromm und liebend schützt den Staat. Durch huldreich hochwohlweises Walten; euch ziemt es, stets das Maul zu halten.
Heinrich Heine: »Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen« 1834/1835
I
Potsdam
Montag, 1. Oktober 2007
Die Woche begann für Linthdorf mit einem unerwarteten Rapport bei seinem Chef, Kriminalrat Dr. Nägelein.
Seit seiner Rückkehr ins Berufsleben war Hauptkommissar Linthdorf mit keinem neuen Fall betraut worden. Er fristete ein unbefriedigendes Schattendasein im Innendienst. Sortierte Akten, archivierte, registrierte, kopierte, fotografierte, telefonierte …
Linthdorf kam Mitte Juni zurück von einer sechswöchigen Kur. Er erschien den Kollegen gegenüber schmaler und weniger präsent als zuvor. Natürlich, Linthdorf war noch immer eine imposante Erscheinung. Seine lichte Höhe von zwei Metern und vier Zentimetern war einfach nicht zu übersehen.
Aber seine sonst von allen wahrgenommene, starke körperliche Präsenz war nicht mehr so intensiv. Auf Kur hatte er zwölf Kilogramm abgenommen. Das sei für sein angegriffenes Herz gesünder, hatten die Ärzte ihm gesagt. Er hielt sich daran, versagte sich öfters Dinge, die er sonst mit viel Genuss zelebriert hatte.
Keine Schokolade mehr und keine Kekse. Auch die Limonaden verschwanden aus seinem Kühlschrank. Dafür nagte er jetzt öfters Äpfel und Birnen ab. Seine Mittagsportionen waren auch nicht mehr dieselben wie früher. Vorsuppen verschwanden, Nachttisch ebenfalls.
Nägelein hatte bei seiner Rückkehr darauf bestanden, ihm eine sechsmonatige Schonzeit im Innendienst zu verordnen. Linthdorf protestierte zwar, war aber letztlich mit der Weisung Nägeleins ganz gut klargekommen.
Er war ausgeglichener, fühlte sich zufriedener und glücklicher. Die Melancholie, die sonst immer ein wenig seine offen zur Schau gestellte Freundlichkeit begleitete, war verschwunden. Linthdorf war angekommen im Hier und Jetzt. Nur selten noch gönnte er sich lethargische Auszeiten, in denen er grübelnd und seufzend den vergangenen Zeiten nachhing. Die dunklen Schatten der Vergangenheit schienen keine Macht mehr über ihn zu haben.
Der Innendienst brachte neben der etwas eintönigen Arbeit auch einen regelmäßigen Wochenrhythmus mit sich. Die Wochenenden waren frei, Linthdorf hatte plötzlich den Luxus, über zwei freie Tage an jedem Wochenende zu verfügen.
Freitagabend fuhr er mit seinem geliebten SuV Richtung Thüringen, nach Weimar. Dort blieb er bis Montag früh. Seit seinem Kuraufenthalt hatte er Thüringen als Kulturland für sich entdeckt. Aber der Hauptgrund für die Wochenendfahrten war ein ganz anderer: er war groß, blond und lächelte ihn an. Milena.
Milena war in Linthdorfs Leben gekommen wie ein Regenschauer, der auf trockene Erde fiel. Sie war intelligent, kultiviert, sinnlich, eben alles, was er brauchte, um mit sich ins Reine zu kommen und dabei gleichzeitig für andere wieder da zu sein. Sie war sein Ruhepol und Energiequell.
Im Sommer waren sie zusammen verreist. Mit dem Auto bis nach Mostar in Bosnien-Herzegowina, Milenas alte Heimat. Eine abenteuerliche Tour war es geworden. Über Dresden, Prag, Wien nach Ljubljana, dort in den Karawanken ein paar Tage geblieben, einen Abstecher nach Triest in Italien, dann weiter nach Istrien, Rijeka, entlang der dalmatinischen Küste bis Dubrovnik. Schließlich Mostar mit seiner zauberhaften Kulisse, der wiedererrichteten Brücke über der grünschimmernden Neretva und dem Besuch bei Milenas Mutter und ihren Verwandten. Zurück dann über Sarajevo, Budapest, Bratislava. Eine dreiwöchige Reise.
Linthdorf hatte schon viele Jahre keinen wirklichen Urlaub mehr gemacht. Meist verbummelte er seine Urlaubstage. Aber den heißen Sommer in diesem Jahr hatte er voll ausgekostet. Gut erholt war er zurückgekommen. Alle sahen einen braungebrannten und heiteren Linthdorf, der leise summend an seinem Schreibtisch saß und seine Ordner bearbeitete.
Die Wochenenden hatte er meistens bei Milena in Weimar verbracht. Sie gingen ins Theater zu Goethe und Schiller, hatten die gesamte Umgebung der alten Residenzstadt erkundet, Ausflüge zum Kyffhäuser und nach Altenburg gemacht, die Dornburger Schlösser besucht und waren auf die Burgruinen der Drei Gleichen geklettert. Ein Wochenende waren sie bei Tom Hainkel in Schmalkalden gewesen, ein anderes Wochenende bei Angela Zeimitzsch in Rudolstadt.
Die Zeit verging wie im Fluge. Eigentlich war Linthdorf mit dem gegenwärtigen Status ganz zufrieden. Sein Thüringer Intermezzo als Hobbydetektiv war in der Potsdamer Dienststelle nicht bekannt geworden, nur ein Bericht der Saalfelder Polizei war auf verschlungenen Dienstwegen zu Dr. Nägelein gelangt. In dem Bericht wurde die Rolle des KHK Linthdorf bei der Ergreifung einer offensichtlich geistig gestörten Person in der Thüringen-Klinik Saalfeld lobend erwähnt.
Nägelein war irritiert. War die Kur Linthdorfs nicht in Bad Liebenstein? Wie kam er dann nach Saalfeld? Gehörte Liebenstein zu Saalfeld? Er kannte sich mit den Örtlichkeiten in Thüringen nicht so genau aus.
Aber Linthdorf zu fragen, erschien ihm auch nicht sehr ratsam. Wer weiß, was der dann wieder dachte.
Linthdorf klopfte an Nägeleins Tür. Ohne auf das »Herein« zu warten, trat er ein. Seit der Staatsaffäre vom letzten Winter war das Verhältnis der beiden Männer zueinander etwas verändert. Linthdorf wusste um die engen Verwicklungen Nägeleins mit den Oberen und Nägelein wusste, dass Linthdorf darüber Bescheid wusste.
Seitdem befanden sich die beiden Beamten in einer Pattsituation. Linthdorfs Herzinfarkt entspannte die Situation merklich. Er war erst einmal weit weg von den Ereignissen. Die Verhältnisse in Potsdam hatten sich gewandelt. Neue Namen waren in den Ministerien aufgetaucht, unbescholtene Namen, der Verdacht der Korruption war den neuen Namen fern.
Wie es Nägelein geschafft hatte, sauber aus der Affäre zu kommen, war allen ein Rätsel. Wurde Linthdorf daraufhin von seinen Kollegen angesprochen, zuckte er mit den Schultern.
Nein, er kannte sich da Oben nicht aus, wusste nicht, wer wessen Gönner war und welche Abhängigkeitsverhältnisse herrschten. Er wolle damit auch nichts wirklich zu tun haben. Es reiche schon aus, was der normale Alltag an Scheußlichkeiten bereithielt. Er war Kriminalist und kein intriganter Strippenzieher, der hinter den Kulissen dafür sorgte, dass bestimmte Personen zu Fall kamen. Es war ihm einfach zuwider.
Nägeleins Gönner waren auf alle Fälle noch in Amt und Würden. Er saß wieder fest im Sattel und agierte gewohnt selbstsicher und souverän. Linthdorf war das egal, Hauptsache er pfuschte ihm nicht ins Handwerk. Nägelein war seit den in der Akte »Arkadiertod« aufgedeckten Verstrickungen von Staatsmacht und Geld sehr vorsichtig geworden.
Linthdorf galt als unerbittlicher Spürhund, der, einmal losgelassen, die Spur bis zu ihrem bitteren Ende verfolgte. Selbst wenn es ihm seine Gesundheit kostete.






