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Gunhild Praskowiak wusste schon seit ihrer frühesten Kindheit, dass sie zu etwas Höherem berufen war. Aufgewachsen bei ihrer Großmutter, hatte sie stets nur diesen einen Gedanken: raus aus dem grauen Nichts und hinein ins grelle Rampenlicht. Sie liebte es, sich heimlich aus dem Kleiderschrank der Großmutter diverse Röcke und Blusen zu stibitzen und damit dann die aktuellen Schlager nach zu trällern. Als Mikrofon diente ein Schaumschläger und das dankbare Publikum waren ihre Püppchen und Teddybären.
Ihre Großmutter schüttelte über das aufgeweckte Kind den Kopf und ließ sie gewähren. In der Schule sang sie natürlich im Singeclub mit und war auch als Dampfplaudertasche bei Schulfeiern nicht mehr wegzudenken.
Später machte Gunhild, die ihren Vornamen eigentlich nicht so mochte, da ihre Umgebung stets den Namen irgendwie verniedlichte oder abkürzte, dann erst mal ganz brav eine Lehre als Verkäuferin für Lebensmittel. Auch hier war die dralle Blondine schnell bekannt für ihr vorlautes Mundwerk und ihre aufreizende Art.
Gundi, so wurde sie genannt, glänzte als Amateurkünstlerin bei diversen Betriebsfeiern. Sie war Hauptakteurin, Moderatorin, Organisatorin, Sängerin, Zauberin und Kaltmamsell – alles, was den Erfolg des Abends irgendwie sichern konnte, wurde von ihr gemeistert.
Es war ein Glücksfall, als sie den Aushang in der Betriebskantine des Kombinatsbetriebes sah. Die Kombinatsleitung wollte ein Betriebskabarett aufbauen und suchte Interessenten. Das war Gundis Chance. Sie meldete sich umgehend, wurde mit weit geöffneten Armen begrüßt und bekam großzügige Unterstützung zugesagt. Gundi sang, plapperte und tänzelte mit ihren Mitspielern dann jahrelang bei den großen Feiern und Festen auf der Bühne.
Sie hoffte, dass einmal im Publikum ein wirklicher Theatermensch sitzen würde und ihr Talent erkannte um sie zu den wahren großen Bühnen zu holen.
Aber ihre Hoffnung wurde nicht erfüllt. Gundi hatte sich inzwischen verheiratet. Sie war jetzt gut situiert, fuhr einen Wartburg, hatte Haus, Hof und Garten. Bald stellte sich auch Nachwuchs ein. Ein kleiner Junge, der von ihr gehätschelt und verwöhnt wurde. Sie war jetzt Hausfrau. Als solche kümmerte sie sich um ihr trautes Heim. Alles war eigentlich ganz gut gelaufen bisher. Aber Gundi juckte es unter den Fingern. Sie wollte mehr als nur hier in einem Vorort im Berliner Speckgürtel zu sitzen und auf ihren Mann zu warten. Erschwerend kam hinzu, dass sie sich mit der Schwiegermutter arrangieren musste, die im Nachbarhaus lebte und ständig bei ihr ein und aus ging. Das ganze wuchs sich zu einem zähen Kleinkrieg aus. Gundi schnappte sich ihre Siebensachen und floh aus der Idylle.
Zurück in Berlin war plötzlich alles anders. Die Wende hatte die alten Strukturen hinweggefegt. Kultur war plötzlich etwas sehr Profanes geworden. Der Zwang zum Geldverdienen bestimmte nun jegliche Aktivität.
Gundi war verwirrt. Irgendwie musste sie ja auch überleben. Jobs gab es nur noch wenige. Speziell im kulturellen Bereich war überall nur noch Jammern und Klagen angesagt. Die Kommunen waren chronisch klamm und konnten sich den Luxus eigener Kulturbereiche kaum noch leisten. Im Haifischbecken der kommerziellen Kunst- und Kulturmacher traute sich Gundi noch nicht so richtig mit zu schwimmen.
Eine alte Freundin aus ihrer Kaufhallenzeit brachte sie schließlich bei der Volkssolidarität unter. Hier durfte sie sich als Organisatorin für Konzerte und Veranstaltungen profilieren. Sie knüpfte Kontakte zu alten Schlagerstars und zu Musikkapellen, erstellte bunte Abende mit Operettennummern und Musicals und kümmerte sich um den Ticketverkauf.
Gundi die sich inzwischen Kowi nannte, da sie sich mit Gundi immer schwerer tat, also Kowi, fühlte sich wie ein Eichhörnchen im Laufrad. Sie entfachte einen Aktionismus, der den alten Herrschaften, die das Sagen in der Volkssolidarität hatten, suspekt wurde. Die Konzerte wurden immer größer, die Organisation der ganzen Programme immer diffiziler, da sie inzwischen mit ganz anderen Budgets auch wirkliche Stars der Szene engagierte.
Sie war eine heimliche Größe des neuen Kulturbetriebs geworden. Es bereitete ihr eine große Genugtuung, wenn Sängerinnen und Sänger anriefen und nach Engagements fragten.
Kowi spürte aber auch, wie sie innerlich ausbrannte. Der permanente Aktionismus hatte seinen Preis. Dieser Preis war ihre Gesundheit. Sie lebte nur noch für ihre Konzerte und Veranstaltungen. Alles andere ordnete sich irgendwie unter. Eigentlich war sie von robuster Natur. Sie war groß und stattlich, verfügte über einen stets rosig frisch schimmernden Teint, der jedem Beobachter suggerierte, dass sie vor Energie nur so strotzte. Aber unter dieser perfekten Oberfläche ging eine stetige Aushöhlung ihrer Reserven voran.
Irgendwann war es dann auch so weit. Kowi fiel einfach um. Sie lag für acht Monate in einer Rehaklinik für Burn-Out-Patienten. Als sie aus der Klinik entlassen wurde, war von der alten Kowi nicht mehr viel übrig. Eine etwas in die Breite gegangene Frau mit müdem Blick und fahler Haut saß jetzt zu Hause vor dem Fernseher und blickte etwas teilnahmslos aus dem Fenster. Alles fiel ihr schwer. Sie haderte mit ihrem Schicksal und war auf dem besten Wege, eine verbitterte und verhärmte Frührentnerin zu werden.
Doch dann hatte sie eine Begegnung der besonderen Art. Eine gute Bekannte gab ihr den Tipp, sich doch bei einem echten Baron im Brandenburgischen zu bewerben. Der suche gerade ein solches Organisationsgenie wie sie und es wäre auch nicht so sehr stressig. Sie müsse allerdings dann auch dort draußen wohnen. Die Bewerbung laufe über das Arbeitsamt von Oranienburg.
Kowi wollte nur noch weg aus der lauten und viel zu schnellen Stadt Berlin. Sie griff diese Chance wie ein Ertrinkender den rettenden Ring. Mit unglaublicher Geschwindigkeit stellte sie eine dicke und aussagekräftige Mappe zusammen, die sie einreichte. Dann wurde sie nach Gut Lankenhorst eingeladen zur Vorstellung. Als sie den langen Parkweg zum Gutshaus entlang lief, die Vögel in den Bäumen trällern hörte und den scharfen Geruch frischer Landluft tief in sich einzog, wusste sie, dass dieser Ort hier für sie gemacht worden war. Hier wollte sie bleiben.
VII
Lankenhorst - Das Alte Gutshaus
Montag, 23. Oktober 2006
Es war noch sehr früh an diesem nebligen Wochenanfang. Clara-Louise Marheincke von Quappendorff war ungewöhnlich früh auf Gut Lankenhorst eingetroffen. Schuld war ihr Billigflug. Der landete bereits um 4.30 Uhr in Tegel. Von Tegel über die Autobahn hier heraus war es nur knapp eine Stunde. Die Straßen waren um die frühe Tageszeit noch frei. Nur einige Schwerlastzüge waren bereits unterwegs, aber die störten nicht sehr.
Die Mittvierzigerin hatte ihren Wagen auf dem Langzeitparkplatz stehen gelassen und konnte so ohne Probleme losfahren. Eine Woche Kurzurlaub auf den Azoren lag hinter ihr. In ihren Ohren rauschte immer noch der Atlantik und wenn sie die Augen schloss, sah sie die üppige Vegetation von Sao Miguel, der Hauptinsel dieses verlorenen Paradieses mitten im Ozean.
Sie hatte es so eingerichtet, dass sie direkt nach dem Urlaub hinaus nach Lankenhorst fahren konnte. So verlängerte sich der Urlaub noch um ein paar Tage. Viel zu selten nur sah sie ihren Vater. Ein aufwändiger Beruf und familiäre Verpflichtungen ließen nur ein sehr knapp bemessenes Freizeitmanagement zu. Clara-Louise war in der Modebranche tätig. Sie hatte den Stoffeinkauf für mehrere Modehäuser zu koordinieren und engagierte sich auch noch als freischaffende Textildesignerin. So entwarf sie Muster für Kleider und Aufdrucke für T-Shirts und Hosen. Das machte ihr Spaß und bezahlt wurde sie dafür auch ausreichend.
Drei inzwischen bereits flügge gewordene Kinder benötigten ebenfalls noch viel Zeit und Nerven. Nur gut, dass Georg, ihr Mann, ein freischaffender Journalist, viel mehr Zeit hatte für die Familie als sie. Er kümmerte sich um die Hausaufgaben der Kinder, besorgte den größten Teil der Einkäufe und schaute auch im Haushalt nach dem rechten. Ohne Georg wüsste sie manchmal nicht, was sie machen sollte.
Den Job im Stiftungsrat von Gut Lankenhorst sah Clara-Louise nicht als wirkliche Arbeit an. Sie war glücklich, dadurch ab und an den Rest der Familie einmal zu sehen. Die jüngere Tochter des Barons, die allerdings nicht allzu viel Wert auf adlige Titel legte, lebte mit Ihrer Familie in Köpenick, im Südosten Berlins.
Ihre drei Jahre ältere Schwester Irmi lebte mit ihrer Familie am anderen Ende der Millionenstadt in Frohnau, einem noblen Vorort im Nordwesten. Nicht, dass sie das Bedürfnis hatte, ihre Schwester öfters zu sehen, Irmi war immer eine etwas oberflächliche Person und mit ihrem Schwager Wolfgang, einem Immobilienmakler, wurde sie auch nicht so richtig warm, aber es war ja nun mal ihre Verwandtschaft.
Pflichtbesuche zu den Kindergeburtstagen und zu den großen Feiertagen gehörten dazu, aber ansonsten war man lieber doch etwas auf Distanz.
Jetzt war Clara-Louise jedenfalls auf Gut Lankenhorst eingetroffen. Alles war noch still. So früh am Morgen schliefen natürlich alle Bewohner des Gutshauses. Sie überlegte, ob es sich noch lohnen würde, ein kleines Schläfchen zu machen. Clara-Louise kannte ihr Zimmer und wusste auch, dass ihr Vater dafür gesorgt hatte, dass dort alles tipptopp in Ordnung war.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr noch einmal, dass sie noch genug Zeit hatte. Leise und vorsichtig stieg sie die große Treppe hinauf und öffnete die Tür zu dem kleinen Zimmer ganz hinten am Ende des Ganges.
Das Zimmer war geheizt, ein paar Blumen waren auf dem Tisch als Willkommensgruß und auch eine Schachtel mit belgischen Sahnetrüffeln stand bereit. Clara-Louise musste lächeln. An alles hatte Papa gedacht. Sie sank aufs Bett und schlief auch in den nächsten Minuten ein.
Es sollte der letzte sanfte Schlaf für längere Zeit sein. Die Ereignisse der nächsten Tage sollten sich tief in ihr Bewusstsein graben.
Die Stifter
Etwas über Stiftungen
Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahre 2005 hat Erstaunliches über moderne Stifter herausgefunden. Früher waren Stifter bereits tot, wenn ihr Stiftungswerk anfing aktiv zu werden. Heutzutage sind ungefähr achtzig Prozent schon zu Lebzeiten als Stifter tätig. Dies hängt vor allem mit dem veränderten Charakter der Stiftungen zusammen. Viele Stiftungen dienen heute als Rahmen für ein gemeinnütziges Tätigkeitsfeld, in dem sich neben den Stiftern selbst auch viele andere Menschen aktiv mit einbringen können. Sinn und Zweck dieser Stiftungen sind nicht die Gewinne.
Viele der Stifter sind inzwischen auch keine alten Leute mehr, sondern stehen im Vollbesitz ihrer physischen und geistigen Kräfte. Und was ganz wichtig ist: man muss als Stifter nicht mehr vermögend sein! Nur knapp zwanzig Prozent der heutigen Stifter verfügen noch über ein Vermögen über 250.000 Euro. Die meisten kommen mit deutlich weniger als 100.000 Euro aus. Moderne Stifter sind gebildet, viele sind religiös oder stark sozial engagiert.
Trotzdem glauben viele, dass eine Stiftung etwas sehr Ungewöhnliches sei. Argwöhnisch wird vermutet, dass es sich bei einer Stiftung um ein Sammelbecken von Steuerflüchtlingen, Erbschleichern und Geizkragen handle. Nicht wenige Menschen gehen darüber hinaus davon aus, dass Stiftungen Geldwaschanlagen sein könnten. Für misstrauische Mitbürger sind die Stiftungen daher äußerst suspekt und werden nur zum Zwecke des privaten Vergnügens der Stifter betrieben. Dieser Argwohn gegenüber Stiftungen hat sich quer durch alle Bevölkerungsschichten bis in die Gegenwart erhalten.
I
Verkehrsfunk von Antenne-Brandenburg
Montag, 23. Oktober 2006

... und hier eine neue Meldung von unserem Mann über den Wolken, Verkehrsflieger Bodo Glock:
»Also, ich kreise hier gerade über einem Stau auf der Fernverkehrsstraße B 2, kurz hinter Biesenthal. Hier scheint sich ein größerer Unfall ereignet zu haben. Die Straße ist vollständig gesperrt. Bitte umfahren Sie Biesenthal großräumig und nutzen Sie die B 109, um weiter Richtung Norden zu kommen. Für die Pendler nach Berlin empfehle ich die Umfahrung über Wandlitz.«
Ja, liebe Hörer, Sie haben es gehört, was da unser Verkehrsflieger Bodo Glock gerade durch den Äther geschickt hat. Also bitte Vorsicht auf den Straßen Brandenburgs. Denken Sie daran, aufkommender Nebel und nasse Fahrbahnen sind ein Grund mehr, etwas vorsichtiger zu fahren.
II
Lutger von Quappendorff

Etwas genervt von der Störung durch den Verkehrsfunk drehte Lutger von Quappendorff an seinem Autoradio. Er war sowieso schon schlecht gelaunt an diesem trüben Herbstmorgen. Sein Terminplan war zum Bersten gefüllt mit wichtigen Meetings und Besprechungen.
Dieser Tag draußen auf dem alten Gut passte ihm überhaupt nicht, aber er war schon lange geplant. Nach jedem der vierteljährlichen Treffen vereinbarten die fünf Stifter den nächsten Termin. Alle nahmen dabei Rücksicht auf seine Terminplanung, denn die vier übrigen Stifter wussten über seine knappen Wochenplanungen Bescheid.
Dass er an diesem Klamauk teilnahm, war sowieso nur dem guten Zureden seines Onkels zu verdanken. Eigentlich hatte er für solche Projekte gar nichts übrig. Seine Welt war einfach ein paar Nummern größer. Immerhin war er Investment Operator bei einer renommierten, international tätigen Holding und leitete seit kurzem deren Expansionsabteilung »Middle Europe«. Also auf gut deutsch war er für die neuen Geschäftsfelder in Ostdeutschland, Polen und dem Baltikum zuständig. Die Anzahl der Projekte war zwar noch gut überschaubar, aber immerhin ... Er nahm teil an allen wichtigen Vorstandssitzungen, er durfte wichtige Interna einsehen und ihm war gestattet mit einer großen, edlen Limousine als Dienstwagen durch das Land zu kurven.
Lutger trug Designeranzug, band sich jeden Morgen äußerst sorgfältig eine dezent gemusterte Krawatte, benutzte nur die teuersten Duftwässerchen und leistete sich eine Frisur, die mindestens einmal pro Woche nachgebessert werden musste, um perfekt auszusehen. Zweimal wöchentlich besuchte er ein Fitness-Studio, dreimal joggte er durch den Tegeler Forst. Ihm war seine äußere Erscheinung stets sehr wichtig. Mühsam hatte er sich einen federnden Gang angewöhnt, den er einmal bei amerikanischen Schauspielern in einer Serie über Banker und Manager gesehen hatte.
Überhaupt hatte er sein Ideal in den Kreisen des US-amerikanischen Großkapitals gefunden. Hier spürte er die Macht über Geldströme und damit über das Schicksal ganzer Wirtschaftsbranchen, hier konnte er den süßlichen Geruch des Luxus förmlich spüren und hier wurde in einer Sprache gesprochen, die ihm suggerierte, wer hier wirklich Ahnung von den geheimen Strukturen der Welt hatte.
Sein etwas widerborstiges Haar bändigte er mit Unmengen Gel und gab sich so einen smarten, stromlinienförmigen Look. Stets gehörte auch ein Päckchen Chewing Gums, früher auch als Kaugummis bezeichnet, zu seiner Ausrüstung. Lutger wollte immer einen superfrischen Eindruck hinterlassen.
Jetzt war es wieder mal soweit. Die vielen Autos, die ihm den Weg verstopften, nervten. Er spürte förmlich, wie der Ärger in ihm aufstieg und sich als leicht säuerlicher Geschmack auf seiner Zunge manifestierte. Nervös fingerte er in seinen Taschen nach den länglichen Streifchen herum, wovon er sich gleich zwei in den Mund schob. Eine Welle frischen Pfefferminzgeschmacks machte sich in ihm breit und Lutger atmete dreimal heftig durch. Er hatte sich extra aus den USA eine Sorte Chewing Gum per Internet bestellt, die mit ihrer Superfrische und totalen Minzigkeit warb. Nun, die Herstellerfirma hatte nicht übertrieben. Tränen schossen ihm in die Augen und er hatte das Gefühl eine Sauerstoffvergiftung zu bekommen. Nach knapp zwanzig Sekunden konnte er wieder normal atmen und den Verkehr beobachten.
Er stand mit seinem dunklen Audi A 6 in einer Reihe mit Fernlastzügen, Baufahrzeugen, Kastentransportern und Kombis. Die Nobelkarosse stach aus der Blechschlange heraus wie ein außerirdisches Raumschiff. Lutger fluchte leise vor sich hin, wieso an diesem Tag so viele Autos herum schlichen.
Normalerweise war hier kaum Verkehr. Aber ausgerechnet dann, wenn er sowieso schon etwas Zeitdruck hatte, musste es sich hier stauen. Ihm fiel wieder die Meldung aus dem Verkehrsfunk ein. Natürlich, nur so konnte er sich das Desaster erklären. Einer der technisch minder bemittelten Bauerntölpel hatte bestimmt seinen Trecker an den Baum gesetzt und so die Vollsperrung ausgelöst. Die Vorstellung belustigte ihn sichtlich und er fand es schade, dort nicht vorbei fahren zu können.
III
Die Fernverkehrsstraße zwischen Biesenthal und Lankenhorst
Montag, 23. Oktober 2006

Nur noch ein vollkommen deformierter Blechklumpen war von dem Fahrzeug übrig geblieben. Der Aufprall musste bei recht hoher Geschwindigkeit passiert sein. Mindestens hundert Stundenkilometer, vielleicht sogar noch mehr. Der Alleebaum, der von dem Wagen erfasst worden war, wies tiefe Risse in seiner Rinde auf. Auch die Leitplanke an der rechten Seite war vollkommen demoliert. Feuerwehr, Rettungswagen und Polizei standen auf der Straße. Zwischen dem Wrack und den Einsatzfahrzeugen hasteten Uniformierte hin und her. Es herrschte routinierte Unruhe.
Alle wussten, was zu tun war, alle waren konzentriert bei der Sache und man merkte allen die nervliche Anspannung an. Zwei riesige Feuerwehrleute mühten sich mit Schneidbrennern am Wrack.
Aus dem Innern drang ein leises Wimmern. Eine junge Frau in Polizeiuniform sprach beruhigend auf die unbekannte Person ein, die sich da vorsichtig bemerkbar machte.
Zwei Weißkittel aus dem Rettungswagen hatten bereits eine Trage und diverse Apparaturen bereitgestellt. Den Feuerwehrleuten rann der Schweiß in kleinen Bächen übers Gesicht. Mühsam nur kamen sie mit ihren Schneidbrennern voran. Endlich erschien eine Hand, die kraftlos aus dem scharfkantigen Blech hing. Einer der beiden Sanitäter schrie kurz auf: »Stopp!«
Die beiden Hünen mit dem Schneidbrenner hielten inne. Ein Mann in Weiß und seiner grell orangefarbenen Weste sprintete herbei. Mit einer Taschenlampe leuchtete er in das dunkle Wrack. Was sich ihm da für ein Anblick bot, ließ ihn kurz zögern.
Er war schon einiges gewöhnt in seinem Job als Unfallsanitäter, aber dies war selbst für ihn etwas zu viel. Dass die Frau überhaupt noch am Leben war, schien ein biologisches Wunder zu sein. Ein trostloses Szenario bot sich dem Betrachter. Das Lenkrad hatte sich tief in den Oberkörper der Frau gepresst. Der Airbag war aus unerfindlichen Gründen nicht aufgegangen. Quer über das Gesichtsfeld zog sich eine tiefe, blutende Wunde. Das linke Auge war nur noch als ein großer, blutiger Krater wahrzunehmen. Aus dem Mund lief ein rotes Rinnsal. Das Armaturenbrett war auf die Oberschenkel gedrückt worden, so dass man nicht sehen konnte, welche Verletzungen im unteren Bereich des Körpers passiert waren. Die Verletzte schien etwas sagen zu wollen. Ein kraftloses Gemurmel bewegte die Lippen der Frau.
Der Rettungssanitäter versuchte sich bemerkbar zu machen: »Hallo, können Sie mich sehen? Hören Sie mich?«
Immer wieder sprach er eindringlich diese kurzen Fragen aus und beobachtete dabei die Gesichtsmimik der Verunglückten. Ein winziges Zucken durchlief plötzlich ihr Gesicht, so als ob aus weiter Ferne etwas an sie herangekommen war. Dem Sanitäter erschien dieses Zucken wie ein angedeutetes Lächeln.
Er winkte die junge Polizistin herbei, die nur wenige Meter neben dem Wrack stand. Gemeinsam leuchteten sie mit ihren Taschenlampen in den dunklen Schacht, der vor wenigen Minuten noch eine behagliche Fahrerkabine war. Die Polizistin starrte auf die sich bewegenden Lippen der schwer verletzten Frau. Irgendetwas schien sie da zu verstehen. Nur wenige Worte. Es klang wie »anderes Auto« und »Geisterfahrer«.
Der Sanitäter schob die junge Polizistin wieder zur Seite. Dabei schüttelte er nur schweigsam den Kopf. Man könne nichts tun im Moment. Nur warten.
Motorengeräusch drang durch den dichten Nebel. Ein weiteres Polizeiauto traf ein. Eine gedrungene Gestalt in Uniform stieg aus. »Morjen! Polizeihauptmeister Roderich Boedefeldt! Wer hat denn hier den Unfall jemeldet?«
Die junge Polizistin drehte sich ihm zu. »Das war ich. Polizeianwärterin Marion Illert.«
»Was ist denn jenau passiert? Jibt et Tote? Verletzte?«
»Tja, so genau kann das keiner im Moment sagen. Es sieht erst einmal so aus, als ob wir hier einen Totalschaden haben. PKW. Ein Insasse. Eine Frau. Alter unbestimmbar im Moment. Schwer verletzt. Nicht transportfähig. Unfallursache unbekannt. Hier ist eine gerade, ziemlich wenig befahrene Allee, trotzdem scheint das Auto von der Fahrbahn abgekommen zu sein und ist dann mit hoher Geschwindigkeit frontal an einen Baum geprallt. Die Wucht des Aufpralls muss so groß gewesen sein, dass sich der Wagen nach dem Aufprall die kleine Böschung hinab überschlug und mehrmals um die eigene Achse drehte. Dass die Insassin noch lebt, grenzt an ein Wunder.«
»War ein anderes Auto involviert in den Unfall? Vielleicht Fahrerflucht?«
»Wir konnten bisher keinerlei Anhaltspunkte für ein zweites Auto feststellen. Keine Reifenspuren. Keine Lackspuren am Wrack, die nicht dem Unglückswagen zuzuordnen sind. Vielleicht ergibt eine genauere Untersuchung noch etwas Brauchbares. Wer weiß, vielleicht hat die Frau im dichten Nebel irgendwelche Schatten gesehen und dann in einer Panikreaktion das Lenkrad verrissen. Doch die Insassin ..., die hat etwas gemurmelt von einem anderen Auto. Es klang nach »Geisterfahrer«, was ich da von ihren Lippen ablesen konnte.«
»Wissen wir denn schon, wer die Frau ist, die da im Wrack liegt?«
»Nein. Leider nicht.«
»Die Überprüfung des Kennzeichens hat schon erste Ergebnisse erbracht?«
»Ja. Das Auto ist auf einen Herrn Wolfgang-Adalbert Hopf aus Berlin-Reinickendorf zugelassen. Immobilienmakler bei Hopf & Partner Real Estate.«
»Aber was da im Auto sitzt, ist eindeutig eine Frau, oder?«
»Ja, eindeutig. Wir haben Herrn Hopf bereits telefonisch informiert. Er ist auf dem Weg hierher. Er ließ sich leider nicht davon abhalten ...«
Die junge Polizistin hatte den Satz noch nicht richtig beendet, als ein großer Daimler mit voll aufgeblendeten Lichtern aus südlicher Richtung mit stark überhöhter Geschwindigkeit heranbrauste. Am Steuer saß ein Mittfünfziger mit verkniffenen Gesichtszügen. Er lenkte den Wagen direkt an die Unfallstelle, stieg hastig aus und sagte bloß das kurze Fragewort »Wo?«.
Es war nicht sehr laut ausgesprochen worden, aber alle hatten es vernommen. Einen kurzen Augenblick herrschte Totenstille. Dann räusperte sich Boedefeldt und ging auf den Mann zu. »Kommen Sie.«
Der Mann folgte ihm. »Lebt sie noch?«
»Ja. Aber ihr Zustand ist kritisch.«
Der Mann stand wie erstarrt vor dem Unfallwagen. Ungläubig schaute er auf den Blechhaufen. »Ist sie noch da drin?«
»Ja. Wir können nicht mehr tun, als abzuwarten. Sie ist nicht bei Bewusstsein. Bitte schauen Sie nicht hinein. Behalten Sie Ihre Frau so in Erinnerung, wie sie bis vor kurzem noch aussah.«
Hopf sah Boedefeldt mit einem kritischen Blick an. Was der dicke Polizist da sagte, klang wie aus einem schlechten Heimatfilm. Er war kein zart besaiteter Mensch, konnte auch Negatives ertragen ohne mit der Wimper zu zucken.
Wortlos schob er den Polizisten zur Seite und schaute in das Wrack hinein. Einen Augenblick dauerte es, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann sah er sie. Eingequetscht, blutüberströmt, ohne Lebenszeichen. Ihm war in diesem Moment klar geworden, dass er eine bereits aus dem Leben Gegangene sah. Diese nur noch in letzten Energiequanten bebende Biomasse war einmal seine Frau gewesen: Irmingard Hopf von Quappendorff.





