- -
- 100%
- +
IV
Auszug aus dem Unfallprotokoll
B-IHQ 3463 / Hopf, Irmingard
... lässt sich eine Fremdverschuldung ausschließen. Der Wagen der Verunglückten ist mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund eines Fahrfehlers von der Fahrbahn abgewichen und mit überhöhter Geschwindigkeit frontal mit einem Alleebaum zusammen gestoßen. Die Vermessung des Bremswegs lässt auf eine Aufprallgeschwindigkeit von mindestens 120 km/h schließen. Zeugen des Unfallhergangs konnten nicht ermittelt werden.
R. Boedefeldt
Polizeihauptmeister
V
Irmingard Hopf von Quappendorff

Was war das nur für ein unsäglich schlechter Scherz, den sich Wolfgang mit ihr erlaubt hatte! Sie war zu Tode erschreckt von diesem Schabernack.
Beim Treppensteigen hatte plötzlich der alte Mantel am Kleiderhaken angefangen zu leben. Nun, nicht direkt, aber ein Ärmel bewegte sich kurz auf und ab. Zuerst glaubte sie, einer visuellen Irritation erlegen zu sein. Sie trug immerhin eine Gleitsichtbrille. Aber beim zweiten Hinschauen war es wieder zu sehen. Ganz deutlich bewegte sich der Ärmel. Sie stieß einen kurzen Schrei aus. So kurz, dass sie selbst darüber erstaunt war, ihn noch so intensiv zu hören.
Dann rannte sie die Treppe hinab. Sie spürte ihren Herzschlag überlaut im Brustkasten, fast schon schmerzhaft, pochen. Sie begann zu hyperventilieren. Immer wenn sie sich aufregte, traten diese Symptome in schöner Regelmäßigkeit hintereinander auf. Als nächstes bekam sie große, rote, unregelmäßige Flecken auf den Wangen und Schweißausbrüche. Dazu fühlte sie sich leicht schwindelnd und bekam zum Schluss auch noch weiche Knie. Dann brauchte sie dringend einen Stuhl. Ansonsten fiel sie um, meist theatralisch.
Schon als kleines Mädchen hatte sie mit solchen Panikattacken zu kämpfen. Alle wussten davon. Aber mit der Zeit wurden die Attacken immer heftiger und kamen immer öfter. Ihre Mutter war mit ihr deswegen bei diversen Ärzten vorstellig geworden. Meist schauten diese Halbgötter nur mitleidig zu ihr herab, tätschelten ihr die Wangen und erzählten etwas von frühpubertären Störungen im Hormonhaushalt.
Wolfgang, ihr Mann, machte sich manchmal einen Spaß daraus, sie zu erschrecken. Einmal hatte er in dem großen Sessel im Schlafzimmer gesessen, ohne einen Mucks verlauten zu lassen. Irmi, so wurde sie von Wolfgang meistens genannt, war schlaftrunken ins Zimmer gekommen und wollte sich zu Bett begeben, als plötzlich ein tiefes Röcheln zu vernehmen war. Irmi stand wie ein Stehaufmännchen im Bett und schrie. Wolfgang jedoch lachte nur. Die ganze Nacht konnte sie nicht mehr schlafen. Seitdem sah sie als erstes, wenn sie ins Zimmer kam, nach den Sesseln.
Irmi hatte sich inzwischen wieder im Griff. Heute war schließlich wieder ein Familientreffen auf Gut Lankenhorst angesagt. Sie mochte diese Treffen da draußen auf dem alten Gutshof. Schließlich traf sie ihren Vater und sah auch ihre Schwester, zu der sie ansonsten nur noch wenig Kontakt hatte. Dass ihr etwas aus der Art geratene Cousin Lutger auch erschien, war ihr zwar unangenehm, aber irgendwie schaffte sie es, ihm soweit wie möglich aus dem Weg zu gehen.
Eigentlich hatte Irmi es nicht mehr nötig, irgendwelche Aufgaben zu übernehmen. Ihr Mann hatte ein kleines Vermögen als Immobilienmakler erwirtschaftet. Damit hatte die ganze Familie ausgesorgt. Ihre beiden Kinder waren bereits aus dem Hause, studierten in Amerika und Australien und die große Villa, in der sie lebten, war auch schon abbezahlt.
Aber da war diese Angst vor der Leere, dieses Unbehagen vor dem Nichtgebrauchtwerden. Sie war überglücklich, als sich vor ein paar Jahren ihr Vater bei ihr meldete und von seinen verrückten Plänen berichtete. Natürlich war das Ganze nur ein Spleen eines pensionierten Lehrers.
Wolfgang hatte sich, nachdem der alte Baron seine Pläne von der Übernahme des alten Familiengutes in Lankenhorst offen legte, das Objekt mal angesehen. Also nur so ganz unverbindlich. Wolfgang hatte mit dem Kopf geschüttelt und etwas von »hoffnungsloser Fall« und von »Einöde« und »Millioneninvestitionen für umsonst« gebrabbelt.
So genau verstand sie das sowieso nicht. Sie stand mit Zahlen auf dem Kriegsfuß. Ja, etwas geschmackvoll einrichten und passende Kleidungsstücke entsprechend der aktuellen Mode auswählen, das konnte sie. Darauf legte sie auch stets Wert. Sie war immer chic, aber dezent gekleidet. Ein leichter Hauch eines raffinierten Parfums schwebte jederzeit um sie herum und das war ihr eigentlich wesentlicher als all dieses trockene Zählen und Rechnen.
In dieser Welt hatte es sich Wolfgang eingerichtet. Ohne seinen Laptop war er eigentlich nur ein halber Mensch. Sie staunte noch immer, wie viele Zahlenkombinationen er so einfach im Kopf hatte. Sie wäre schon längst verrückt geworden, wenn sie nur ein Drittel dieses Zahlenwustes meistern müsste.
Irmi hatte schon genug damit zu tun, die Kinder aufzuziehen und den Haushalt zu führen. Ihre Woche war lange Zeit streng geregelt. Neben den klassischen Pflichten, wie etwa Frühstück für die Familie zubereiten, Einkäufe tätigen und Hausaufgaben bei den heranwachsenden Mädchen kontrollieren hatte sie so nach und nach einen recht anspruchsvollen Arbeitskalender füllen können.
Montags brachte sie die Mädchen zum Klavierunterricht und traf sich dann abends mit den Damen vom Kirchenchor. Dienstags fuhr sie Wolfgang zum Tennis und die Mädchen zum Schwimmen. Mittwochs spielte sie Rommé am Nachmittag mit drei befreundeten Damen aus der Nachbarschaft. Donnerstags war Einkaufstag. Das war blanker Stress! Lange Listen, die sie so im Laufe der Woche schrieb, wurden dann abgearbeitet. Eine große Runde mit vielen Stopps wurde von ihr abgefahren. Freitags war wieder etwas erholsamer. Die Mädchen hatten nachmittags immer Sport. Irmi konnte dann zum Friseur oder zur Kosmetikerin.
Tja, und nun diese neue Aufgabe. Stiftungsrat! Mein Gott! Wie wichtig das klang. Sie fühlte sich angenehm wichtig. Was da von Papa besprochen wurde, verstand sie zwar nicht annähernd. Irgendetwas wollte er da draußen auf dem verfallenen Gutshof aufbauen und auch Veranstaltungen waren geplant. Konzerte und Ausstellungen. Sie hatte ihm schon signalisiert, beim Einrichten der Räume aktiv helfen zu wollen und auch bei der Garten- und Parkplanung wollte sie mitmachen. Alles andere interessierte sie nur marginal. Dennoch nahm sie gern an diesen Stiftungsratssitzungen teil. Es war immer ein nettes Geplauder mit den anderen Stiftern möglich. Außerdem hatte sie eine nicht unbeträchtliche Summe zur Verfügung gestellt. Also Wolfgang hatte das ermöglicht. Er hatte etwas von Steuersparmodellen erwähnt und das eine solche Stiftung dafür doch ideal geeignet wäre. Na ja, das waren dann wieder diese unsäglichen Zahlen ...
Irmi hatte sich sorgfältig geschminkt an diesem Morgen und ein besonders edles Parfum ausgewählt: »La Belle de Russe«. Irgendetwas Raffiniertes mit einem Hauch von Magnolienblüten. Üblicherweise blieb sie über Nacht dann auch im Gutshaus. Ihre Tasche war schon gepackt. Für Papa hatte sie außerdem ein kleines Geschenk verpackt. Ein Necessaire mit Edelstahlscherchen, Nagelfeilen und Pinzette. Alles geschmackvoll umhüllt von genopptem Leder im Kroko-Look. Das Etui hatte sie als Giveaway bei einer Werbeaktion für Kosmetikartikel bekommen. Wolfgang konnte sie es nicht schenken. Der hatte schon zwei. Aber Papa ... Nun, der freute sich immer, wenn sie an ihn dachte.
Dieser Morgen wollte überhaupt nicht zum Tag werden. Draußen war ein trüb milchiges Dämmerlicht. Nebel hatte sich breit gemacht. Irmi würde am liebsten zu Hause bleiben. Aber sie hatte telefonisch fest zugesagt. Eigentlich mochte sie es nicht, bei Nebel längere Zeit am Lenkrad zu sitzen. Es war einfach anstrengend, immer in das weiße Nichts zu starren und irgendwo nach möglichen Hindernissen zu spähen. Aber sie vertraute auf ihre Fahrkünste und auf die Nebelscheinwerfer ihres Citroens. Knapp eine dreiviertel Stunde dauerte die Fahrt, wenn sie zügig fuhr. Allerdings, jetzt bei diesen Verhältnissen würde sie wohl eine halbe Stunde mehr einplanen müssen.
Irmi schaute auf ihre mit kleinen Saphiren besetzte Lacroix-Uhr. Es war kurz vor Sieben. Höchste Zeit loszufahren, wenn sie noch halbwegs pünktlich um Neun eintreffen wollte. Etwas hektisch schnappte sie ihre Tasche und rannte die Treppe hinab zur Garage. Ihr dunkelroter Citroen wartete schon auf sie.
Sie war eine gute Fahrerin. Sie liebte es, den Wagen rasant und sportlich durch die Straßen zu bewegen. Wolfgang bewunderte sie dafür. Er fuhr immer sehr bedächtig und vorsichtig mit seinem schweren Daimler. Als ob er den vielen Pferdestärken in seinem Motor nicht so recht vertrauen würde. Sie spottete manchmal, dass sie in ihrem Citroen, der nur einen halb so starken Motor habe, doppelt so schnell unterwegs war wie er.
Aber heute war Nebel. Kein Wetter, um flott voran zu kommen. Sie hasste es, bei Tempo dreißig mit dem Wagen durch die Straßen zu schleichen. Aber vielleicht hob sich der Nebel noch. Irmi gab Gas und fuhr Richtung Norden. Ihr Navigationsgerät war eingeschaltet und suchte automatisch die beste Route durch das Labyrinth der Stadt. Jenseits der Stadtgrenze war dann alles übersichtlicher. Da konnte sie das Navi abschalten. Den Weg kannte sie gut. Oft schon war sie hier auf der Fernverkehrsstraße B 2 Richtung Biesenthal unterwegs.
Entspannt lehnte sie sich zurück. Der Nebel begann sich auch zu lichten. Die Alleebäume waren inzwischen gut erkennbar. Irmi beschleunigte auf der schnurgeraden Strecke. Hier war immer wenig Verkehr. Weit voraus kam ihr ein Auto entgegen. Sie blendete ab. Der andere Wagen fast zeitgleich mit ihr. Irgendetwas stimmte jedoch nicht. Normalerweise war doch der Gegenverkehr auf der linken Spur unterwegs. Doch dieser Wagen fuhr konstant rechts auf ihrer eigenen Spur. Irmi gab nervös Lichthupensignale. Der andere Wagen ebenfalls.
Er musste sie gesehen haben, war aber bestimmt einer dieser sturen Raser, die in Brandenburg so häufig anzutreffen waren. Diese Leute machten sich einen Spaß daraus, andere zu ärgern und ihnen zu zeigen, wer die Herren der Landstraße waren. Irmi hatte schon oft rücksichtslose Fahrer erlebt. Lückenspringer, Überholer, Slalomfahrer, Bremser ..., das ganze Spektrum.
Aber dieser hier schien schon ein sehr hartnäckiger und abgebrühter Typ zu sein. Der Wagen hielt stur auf sie zu. Irmi wurde nervös.
Was sollte das denn?
Hatte der im Nebel die Spur verwechselt?
Aber so dicht war der Nebel nicht mehr. Man konnte die Straße leidlich erkennen. Auch die Alleebäume waren als Schatten gut zu erahnen. Sie schaute kurz auf ihren Tacho. Hundertzehn. Eigentlich keine zu hohe Geschwindigkeit für diese gerade Allee. Es gab hier keine Kurven, nichts, kein Hindernis oder sonst etwas ...
Im Bruchteil einer Sekunde begriff sie: dieser Wagen, der ihr da auf der rechten Spur entgegenkam, hatte es auf sie abgesehen. Er wollte sie abdrängen von der Straße!
Irmi reagierte instinktiv. Sie riss das Lenkrad herum und spürte im selben Moment wie das sonst so sichere und zuverlässige Fahrzeug sich wie ein störrisches Lebewesen aufführte. Ungeahnte Kräfte zogen an ihr. Sie sah plötzlich den Baum, der mit einer überirdischen Geschwindigkeit auf sie zuraste.
Bäume können doch gar nicht rasen!
Das war der letzte klare Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss. Dann hörte sie nur noch ein ohrenbetäubendes Bersten und spürte einen gewaltigen Schmerz, der alles in ihr zu zermalmen schien. Plötzlich war es still.
Eine Minute später fuhr ein dunkler Daimler im Schritttempo an der Unfallstelle vorüber. Wahrscheinlich ein neugieriger Gaffer.
VI
Gernot Hülpenbecker

Die Meldung im Verkehrsfunk hatte Hülpenbecker etwas verstört. Er würde zu spät kommen. Das war ihm peinlich. Er kam stets pünktlich, egal ob beruflich oder privat. Pünktlichkeit war für Gernot Hülpenbecker eine Basistugend.
Weiträumige Umfahrung! Wie sollte man denn hier etwas weiträumig umfahren? So gut kannte er sich nun doch nicht auf den Straßen Brandenburgs aus, um spontan eine weiträumige Umfahrung der B 2 aus dem Ärmel zu schütteln.
Er äugte etwas angestrengt aus dem Fenster. Draußen nebelte es so vor sich hin, nur schemenhafte Schatten waren zu erkennen. Das konnte ja noch heiter werden!
Nervös nestelte Hülpenbecker an seinem Jackett herum. Irgendwo musste doch das blöde Handy stecken. Unbedingt sollte er beim alten Quappendorff Bescheid sagen, dass es etwas später werden könnte. Dabei hatten sie extra noch gestern telefoniert, ob er nicht etwas früher ... Der Baron wollte mit ihm noch ein paar grundsätzlich wichtige Dinge besprechen wegen der Kreditlinie und überhaupt, wie es mit der Stiftung finanziell so weitergehen sollte.
Hülpenbecker wusste um die Sorgen des alten Herrn. Bisher hatte sich dessen Neffe Lutger meist um die Finanzen gekümmert. Lutger war ein seelenloser Technokrat der neuen Schule. Der warf nur so mit Anglizismen um sich, faselte etwas von Break-Even-Points und schneller Kapitalverbrennung, telefonierte dauernd während der Gespräche mit irgendwelchen Leuten und knallte ihm dann solche Sätze um die Ohren wie etwa »Think big!« oder »Future is now!«.
Die aufbereiteten Zahlen, die Lutger jedoch vorlegte, waren meist jedoch nur sehr stümperhaft zusammengetragen und eine Auswertung fehlte auch. Hülpenbecker musste jedes Mal die lose Blattsammlung noch einmal neu zusammenstellen und in ein brauchbares Tableau verwandeln. Als Stiftungsratsmitglied hatte er natürlich auch ein gewisses Interesse, dass dieses Projekt nicht zu einer lächerlichen Posse verkam. Und als Banker musste er das Ganze auch gegenüber seinen Mitarbeitern vertreten können. Speziell seine drei Stellvertreter, Müller, Schulze und Meier – ja, so hießen die nun mal - blickten immer sehr argwöhnisch auf alle seine Aktivitäten.
Und jetzt tuckerte er mit Tempo dreißig auf einer einspurigen Straße durch Dörfer, deren Namen er heute das erste Mal las: Rüdnitz, Danewitz, Melchow. Die Ortschaften gehörten nicht mehr zum Kreis Oberhavel, daher kannte er sie auch nicht.
Nach einer halben Stunde hatte er vollständig die Orientierung verloren. Er bewegte sich durch das tiefste Niemandsland inmitten des Barnim und wusste nicht so recht, wie nun weiter. Entnervt hielt er an einer kleinen Tankstelle.
Eine etwas mollige Dame hinterm Tresen des Verkaufspavillons half ihm dann: »Na hier sindse gaanz falsch! Da müssense wieda zurück, so wiese jekommen sinn... bis Danewitz… un daaa biegense ab nach Biesenthal. Dann findense aleene weita!«
Hülpenbecker tuckerte also wieder zurück. Es war inzwischen schon kurz vor Acht. Eigentlich wollte er jetzt schon auf Gut Lankenhorst sein. Er probierte es noch einmal per Telefon. Sein erster Anruf war auf dem Anrufbeantworter gelandet. Vielleicht war ja inzwischen der Baron erreichbar.
Hülpenbecker sah stets leicht bekümmert aus. Seine Physiognomie schwankte meist zwischen verstört und zerknirscht. Einen optimistischen Blick gab es von dem unscheinbaren Mann, der geschätzt Mitte Vierzig alt zu sein schien, eigentlich gar nicht. Wahrscheinlich waren der dauernde Umgang mit den Zahlen und der permanente Druck, noch mehr Zahlen zu produzieren, Schuld an diesem Zustand.
Dabei hatte sich Hülpenbecker nichts vorzuwerfen. Er hatte eine mustergültige Karriere durchlaufen. Als kleiner Angestellter der Kreissparkasse Oranienburg hatte er sich durch Fleiß und Akribie bis zum Filialleiter der jetzigen Märkischen Bank Oberhavel hochgearbeitet. Stets hatte er die Auflagen, die von der fernen Zentrale in Potsdam kamen, erfüllen können. Sein Ressort stand nicht schlecht da und auch sein Engagement für regionale Kunden wurde als absolut lobenswert erachtet. Dennoch hatte Hülpenbecker immer so ein Gefühl, als ob man ihn argwöhnisch beobachte und tunlichst auf einen Fehler warte, den er vielleicht gemacht haben könnte.
Vielleicht waren daran auch seine drei Stellvertreter Müller, Schulze und Meier Schuld. Sie waren eigentlich vollkommen nichtssagende Menschen, sahen alle drei gleich unsympathisch aus, begegneten ihm stets mit einer ausgesprochen unangenehmen Freundlichkeit und machten stets den Eindruck, wieselflink und superschlau zu sein. Obwohl sie alle mindestens zehn Jahre jünger als Hülpenbecker waren, erweckten sie den Anschein, als ob sie schon viel länger in der Bank tätig waren und über alle Vorgänge genauestens Bescheid zu wissen.
Hülpenbecker seufzte. Nein, immer noch war nur der Anrufbeantworter zu erreichen. Es war inzwischen schon kurz nach Acht und er hatte gerade das Ortseingangsschild von Biesenthal hinter sich gelassen. Erstaunlich viel Polizei und andere Blaulichtfahrzeuge waren unterwegs. Er erinnerte sich an den Grund für die weiträumige Umfahrung. Vollsperrung wegen eines Unfalls. Ja, natürlich, sonst müsste man ja schließlich auch nicht am Montagmorgen eine Fernverkehrsstraße sperren.
Er lavierte zwischen den vielen Fahrzeugen durch das Städtchen. Biesenthal war eine langgestreckte Siedlung. Viel Grün war zwischen den einzelnen Ortsteilen. Der eigentliche Ortskern mit dem schönen alten Fachwerkrathaus, der Kirche und dem winzig kleinen Marktplatz lag leicht abseits. Obwohl Biesenthal gerade mal fünftausend Einwohner hatte, gab es zwei große Kirchen. Eine barock anmutende Katholische Kirche und eine schlichte, typisch märkische Evangelische Kirche. Von weitem sah das Städtchen daher immer etwas imposanter aus, als es wirklich war.
Endlich war Hülpenbecker durch das mittlere Verkehrschaos hindurch. Biesenthal lag hinter ihm und nun waren es nur noch ein paar Kilometer bis Gut Lankenhorst. Erleichtert lehnte er sich zurück und gab Gas.
Die Quappendorffs waren für Hülpenbecker eine Art Ersatzfamilie. An einer eigenen Familiengründung hatte er nie so richtig gearbeitet. Die Frauen fanden ihn zwar immer recht zuverlässig und akkurat, aber das war es dann auch schon. Einmal hatte er sich so richtig verliebt. Noch zu Studentenzeiten war das passiert. Er war Student der Betriebswirtschaft, war im Lesesaal, um irgendwelche dicken Wälzer zu konspektieren.
Da saß sie ihm gegenüber, blätterte in einer bunten Illustrierten und schlürfte geräuschvoll Kakaomilch aus einer Tetrapaktüte. Das war Clara-Louise von Quappendorff. Spontan verliebte er sich in die Blondine. Aber er hatte nie den Mut, ihr seine Liebe zu gestehen. Jedes Mal, wenn er sie auf dem Campus sah, hatte er den Impuls, zu ihr hinzugehen und sie auf einen Kaffee einzuladen.
Doch die Angst vor einem Korb war zu groß. Tja, und dann war sie weg. Nach einem halben Jahr verschwand sie plötzlich von der Bildfläche der Uni. Später erfuhr er dann, dass sie in eine andere Stadt gezogen war. Sie hatte sich verlobt und schwanger sei sie auch.
Irgendwann viele Jahre später tauchte sie wieder auf. Aus der blonden Studentin war eine sehenswerte Frau geworden. Sie gehörte zu der Familie seines guten Kunden, Rochus von Quappendorff. Und als der ihn fragte, ob er nicht Lust habe, in seiner Stiftung mit tätig zu sein, musste Hülpenbecker nicht lange überlegen. Er freute sich jedes Mal, wenn der Stiftungsrat tagte und auch Clara-Louise auftauchte.
Seine geheime Leidenschaft für diese Frau verbarg er natürlich. Ihm wäre es furchtbar peinlich, würde diese stille Passion ruchbar.
Die Eichenallee kam in Sicht und Hülpenbecker bog mit seinem Wagen in die kleine Auffahrt ein. Er war da.
Die Weiße Frau
Gehüllt in weiße Witwentracht,
Im weißen Nonnenschleier,
So schreitet sie um Mitternacht
Durch Burg und Schlossgemäuer.
Christian Graf zu Stolberg-Stolberg
(Deutsch-dänischer Dichter der Romantik, 1748-1821)

Eines der ältesten und bekanntesten Gespenster im märkischen Raum ist wohl die »Weiße Frau«, eine Gestalt, die in wallende, weiße Tücher gehüllt, durch Wände ging, und den Lebenden so einen Schreck einjagte. Vor allem in den alten Schlössern soll sie gespukt haben. Manche Geisterseher gehen davon aus, dass sie bis heute dort noch anzutreffen sei, ja versteigern sich sogar in der Behauptung, die »Weißen Frauen« wären inzwischen ortsungebunden und würden sogar in den Städten und auf dem offenen Lande herum spuken.
Die ältesten Berichte über das Auftreten einer »Weißen Frau« gehen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Später dann, im 17. Jahrhundert, wurde die »Weiße Frau« ein ausgesprochen populäres Gespenst.
Der damalige Zeitgeist der Gegenreformation machte aus dem Spuk ein Standesattribut. Keine Adelsfamilie kam ohne eine solche Erscheinung mehr aus, wenn sie wirklich zu den großen und alteingesessenen Häusern gehören wollte.
Am bekanntesten dürfte wohl die »Weiße Frau« der Hohenzollern sein. Früheste Aufzeichnungen haben Kunigunde von Orlamünde als Ursprung für den Spuk in den Hohenzollernschlössern ermittelt.
Dieses Burgfräulein soll ihren beiden Kinder aus erster Ehe erst die Augen ausgestochen und sie dann getötet haben, um so die ersehnte Gattin des damaligen Burggrafen Albrecht von Hohenzollern zu werden. Der verstieß die liebestolle Kunigunde jedoch, als er erfuhr, was sie getan hatte.
Später ward dann der Geist der schönen »Gießerin«, Anna Sydow, zu einer »Weißen Frau«. Die Sydow war die Maitresse des Kurfürsten Joachim II. Bereits 1598 wurde sie im Berliner Stadtschloss erstmals gesichtet. Später erschien sie regelmäßig, wenn ein Hohenzoller starb.
Sogar ein Gastspiel in Thüringen soll sie gegeben haben, als Prinz Louis-Ferdinand gegen die Franzosen bei Jena und Auerstedt in den Krieg zog und fiel. Die »Weiße Frau« war stets ein stummer Geist, der nicht polterte oder den anderen Lebenden etwas Böses antat.
Das ist die Sage: und will Gefahr
Die Hohenzollern umgarnen
Da wird lebendig ein alter Fluch,
Die weiße Frau im Schleiertuch
Zeigt sich, um zu warnen
Sie kommt dreimal, geht um dreimal
Zögernder immer und trüber
Die Wache ruft ihr Halt-Werda nicht mehr,
Sie weiß, den Gast schreckt kein Gewehr;
Der Schatten schreitet vorüber.
»Wangeline von Burgsdorf oder die Weiße Frau«
von Theodor Fontane
Oftmals geht auch in alten Klostergemäuern eine »Weiße Frau« um. Hierbei handelt es sich meist um den Geist einer unglücklich verliebten Nonne, die seufzend und weinend durch die verwaisten Gänge zieht.
Andere märkische Adelshäuser kannten ebenfalls solche »Weiße Frauen«. So die Knesebecks, die Uchtenhagens, die Marwitzens, die Sparrs und die Rochows. Häufig handelt es sich hier bei der »Weißen Frau«, die manchmal auch als »Graue Frau« oder sogar als »Schwarze Frau« auftritt, um den Geist einer weiblichen Urahnin des betreffenden Geschlechts.
Im Allgemeinen ist sie, sofern man ihr nicht zu nahe kommt, nicht böswillig oder gefährlich. Ihr Auftreten löst dennoch oft Furcht und Schrecken aus, da sich durch sie familiäre Katastrophen, insbesondere unerwartete Todesfälle von Familienmitgliedern ankündigen. Die Sagen über die »Weiße Frau« sind bis heute moderne Folklore geworden.
I
Gut Lankenhorst
Sonntagnacht, 22. Oktober 2006






