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Linthdorf hatte die Regierungszeit des ersten Brandenburger Ministerpräsidenten noch gut in Erinnerung. Die Investruinen von damals hielten bis heute das Land im eisernen Schuldengriff. Jedes Mal, wenn er in der Lausitz unterwegs war, sah er die riesige Luftschiffhalle, in der niemals ein echtes Luftschiff gebaut worden war, da alles vorab investierte Geld für den Bau der gewaltigen Halle drauf gegangen war.
Nur unweit entfernt war eine gewaltige Autorennstrecke mitten in die Einöde gesetzt worden. Formel 1 in der Lausitz! Die Welt schaut auf uns! Und der Jetset wird sich in den Hügeln alter Braunkohletagebaue tummeln und nur so mit Geld um sich werfen. Das war die Vision. Das Motodrom wartet bis heute auf eine wirklich rentable Nutzung.
In Frankfurt an der Oder stand der große Komplex des Halbleiterwerks auf verlorenem Posten und überall im Lande wurden futuristische Solaranlagen produziert, die nur dank staatlicher Subventionen zu marktüblichen Preisen verkauft werden konnten. Linthdorf verstand nicht so sehr viel von solchen Projekten, aber sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass Solarenergie »made in Brandenburg« nicht unbedingt ein Renner sein konnte.
Die Firmen, die in der Knipphaseschen Liste auftauchten, waren ihm allesamt unbekannt. Weder hatte er irgendeine Werbung für deren Produkte gesehen, noch waren ihm deren Produktionsanlagen oder Immobilien aufgefallen. Nun, das konnte auch daran liegen, dass er bisher wenig auf solche Details geachtet hatte.
Linthdorf begann die Firmen in seinen Computer in eine Excel-Tabelle zu tippen. Nach einer knappen Stunde war er fertig. Er sortierte nun die Firmen nach Postleitzahlen, gruppierte sie nach Regionen und teilte sie seinen Mitarbeitern zu. Jede Region bekam von ihm drei Mitarbeiter zugeteilt. So konnte sie die Aktivitäten etwas bündeln und bei der Suche nach den Firmen Routen zusammenstellen.
Um vier Uhr traf er sich zu einer ersten Einsatzbesprechung mit den zugeteilten Kollegen. Alle waren anwesend. Die Atmosphäre war im Vergleich zum Vormittag deutlich lockerer und entspannter. Knipphase und Nägelein fehlten ja schließlich. Linthdorf atmete tief durch und kam gleich zur Sache.
Jedes der neuen Teams bekam eine der von ihm ausgedruckten Listen zugeteilt. Er benannte die Teams nach der Region, in der sie tätig werden sollten:
Team 1 Uckermark-Barnim
Team 2 Oderland-Spreeland
Team 3 Spreewald – Lausitz
Team 4 Fläming-Mittelmark
Team 5 Havelland-Prignitz
Team 6 Ruppin-Oberhavel
Er selbst hatte sich bei Team 6 eingeschrieben. Im Hinterkopf hatte er dabei auch die toten Kraniche im Linumer Bruch. Vielleicht konnte er etwas Zeit für lokale Ermittlungen abzweigen.
Louise Elverdink hatte er zur Leiterin von Team 5 gemacht. Mit den Teamleitern würde er am meisten zu tun haben, schließlich hatte er die Ermittlungsergebnisse zu sammeln und zu koordinieren. Möglicherweise gab es ja auch Überschneidungen. Er hatte versucht, in jedem Team einen Steuerfahnder und einen Computerspezialisten zu platzieren. So sollte eine interdisziplinäre Arbeit am besten möglich sein. Die Mitarbeiter machten sich untereinander bekannt. Es herrschte eine gesprächige Atmosphäre. Linthdorf war fürs Erste zufrieden.
Morgen wollte er mit seinem Team beginnen, die Region nach den Aktivitäten der aufgelisteten Firmen zu durchforsten. Er hatte grob überschlagen, dass ungefähr vierzig Namen auf der Liste standen, die mehr als 185 Millionen Euro öffentliche Gelder bekommen hatten und die auch mit Steuernummern bei den Finanzämtern versehen waren. Der Steuerfahnder würde schon aus den dort gelagerten Zahlen etwas herausfiltern, was da zu erwarten war.
Spät abends um zehn Uhr saß er in der S-Bahn zurück nach Berlin. Linthdorf war rechtschaffen müde.
III
Berlin-Friedrichshain
Montagabend, 23. Oktober 2006
Wann genau er zu Hause eingetroffen war, konnte sich Linthdorf nicht mehr so genau erinnern. Es war auch nicht wichtig, denn es wartete sowieso niemand auf ihn. Die Wohnung sah noch genauso unaufgeräumt aus, wie er sie am frühen Morgen verlassen hatte.
So richtig Lust, etwas an dem chaotischen Zustand seines Domizils zu ändern, hatte er im Moment auch nicht. Der Tag hatte ihn ausgelaugt.
Linthdorf merkte, dass er keine dreißig mehr war. Natürlich, er bewältigte noch immer seinen Alltag in routinierter Weise, aber es fiel ihm immer schwerer, abends abzuschalten und sich wirklich zu erholen. Nachts lag er wach und grübelte. Den nächsten Tag konnte er dann nur unter Aufbietung aller Willensstärke durchhalten.
Inzwischen spürte er schon, wann sich so eine schlaflose Nacht ankündigte. Heute war wieder so eine Nacht. Vorsorglich hatte er sich die Listen von Knipphase mitgenommen und auch einen kleinen Laptop, der über einen Internetanschluss verfügte. So konnte er diesen schlaflosen Zustand wenigstens mit etwas Sinnvollem überbrücken.
Im Kühlschrank fand er noch eine Tetrapaktüte mit H-Milch und eine Dose mit Halberstädter Würstchen. Das war immerhin etwas Nahrhaftes. Eigentlich wollte er noch im Spätkauf unten an der Ecke etwas einkaufen, aber er hatte keine Lust auf Smalltalk mit der Verkäuferin. Die verwickelte ihn stets in irgendein triviales Gespräch über die Kriminalität im Kiez. Er hatte das Gefühl, sich dauernd bei ihr entschuldigen zu müssen für jeden Graffiti-Sprayer und für jeden Taschendieb, der hier im Viertel für Verwirrung sorgte.
Linthdorf machte es sich auf dem Sofa bequem, biss herzhaft in ein Halberstädter Würstchen und nahm dazu einen großen Schluck aus der H-Milchtüte. Dann fing er an, die Liste, die er ausgedruckt hatte zu studieren. Ganz oben stand »Planters & Crane Development & Financial Services GmbH & Co. KG«. Ein langer Name, der auf internationales Engagement hinwies. Das englische Wortungetüm hatte erstaunlicherweise seinen Sitz in Oranienburg.
Die Gesellschafter waren auch allesamt biedere deutsche Namen: Georg W. Müller, Hans-Jürgen Schulze und Richard Meier. Alle drei hatten den Titel eines »Dipl.Kfm.« vor ihren Namen stehen. Machte eigentlich einen seriösen Eindruck.
Als Geschäftsbereiche wurden Immobilien- und komplexe Projektentwicklung, Immobilienverkauf und Maklerei angegeben. Nichts Ungewöhnliches.
Linthdorf schaute noch auf die angegebene Website, die im Kleingedruckten neben drei Telefonnummern auftauchte. Er konnte ja einmal einen Blick auf ihre Internetpräsentation werfen.
Die nächste Firma auf der Liste hatte ebenfalls in Oranienburg ihren Sitz, sogar dieselbe Adresse wie für das englische Wortungetüm war angegeben.
Diese Firma schien etwas Vornehmes zu sein: »Cygognia Dienstleistungen & Consulting UG«. Die Geschäftsführer der »Cygognia« waren dieselben wie bei »Planters & Crane«.
Linthdorf stutzte. Was hatten die drei Kaufleute, die mit Immobilien zu tun hatten mit einem Marketingspezialisten zu tun. Jedenfalls waren im Geschäftsbereich der »Cygognia« nur Vermarktung und Verkaufsunterstützung angegeben. Linthdorf nahm sich vor, diese beiden Firmen etwas genauer anzusehen. Dann schaute er weiter die Liste durch. Ziemlich am Ende der Liste tauche eine »Heron Real Estate & Management KG« auf. Diese Firma hatte ihren Sitz in der etwa vierzig Kilometer entfernt liegenden Stadt Gransee. Auch nicht ungewöhnlich. Worüber Linthdorf stolperte, waren die drei Namen Müller, Schulze und Meier, die auch hier als Gesellschafter auftraten. Allerweltsnamen. Diese Namen zu googeln, war wie die berühmte Nadel im Heuhaufen zu suchen.
Linthdorf machte sich Notizen. Mit diesen drei Firmen wollte er morgen beginnen und die angegebenen Adressen besuchen. Er war gespannt, wer sich hinter diesen Namen verbarg. Sein kriminalistischer Spürsinn war erwacht.
Endlich spürte er auch etwas Müdigkeit. Die Augenlider wurden schwer und Linthdorf drehte sich um, knipste das Licht aus und versank in einen unruhigen Schlaf.
Im Traum erschienen ihm die toten Kraniche, die er von Boedefeldt als Fotodateien gemailt bekommen hatte. Sie waren wieder lebendig und wollten ihm etwas mitteilen. Allerdings hatte er Probleme, das Geschnatter zu verstehen. Er rief seine Kollegin Louise Elverdink herbei, die aus dem Geschnatter der Vögel etwas herauszuhören glaubte.
Dann flog sie zusammen mit den Kranichen auf und davon. Anstelle der Arme hatte sie plötzlich große Schwingen und stieg elegant mit den Vögeln Richtung Himmel. Dort oben bildeten sie eine eigentümliche Formation, die Linthdorf an irgendetwas erinnerte. Es hatte mit etwas Unangenehmen zu tun. Neben ihm tauchten plötzlich wieder Boedefeldt und dessen Freund, der emeritierte Ornithologieprofessor Diestelmeyer, auf.
Anerkennend nickten die beiden, als sie zum Himmel schauten. Dann sprach Boedefeldt etwas von schönem Wetter, das immer zu erwarten sei, wenn die Kraniche hoch flögen. Sein Begleiter jedoch verwies auf die menschenfressenden Kraniche in der Ilias, und das diese zurückkehren würden, wenn man dem Frevel nicht Einhalt gebieten würde.
Der Kommissar verstand überhaupt nichts mehr und wachte auf. Der verstörende Traum war noch präsent. Er griff nach der H-Milchtüte und trank den Rest mit einem Zug aus. Dann schlurfte er Richtung Toilette.
IV
Oranienburg
Dienstag, 24. Oktober 2006

Die Kreisstadt im Norden Berlins hatte sich in den letzten Jahren stark verändert. Aus der grauen Garnisonsstadt, die ohne richtiges Zentrum und ohne jeglichen Charme vielen nur als Endstation der Berliner S-Bahn ein Begriff, war eine schmucke Vorzeigestadt geworden. Oranienburg hatte es geschafft, sein etwas ramponiertes Image als trister Militärstandort abzustreifen.
Das Schloss, das jahrzehntelang als Kaserne für eine Einheit der DDR-Grenztruppen diente, war aufwändig renoviert worden und beherbergte neben einem Heimat- und Binnenschifffahrtsmuseum auch die ersten, wieder hergestellten, barocken Schlossräume mit den wertvollen Gobelins und Teilen der Porzellansammlung der Hohenzollern, die mehr als zwei Jahrhunderte die Geschicke Oranienburgs prägten.
Der angrenzende Schlosspark war im Umbau. Oranienburg hatte für die Landesgartenschau, die in drei Jahren hier stattfinden sollte, das ehrgeizige Projekt eines barocken Gartenwunders im Stil der Zeit der Königin Sophie-Henriette entwickelt.
Sophie-Henriette von Oranien war die Gattin des Großen Kurfürsten. Bei einem Jagdausflug hatte der Hohenzollernfürst seiner Frau dieses Städtchen, das damals noch Bötzow hieß, mitsamt umliegenden Dörfern und Fluren geschenkt.
Später wurde das Schloss von den stets klammen Preußenkönigen verkauft und in eine Schwefelsäurefabrik verwandelt. Das war der Beginn des Niedergangs von Oranienburgs einstiger Pracht. Im Zweiten Weltkrieg war die Stadt bevorzugtes Ziel angloamerikanischer Bomberangriffe. Die Stadt verschwand im Schutt.
Nach dem Krieg quartierten sich Soldaten in den wenigen verbliebenen Gebäuden ein. Das Schloss wurde zur Kaserne. Der Schlosspark musste als Truppenübungsplatz herhalten.
Der ehemalige Truppenübungsplatz direkt hinter dem Schloss, der die letzten Jahre nach der Wende als einfache Wiese fungierte, war jetzt eine große Baustelle.
Linthdorf steuerte seinen Dienstwagen an diesem trüben Herbstmorgen auf den Parkplatz gleich gegenüber dem Schloss. Eine große Bronzestatue der Oranierin, die letztlich auch Namenspatronin der Stadt war, stand gleich am Eingang zum Schlosspark. Der Polizist sah sie sich kurz an, zog grüßend seinen Hut vor ihr und schlenderte quer über den Schlossplatz. Die Adresse, die er suchte, musste in unmittelbarer Nähe sein. Er lief über die Havelbrücke, bog dann rechts in den Fischerweg ein und sah schließlich die Fischerstraße. Hier sollte der Sitz der Firmen »Planters & Crane« und »Cygognia« sein.
Linthdorf stand vor einem frisch sanierten Haus mit zwei Stockwerken. Nichts deutete auf reges Geschäftsleben hin. Neben der mit Messing unterlegten Klingelleiste waren zwei kleine Plaketten aus Plexiglas. Darauf angebracht die Namen der beiden Firmen in edler Druckschrift. Linthdorf sah sich die Klingelleiste an. Die beiden unteren Klingeln gehörten zu den beiden Firmen. Nichts schien sich hier zu bewegen.
Abseits unter einem Vordach stand nun der Mann in seinem schwarzen Mantel und mit dem schwarzen Borsalino auf dem Kopf und beobachtete unauffällig das Haus.
Er hatte Geduld. Klingeln würde nichts bringen. Er hatte auch keine wirkliche Idee, wie er sich sonst Zutritt verschaffen sollte ohne dass die Firmenmitarbeiter, falls es denn wirklich welche gäbe, misstrauisch würden. Also wartete er.
Linthdorf hatte Erfahrung mit solchen Situationen. Irgendwann würde die Haustür aufgehen. Das war dann seine Chance.
Wirklich, nach ungefähr zwanzig Minuten kam eine ältere Dame, die umständlich in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel suchte. Linthdorf schlenderte vollkommen locker an der Dame vorüber. Er hüstelte und blieb kurz stehen.
»Ist wohl keiner mehr im Büro?«
Die Dame schaute etwas ungläubig auf den dunklen Hünen.
»Ja, ich wollte eigentlich zu Planters & Crane.«
»Da is nie jemand. Sind ja bloß zwee kleene Kabuffs, wat die ham. Weeß ooch nich, wat die tun so.«
»Ein Herr Müller ..., oder auch Herr Schulze ...«
»Nöö, kenn ick nich. Sin dat die Fatzkes, denen die beeden Kabuffs jehörn? Wat wollnse denn von die? Jehörn Sie auch zu dem Verein?«
»Ich interessiere mich für ein Grundstück. Planters & Crane wurden mir als die Verwalter des Grundstücks genannt.«
»Noch nie jehört, das die schon ma wat vakooft hätten. Is ja imma niemand da, Ick wohn schon seit viertsich Jahrn hia. Als die das Haus sanierten, hamse da unten, wo früha en Jetränkelager von die Konsums war, zwee kleene Bürochens einjerichtet. Anfangs war da noch der Bauleiter drinne, dann stand et lange leer und eines Tages warn da die Schilda dran.«
»Wissen Sie noch, wann das war?«
»Wartense ma. Saniert wurde Zwo, als Zweitausendzwo. Dann war vielleicht so ein Jahr lang nüscht ... Also seit drei Jahrn, würd ick sachen.«
»Bekommen die Firmen Post?«
»Also, die Briefkästen wern einma die Woche jeleert. Da kommt imma so ne jungsche Blondine mit nem Schlüsselchen und holt die Post ab. Die kommt imma in so nem kleenen Autochen, so ner rasenden Keksdose uff Rädern, was so die jungschen Leute imma fahrn.«
»Ein Smart?«
»Kann sein, so heeßt et ..., ja, Schmaard. Jibt ja auch so ne bunten Uhren, die so heeßen. Nee, die sind Schwodsch. Oda?«
Linthdorf nickte verständnisvoll.
»Danke, Sie haben mir sehr geholfen.«
»Keene Ursache Meesta.«
Die nächste Station, die der Potsdamer Ermittler ansteuerte, war das Rathaus von Oranienburg. Hier wollte er diverse Ämter aufsuchen. Irgendwer musste ihm doch etwas mehr Auskunft über die ortsansässigen Firmen geben können. Dem Wirtschaftsdezernenten war bereits avisiert worden, dass jemand aus dem fernen Potsdam kommen würde. Linthdorf wurde erwartet.
Der Dezernent, ein klug dreinschauender Mann mittlerer Größe mit Goldrandbrille und grauem Haar, empfing ihn mit einer freundlichen Einladung auf eine Tasse Kaffee. Oh ja, natürlich kannte er die beiden Firmen. Im ganzen Landkreis waren die tätig. Hier in Oranienburg hätten sie bloß eine kleine Anlaufstelle.
Es ginge wohl um Vorhaben mit internationalen Geldgebern, die hier im Oberhavelkreis in diversen Entwicklungsprojekten aktiv tätig waren. Ein Hotelkomplex mit Wellness und Aktiverholung sollte gebaut werden in der Nähe von Liebenwalde. Direkt dazugehörig wären auch eine Golfanlage und eine Reitsporthalle. Alles großzügig gedacht und geplant. Wenn das erst mal stehen würde, dann würden viele Arbeitsplätze geschaffen werden und die reichen Gäste würden Geld in die Kassen der Geschäfte von Liebenwalde und Umgebung bringen. Das Land und auch der Landkreis beteiligten sich aktiv bei der Grundstücksentwicklung. Es wäre ja immerhin im Interesse aller.
Linthdorf atmete tief durch und fragte nur, wie hoch denn die Förderung ausgefallen sei. Der Dezernent blinzelte etwas verstört. Wieso er das wissen wolle. Lägen denn Verdachtsmomente gegen die Firmen vor, die auf kriminelle Aktivitäten hinweisen würden. Das Finanzamt habe bisher nichts Negatives über die Firmen zu berichten. Alle Steuererklärungen wären korrekt und die Steuerzahlungen kämen stets pünktlich, also, kein Grund zur Besorgnis. Im Übrigen vertrauten die Firmen kommunalen Steuererklärern und hätten auch ihre Konten allesamt bei der Märkischen Bank und nicht auf den Bahamas oder Cayman-Islands.
Linthdorf trank seinen Kaffee und nickte.
»Es handelt sich um eine Routineuntersuchung. Wir kontrollieren im Stichprobenverfahren diverse Unternehmen.«
Der Dezernent schaute den Polizisten etwas skeptisch an. So richtig glaubte er ihm das nicht. Immerhin, ein Beamter aus dem fernen Potsdam, noch dazu vom Landeskriminalamt, hatte sich hierher begeben, um vor Ort Recherchen über ein paar Firmen zu machen. Irgendetwas schien da nicht zu stimmen.
Linthdorf fragte weiter: »Kennen Sie persönlich die Gesellschafter? Hatten Sie schon einmal mit ihnen zu tun?«
»Nein, nicht direkt. Aber das Steuerberatungsbüro kenne ich, das die Firmen betreut. Der Chef ist ein guter Bekannter von mir. Den kann ich Ihnen empfehlen, wenn es um Details geht.«
»Wie kann ich ihn erreichen?«
Der Dezernent blätterte in einem kleinen Notizbuch, kritzelte auf einen Abreißblock eine Telefonnummer und einen Namen.
»Hier, sagen Sie aber .... Ach, machen Sie, was Sie für richtig halten. Informieren Sie mich bitte über den Verlauf der Ermittlungen. Wir haben hier nicht so viele Investoren wie Berlin oder Potsdam. Wir sind froh über jeden mutigen Unternehmer, der hier bleibt und etwas tut für die Region.«
Linthdorf nickte, trank seinen Kaffee aus und verabschiedete sich. Er hatte das bestimmte Gefühl, das er hier auf etwas gestoßen war, das ein intensiveres Nachforschen lohnte.
V
Oranienburg
Donnerstag, 26. Oktober 2006
Wieder war Linthdorf unterwegs in Oranienburg. Das Wetter meinte es an diesem Tag gut. Ein schöner Spätherbsttag mit milden Temperaturen und einem lauen Lüftchen. Nur mit seinem karierten Sakko bekleidet und seinem obligatorischen Hut schlenderte er entlang der Havelpromenade.
Er war diesmal nicht allein. Neben ihm marschierte ein durchtrainierter Mann, bestimmt zwei Köpfe kleiner als er, die kohlschwarzen Haare zu einer Bürste zurückgeschnitten, nur mit einem Sportshirt bekleidet, unter dem sich sehnige Muskeln abzeichneten.
Dieses Energiebündel war der Steuerfahnder Aldo Colli. Colli war gebürtiger Italiener, lebte aber schon seit seinem dritten Lebensjahr in Deutschland. Er galt als ausgesprochen ehrgeizig, absolvierte die einzelnen Stationen der Leiter im Schnelldurchlauf und hatte zahlreiche Hobbys, die ihn eher zum Elitesoldaten prädestinierten als zum Steuerfahnder. Colli war Extrembergsteiger, Spacejumper, Triathlet, Höhlentaucher und Mountainbiker. In jeder freien Minute suchte er nach extremen, körperlichen Herausforderungen. Dazu sprach er noch vier oder fünf Sprachen und hatte alle seine schulischen und universitären Abschlüsse mit Bestnoten gemacht.
Linthdorf wusste über seinen Begleiter Bescheid. Kurze Dossiers hatte ihm Dr. Knipphase von allen Mitarbeitern der SoKo zusammengestellt. Colli war ihm sofort aufgefallen. So ein Überflieger war selten anzutreffen und schon gar nicht bei den Leuten vom Fiskus.
Die beiden waren auf dem Weg zum Steuerberatungsbüro »Knurrhahn & Partner«, die hier in einem modernen Glaspalast, direkt an der Havel residierten wie moderne Könige.
Gestern hatte Linthdorf in Potsdam den ganzen Tag mit Nachforschungen über die drei Firmen der Herren Müller, Schulze und Meier verbracht. Er hatte ein weitverzweigtes Netzwerk an Firmen entdeckt, die in ganz Europa tätig zu sein schienen. Verbindungen zu Firmen in Liechtenstein, Bremen, Düsseldorf, Wien, Sankt Petersburg, Luxemburg, Mailand, Stockholm und Malta konnte er nachweisen und zahlreiche Bankverbindungen hatte er ebenfalls ermittelt.
Ominös blieben die Tätigkeitsfelder dieser Firmen. Meist stand da etwas über Grundstücksmakelei, Projektentwickung im suburbanen Raum, Vermittlung, Beratung, Consulting – alles nicht direkt nachvollziehbar in seiner wirtschaftlichen Entwicklung. Die Summen, die hier im Spiel waren, erschienen Linthdorf exorbitant hoch. Konnten so ein paar Leute mit solchen Vermögen spielen?
Linthdorf hatte sich gestern mit dem Computerspezialisten unterhalten über die Aktivitäten von Müller-Schulze-Meier. Der Mann hatte ihn lächelnd angesehen und eine etwas eigenartige Bemerkung gemacht, was die Häufigkeit der drei Namen anging. Linthdorf war sich in diesem Moment sicher, dass da etwas nicht stimmen konnte. Zu offensichtlich waren diese drei Namen gewählt worden. Der Computermensch hatte zig Millionen Trefferanzeigen bei der Eingabe bekommen.
Natürlich, man konnte diese Anzeigen eingrenzen. Immerhin hatte er ja auch die Adressen und andere wichtige Eckdaten. Trotzdem verblieb noch eine Unmenge an Daten, die gesichtet und hinsichtlich ihrer Aussagekraft geprüft und als relevant zugeordnet werden mussten. Doch dafür war ja dieser Experte da. Linthdorf gab ihm noch ein paar Informationen, die er am Montag bereits in Oranienburg herausgefunden hatte. Am Nachmittag traf er sich noch mit den Teamleitern um einen ersten Überblick zu bekommen, was die anderen bereits angeschoben hatten.
Außerdem freute er sich darauf, Louise Elverdink wieder zu sehen. Was die anderen berichteten, war alles in allem nicht erwähnenswert. Bisher hatten sie damit zu tun, Kompetenzbereiche abzustecken und so etwas wie Systematik in die Arbeit hineinzubringen. Bei einer Tasse Kaffee kam er endlich dazu, ein paar persönliche Worte mit der Brandenburger Ermittlerin zu wechseln.
Sie berichtete ihm über einen Besuch bei Stahlmanns Witwe und über die Renovierung des »Alten Fährhauses“ in Plaue.Sie war im Sommer mit ihrem Sohn an der Küste gewesen, zwar nur vierzehn Tage, aber es war lang genug, um die Ereignisse des letzten Winters endlich ad acta legen zu können. Dreimal hatte sie auch Griseldis Blofink besucht. Die war nach der wilden Verfolgungsjagd am
Finowkanal traumatisiert und musste sich in ärztliche Betreuung begeben. Inzwischen sei sie aber wieder recht gut beieinander. Dank der Vermittlung von Dr. Haberer war sie aufs Land gezogen und arbeitete jetzt als Buchhalterin bei einem landeseigenen Kulturprojekt.
Linthdorf nickte und atmete tief durch. Immerhin hatte er ja einen großen Anteil an dieser ganzen dramatischen Entwicklung gehabt und war bis vor kurzem noch damit beschäftigt, die ganze Angelegenheit selber zu verarbeiten.
Dann nahm er all seinen Mut zusammen und fragte die ihn etwas ratlos anschauende Frau, ob sie es sich vorstellen könne, einmal abends mit ihm hier in Potsdam essen zu gehen. Er kenne ja schließlich die Stadt ziemlich gut und überhaupt, er würde sich freuen, sie auch mal außerdienstlich zu sprechen.
Louise war einen Moment lang irritiert. Hatte der Riese sie da allen Ernstes soeben eingeladen?
So etwas war ihr schon lange nicht mehr passiert. Sie hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle, nur ein flüchtiges Lächeln deutete an, dass sie sich darüber freute.
Nach endlosen Sekunden, die für Linthdorf verstrichen wie Stunden, antwortete sie kurz und bündig: »Ja, warum nicht? Aber bitte kein Thai-Restaurant. Das ist mir zu scharf.«
Linthdorf schluckte. »Nein, nein, keine Sorge. Ich dachte da eher an etwas Unspektakuläres. Lassen Sie sich überraschen. Nach Dienstschluss hole ich Sie hier ab.«
Louise nahm ihre Brille ab und schaute den großen Mann ihr gegenüber an, als ob sie ihn soeben das erste Mal sah.
Linthdorf reagierte leicht verunsichert. »Sie sind hier in Potsdam untergebracht? Oder fahren Sie abends noch nach Brandenburg?«
Louise schüttelte den Kopf. »Diese Woche bin ich hier. Ab nächsten Montag dann in meiner Dienststelle in Brandenburg. Von da kann ich die Ermittlungen im Havelland besser koordinieren und auf unser eigenes Netzwerk zurückgreifen. Die anderen Teams wollen es übrigens ähnlich machen. Und immer freitags kommen wir hierher nach Potsdam zum Rapport.«






