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Hainkel verspeiste mit gutem Appetit ein paar Knacker mit Kartoffelsalat. Der Kripobeamte neben ihm hatte sich ein paar Wiener Würstchen kommen lassen.
»Nun sagen sie mir doch mal, was haben Sie denn an einem normalen Wochentag am Hermannsberg zu suchen?«
Hainkel erklärte ihm umständlich, dass er trainiere und der Hermannsberg eine ideale Laufstrecke sei.
Der Beamte schien ihm das zu glauben.
»Und wie sind Sie auf die Leiche gestoßen? Die liegt ja abseits der Laufstrecke in einem nur schwer zugänglichen Bereich.«
Jetzt musste Hainkel sein gefundenes Medaillon hervorholen.
Der Beamte grunzte leise vor sich hin.
Er hörte sich Hainkels Bericht vom Fund des Medaillons an und dessen Intention, unterhalb des Felsens zu schauen, ob da noch mehr sei. Ob er die Personen kenne?
Nein, noch nie gesehen, ganz sicher. So wie die aussahen, würden sie hier doch auffallen. Städter wahrscheinlich.
Der Beamte nickte, holte zwei Pässe hervor, die bei den Toten sichergestellt worden waren. Es waren rote EU-Pässe, vorn war ein aufwändiges Wappen mit einem stehenden Löwen und einer Königskrone darüber in Gold eingeprägt, darunter stand in Druckbuchstaben Royaume de Belgique – Koninkrijk Belgie.
Es waren Belgier. Ein Monsieur Jean-Luc Blaireau und eine Madame Segolène Renard. Beide wohnhaft in Vilvoorde bei Brüssel. Was die beiden am Berg zu suchen hatten, war im Moment nicht zu ermitteln. Auf alle Fälle waren die beiden schon mehr als achtundvierzig Stunden tot, also vor über zwei Tagen musste sich das tragische Unglück ereignet haben. Man müsse nun erst einmal ermitteln, ob es womöglich Zeugen gab, die am Sonntag am Berg unterwegs gewesen waren.
Das wäre im Moment alles, was zu sagen sei. Hainkel erkundigte sich, ob es eine Nachrichtensperre bezüglich des Vorfalls gebe. Nein, das Ganze sei wohl doch ein tragischer Unfall.
Der Beamte schien mit dieser Erklärung ganz zufrieden zu sein. Unfälle, zumal hier in den Bergen, ereigneten sich immer mal. Da könne man auch nichts daran ändern, schließlich wären die Wanderwege ja vorbildlich ausgeschildert und wer sich in Gefahr begebe, indem er auf ungesicherten Felsen herumklettere, nun, dem könne eben auch schon mal etwas zustoßen.
Hainkel nickte. Ja, das wäre möglich. Tief in seinem Inneren regte sich gegen diese harmlose Sicht auf den Vorfall Widerstand. Da war vor allem das abgerissene Medaillon. Es musste ein Kampf auf dem Felsen stattgefunden haben. Ein Kampf mit tödlichem Ausgang. Er würde selber recherchieren.
Ihm fiel der Riese aus dem Café in Bad Liebenstein ein. Der war doch auch ein Kriminaler. Zwar außer Dienst, aber auf ihn machte er durchaus den Eindruck, dass es sich bei ihm um einen wirklichen Spürhund handeln könnte.
Bas me üwer onser all Staadt Schmakalle moss wess
Mi Schmakalle es e ganz all Staadt, de schonn ville honnerte Joahr of`n Buckel hatt. Behärbärgt hatt se ville berühmte Lüt, se senn net vergässe woar`n bes hüt. Der Martin Luther, der de Bibel üwersatzt hat, gehört dazo, awer au si Freund, der Philipp Melanchton war e bekaanter Moa. Ör Önnerkunft hatten se gefonne in dän Lutherhuus of`n Lutherplatz un in der jetzig Roseapothäke in der Steigass … Ofn Schlooß honn ville Forschte, Grafe un Prinze gelaat, es hat awe villen gefalle in onsere hüsche Staadt. ...
Hans Schwarz (Mundartdichter): Schmalkalder Geschichtsblätter 3/1996
III
Schmalkalden
Mittwochnachmittag, 9. Mai 2007

Linthdorf war erstaunt. Der Indianerkrieger hatte sich bei ihm gemeldet. Ob er ein bisschen Zeit für ihn erübrigen könnte, es wäre da etwas zu besprechen.
Der Mittwochnachmittag wäre ideal, da wäre Gewerkschaftsversammlung des Kurpersonals. Ja prima, Hainkel käme vorbei und würde ihn abholen kommen. Nach Schmalkalden, da wäre auch seine Redaktion.
Am Mittwoch pünktlich um dreizehn Uhr stand Hainkels kleiner Hyundai vor dem Eingang zum Sanatorium. Linthdorf wartete bereits. Mühsam zwängte er sich in das kleine Automobil, Hainkel musste grinsen.
Schmalkalden lag nur ein paar Kilometer östlich von Bad Liebenstein. Die Fahrt ging durch eine zauberhafte Landschaft mit blühenden Rapsfeldern und einem Flusstal. Das sei die Werra, einer von Thüringens größten Flüssen.
Linthdorf sah interessiert auf das kleine Rinnsal. Erzählte dann Hainkel von der Havel, der Spree, der Oder und der Elbe. Was das doch für gewaltige Flüsse seien.
Die Straßen in Thüringen waren auf alle Fälle besser in Schuss als die Brandenburger Straßen. Auf der dreispurig ausgebauten Fernverkehrsstraße flitzte der Hyundai Hainkels dahin wie von Geisterhand getragen. Nach knapp einer Viertelstunde war das Ortseingangsschild von Schmalkalden zu sehen, gleich dahinter ein großes Werbeplakat aufgestellt.
Das elfhundertjährige Schmalkalden grüßt seine Gäste!
Darunter noch ein Schild: Deutsche Fachwerkstraße.
Und noch ein Schild: Hochschulstadt Schmalkalden.
Linthdorf war beeindruckt.
Vor 1100 Jahren gab es in Brandenburg nur ein paar herumziehende slawische Fischer und Bauern. An Städte war zu jener Zeit überhaupt nicht zu denken. Die ältesten Siedlungen auf Brandenburger Gebiet waren maximal 850 Jahre alt. Thüringen war ein altes Land und sichtlich stolz darauf.
Schon konnte Linthdorf die ersten Fachwerkhäuser sehen. Es war wirklich so, wie in den bunten Prospekten abgebildet. Prächtige Fassaden, reich geschmückt mit Schnitzereien und Sinnsprüchen, enge Gassen, dazwischen überall Blumenkästen und Bänke zum Verweilen. Hainkel machte zuerst eine kleine Rundfahrt durch die Altstadt, zeigte Linthdorf den »Hessischen Hof«, in dessen Keller Wandmalereien aus der Ritterzeit gefunden worden waren, ebenfalls das »Lutherhaus« mit dem Schwan als Zierde. Eine gewaltige gotische Kirche thronte im Zentrum der Stadt. Viel zu groß für die gerade mal 17000 Einwohner. Das sei die Georgenkirche, in der habe schon Luther gepredigt und auch Melanchthon.
Dann fuhr Hainkel mit ihm auf einer kleinen einspurigen Straße bergauf. Vor ihm lag die Wilhelmsburg, das Residenzschloss der hessischen Landgrafen. Frisch geputzt in Weiß mit rotbraun abgesetzten Fenstern präsentierte sich die majestätische Vierflügelanlage. Ein kleiner Turm bekrönte den Prachtbau. Linthdorf war beeindruckt. Hainkel bemerkte kurz, dass auch die Wilhelmsburg zu den von Einbrechern heimgesuchten Residenzen gehöre. Der Schaden wäre allerdings überschaubar.
Allerdings wären die abhanden gekommenen Objekte gerade für die Stadt sehr kostbar gewesen. Teile des Ratssilbers, ausgesprochen kunstvoll ausgeführte Arbeiten der berühmten Augsburger Silberschmiede, zwei kleinere Gemälde mit Portraits hessischer Landgrafen, ein Abendmahlskelch aus Luthers Zeiten und der vielleicht schmerzlichste Verlust, die beiden Bronzeminiaturen aus der Werkstatt des berühmten Conrad Meit, Adam und Eva, beide auf das frühe 16. Jahrhundert datierend.
Er grübelte, wo in Brandenburg eine ähnliche Stadt existieren könnte. In Gedanken sah er die Kleinstädte der Mark, allesamt graue Mäuse im Vergleich zu dieser prächtigen Residenzstadt.
Nein, mit so viel Prachtentfaltung und Geschichte konnte seine Heimat nicht mithalten. Obwohl, Sanssouci … aber das war ja noch einmal etwas ganz Anderes.
Zumal er von Hainkel erfahren hatte, dass Schmalkalden nur eine von vielen Residenzen in dem kleinen Bundesland war. Wer weiß, vielleicht gab es ja noch prächtigere Städtchen?
Langsam rollte der Hyundai auf der Rückseite des Berges wieder hinab in die Altstadt. Hainkel kannte sich aus, kutschierte gekonnt durch die engen Straßen, parkte seinen Wagen auf einem der kleinen Parkplätze und dirigierte Linthdorf zu einem Café in einer dunklen Gasse. Das Café war im Stil der Sechziger Jahre eingerichtet. Vorn waren Bäckerei und Konditorei, zwei Treppenstufen führten hinauf zum ruhigen Teil. Junge, dralle Frauen mit weißen Zierschürzen und eng sitzenden schwarzen Röcken bedienten.
Ein Blick auf die Kuchenauslage genügte Linthdorf. Auch hier waren die Kuchenstücke groß wie halbe Backsteine. Kein Wunder, dass die Thüringer Damen so propper aussahen. Hainkel bestellte zwei Kännchen Kaffee und die Spezialität des Hauses, frischen Rahmkuchen.
Wieder musste sich Linthdorf eingestehen, solch Hochgenuss nur selten erlebt zu haben.
In einer Pause berichtete ihm Hainkel von seinem gestrigen Erlebnis am Hermannsberg, speziell von dem Medaillon, welches er glücklicherweise noch mit seinem Handy abgelichtet habe. Und natürlich von den zwei seltsamen Toten, zwei Belgier, Blaireau und Renard …
Linthdorf musste lächeln.
Etwas irritiert hielt Hainkel inne. Linthdorfs Kenntnisse der französischen Sprache waren nicht perfekt, aber er hatte Französisch in seiner Schulzeit gelernt und war durch seine Urlaubsreisen immer wieder dazu angehalten gewesen, die Sprache aufzufrischen.
»Wissen sie, was Renard und Blaireau heißt?«
»Nein, das sind eben einfach zwei Namen…«
»Nun, ein seltsamer Zufall vielleicht. Aber Renard heißt Fuchs und Blaireau heißt Dachs. Die beiden würden also Fuchs und Dachs heißen. Sehr ungewöhnlich.«
»Meinen Sie, dass die beiden vielleicht …?«
»Es ist auf alle Fälle ein ungewöhnlicher Zufall.«
»Aber die Reisepässe…«
»Nun, die könnten ja auch gefälscht sein. Man sollte das auf alle Fälle prüfen.«
Hainkel war sich nach diesem kurzen Dialog sicher, dass an dem Vorfall etwas faul war.
Ob er denn …?
Linthdorf wehrte energisch ab.
Er könne nicht in die Ermittlungsarbeit seiner Kollegen vor Ort eingreifen, dass ginge gar nicht. Außerdem sei er auf Kur, das Herz …
Hainkel nickte. Ob er ihm wenigstens ein paar Tipps geben könnte. Er würde eigenständig Recherchen anstellen. Schließlich habe er ein persönliches Interesse an dem Fall, er habe die Toten ja entdeckt. Und das Medaillon, vielleicht gehörte das ja zum Diebesgut. Eine Spur, die es zu verfolgen lohne.
Linthdorf nickte. Als erstes müsse Hainkel herausfinden, wo die beiden gewohnt hätten. Sicherlich in einem Hotel oder einer Pension in der näheren Umgebung. Dann wäre es wichtig, herauszubekommen, an welchen Orten sie sich sonst noch aufgehalten hatten und, ganz wichtig, ob die Namen wirklich existieren.
Da müsse er sich mit den Behörden in Belgien in Verbindung setzen.
Ja, und das Medaillon. Da wäre es klug, das Foto den Sachverständigen der Thüringer Schlösserstiftung zu zeigen. Möglicherweise könnten die es ja zuordnen. Ob es sich um eine Thüringer Prinzessin handele, würden die bestimmt herausfinden.
Hainkel zeigte Linthdorf noch seine Fotos vom Fundort unterhalb des Felsens.
Die beiden Toten wirkten seltsam unwirklich inmitten der Kräuter und Farne. Der Anblick von Toten hatte für Linthdorf jedes Mal etwas Unangenehmes. Obwohl er nun schon so viele Jahre beim LKA tätig war, konnte er sich mit dem direkten Blick auf den Tod nicht arrangieren. Etwas in ihm rebellierte. Wenn die Fotos wieder in ihren Mappen waren, konnte er ohne Probleme darüber sprechen, nur der direkte Anblick, der brachte ihn immer wieder ins Grübeln, ob das wirklich der richtige Beruf für ihn sei.
Hainkel bemerkte die Veränderung in Linthdorfs Gesicht. Was er denn darüber denke, zumal wie seltsam die beiden Toten dalagen. Beide auf dem Rücken. Also rückwärts vom Fels gefallen, oder vielleicht doch gestoßen?
Normalerweise würde ein selbst ungeübter Kletterer niemals rückwärts auf einem frei stehenden Felsen herumturnen. Ob sie sich während des Sturzes gedreht haben könnten?
Eher unwahrscheinlich, dafür war der Felsen nicht hoch genug. Nur knapp fünfundzwanzig Meter würde er an dieser Stelle hinaufragen. Zu wenig für einen Dreher während des Sturzes.
Was denn die Frau für Schuhwerk getragen habe?
Sneaker? Ach! Und der Mann? Ebenfalls.
Nicht gerade typische Kletterschuhe. Zumal die dünne Laufsohle sehr glatt und rutschig sei. Völlig ungeeignet für das Felsenklettern.
Linthdorf nickte. Irgendetwas war an dem Vorfall wirklich seltsam. Ein Unfall, wie die Thüringer Kollegen etwas voreilig postuliert hatten, schien das nicht zu sein. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Vielleicht hatte es jemand wie einen Unfall aussehen lassen wollen. Möglich wäre es.
Ob Linthdorf etwas dagegen habe, wenn Hainkel ihn am Wochenende mit nach Rudolstadt nehmen würde. Dort wäre der Sitz der Thüringer Schlösserstiftung. Vielleicht erführen sie ja etwas über das geheimnisvolle Medaillon.
»Rudolstadt? Wo liegt das denn?«
Hainkel winkte ab. Alles keine großen Entfernungen in Thüringen. Rudolstadt liege östlich des Thüringer Waldes, schon im Saaletal am Rande des Schiefergebirges. Wäre wohl auch eine Residenzstadt ähnlich Schmalkalden.
»Ach?«
Hainkel erklärte wieder etwas umständlich die Regionalgeschichte. Dort residierten die Schwarzburger, auch ein uraltes Fürstenhaus.
Schon seit den Ludowingern in Thüringen ansässig. Die Schwarzburger waren in diverse Linien aufgeteilt. Rudolstadt war eines der Schwarzburger Fürstentümer mit Besitzungen quer durch ganz Thüringen. Der Kyffhäuser gehöre wohl dazu und das Schwarzatal und große Teile des Ilmtals. Die Heidecksburg, eines der größten, gut erhaltenen Barockschlösser Thüringens beherberge heute den Sitz der Stiftung.
»Und was ist aus den Fürsten geworden?«
Hainkel zuckte mit den Schultern. »Die haben alle 1918 ihren Hut nehmen müssen. Abgedankt. Wir sind doch damals eine Republik geworden.«
Natürlich, Linthdorf erinnerte sich. Novemberrevolution, Weimarer Republik. Auch die Hohenzollern verschwanden damals.
»Wie lange fahren wir?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder die schnelle, also Autobahn, oder die bequemere und sehenswertere Route, quer durch den Thüringer Wald über Ilmenau, Neuhaus und das Schwarzatal. Es lohnt sich.«
Einem solch abwechslungsreichen Angebot konnte Linthdorf nicht seine Zusage verwehren. Zumal er sowieso Autobahnen nicht mochte.
»Also, dann starten wir Sonnabend früh. Ich telefoniere noch mit den Leuten von der Stiftung. Die kennen mich schon.«
Linthdorf war zufrieden. Ihm graute vor den Wochenenden. Nichts tun war er nicht gewöhnt. Still in seinem Zimmer liegen, naja, drei Stunden hielt er bestimmt durch. Aber gleich zwei volle Tage? Man konnte auch in den kleinen Tierpark, oder ein Café besuchen, aber auf diese tolle Idee kamen auch die übrigen Kurpatienten.
Davor grauste es Linthdorf noch mehr. Sein Gesundheitszustand wurde durch den Anblick der vielen Siechen und Versehrten nicht besser, es bedrückte ihn, Teil dieser stillen Menge zu sein. Er kam sich stets fehl am Platz vor. Dann lieber mit dem Indianer durch den Thüringer Wald tuckern, auch wenn es etwas beschwerlich war, in dem kleinen Hyundai zu sitzen.
Außerdem begann sich Linthdorf langsam für die Angelegenheit zu interessieren. Monsieur Dachs und Madame Fuchs stürzen vom Felsen eines einsamen Berges, hinterlassen ein geheimnisvolles Medaillon, dazu die Einbruchsserie in den Thüringer Schlössern. Linthdorf spürte, dass mit einfachen Erklärungen nichts zu bewegen war. Der Journalist hatte da schon recht. Er würde zwar ohne sein gewohntes Netzwerk auskommen müssen und auch seine Mobilität war eingeschränkt, aber mit Routine und einer sensiblen Spürnase würde er es sich schon zutrauen, etwas Licht in das Dunkel zu bringen.
Linthdorf sah auf seine Uhr. Es war kurz nach Drei. Hainkel schlug ihm noch vor, das Schloss zu besichtigen, zumal er selbst Mitglied des Fördervereins »Freunde der Wilhelmsburg« sei und damit jederzeit Zutritt habe. Ein guter Bekannter würde außerdem als Schlossführer arbeiten und ihnen etwas zu den gestohlenen Objekten erzählen können. Er habe zwar schon ein paar Mal mit seinem Bekannten über das Thema gesprochen, aber jetzt habe er ja einen Profi im Schlepptau. Dabei zeigte er wieder seine blitzend weißen Zähne und grinste.
Ich heiß‘ ein Ritter und hab im Sinn,
dass ich aufzusuchen reite
einen Mann, der mit mir streite,
der gewappnet sei, wie ich,
das preisset ihn, erschlägt er mich.
Wenn ich’s ihm aber angetan,
so hält man mich für einen Mann
und steig‘ ich dadurch an Wert.
Drum, wenn du irgendwas gehört,
von solchem Wagnis hier im Walde,
dass melde du mir also balde,
und führe mich zur Stelle hin,
denn nichts Anderes hab‘ ich im Sinn.
Hartmann von Aue: Iwein mit dem Löwen (Mittelalterliches Epos)
IV
Schloss Wilhelmsburg in Schmalkalden
Mittwochnachmittag, 9. Mai 2007

Der Aufstieg aus der Altstadt war kurz und unkompliziert. Linthdorf hatte noch ein paar Schwierigkeiten, sich inmitten der Fachwerkpracht zurechtzufinden, aber Hainkel geleitete ihn sicher über den Lutherplatz den Schlossberg hinauf.
Die Schlossanlage war größer als gedacht. Auf der rechten Seite erblickte Linthdorf einen kunstvoll mit Buchsbaumhecken ornamentierten Renaissancegarten. Hainkel nannte ihn den Rosengarten. Von den Rosen war jetzt im Mai noch nicht so viel zu sehen.
Vorbei an einer kleinen, schlichten Plastik, die an einen Minnesänger erinnerte, der wohl vor vielen Jahrhunderten auf der Vorgängerburg Wallraf zu Gast war, Linthdorf erinnerte sich, dass Hainkel ihm etwas von uralten Wandmalereien erzählt hatte, die aus dieser Zeit stammten.
Es sollten Illustrationen zum »Iwein« sein, einem Epos des berühmten Minnesängers Hartmann von Aue, der auch beim Sängerkrieg auf der Wartburg dabei gewesen sein sollte. Erst vor kurzem seien die Kopien der Kellermalereien, deren Original im »Hessischen Hof« unten in der Stadt gefunden wurde, an die Öffentlichkeit übergeben worden.
Im Schlosshof, den man durch ein barock ausgeschmücktes Tor erreichte, war es still. Bänke standen herum, ein kleiner Brunnen plätscherte. Hainkel bat Linthdorf kurz zu warten und verschwand in einer der zahlreichen Türen.
Erschöpft ließ sich Linthdorf auf einer Bank nieder. Ein paar Sonnenstrahlen verirrten sich durch den wolkenverhangenen Himmel und wärmten erstaunlich intensiv. Linthdorf legte sein Sakko ab, saß hemdsärmelig da und grübelte.
Immer, wenn er allein war, kamen die Gedanken zurück, die ihm das Leben schwermachten. Zuallererst erschien das Bild einer großen Frau mit straff zurückgekämmten dunkelblonden Haar und dem ihm so vertrauten, feinen, leicht ironischen Lächeln. Ihre Stimme klang in ihm nach.
Louise – seine Louise! Sie war tot.
Bis jetzt konnte er sich mit der Tatsache nicht abfinden. In seinen Träumen sprach er mit ihr, als ob sie noch präsent sei und nicht dieses leblose Wesen zwischen den Drähten und Schläuchen in dem einsamen Krankenzimmer. Mit ihr wäre es sicherlich nicht zu dem Infarkt gekommen.
Er hatte sich da einfach zu viel zugemutet. Aber irgendwie musste er ja weiterleben. Auch wenn es schwerfiel. Es gab ja noch …, ja, was? Natürlich, seine beiden Jungs, die kleine Katze, die Kollegen, Bernie Voßwinkel, Freddi … Halt! Den gab es auch nicht mehr, der hatte sich in der Neujahrsnacht vom Balkon gestürzt.
Ja, und neuerdings geisterten noch ein paar andere Personen durch seinen Kopf. Verwirrend, die Kopie von Louise, nämlich ihre Schwester, Charlotte Rauchfuss und dieses quirlige Wesen aus dem Lindstedter Archiv, Frau Seidelbast, die ihn letztendlich gerettet und den Medizinischen Notdienst alarmiert hatte.
Ach! Es war schon kompliziert. Weit weg von seiner vertrauten Umgebung begann sich langsam in seinem Kopf alles neu zu ordnen. Die vielen Leichen des vergangenen Jahres, die ihn in seinen schlaflosen Nächten heimsuchten, blieben endlich weg. Keine ertrunkenen Nixen, keine massakrierten Vögel, keine toten Arkadier. Auch die »Weiße Frau«, ein Spuk, der sich später als bösartiger Klamauk herausstellte, verschwand wieder im dunklen Nebel der Vergangenheit.
Linthdorfs fotografisches Gedächtnis konnte lange Zeit die Bilder nicht verdrängen. Sie waren da, ob er wollte, oder nicht, sie begleiteten ihn ständig und sorgten für permanente innere Unruhe. Zuviel für sein Herz, das den Tod zweier ihm sehr nahestehender Menschen zu verkraften hatte. Es streikte.
In den Wochen im Krankenhaus grübelte er oft darüber nach, was der Auslöser für den Infarkt war. Ein eindeutiges Ereignis konnte er nicht verantwortlich machen. Es war die permanente Abfolge extremer Vorgänge. Dazu der latente Unmut, hervorgerufen durch den unsensiblen Führungsstil seines Chefs, Dr. Nägelein. Die Summe aller Ereignisse fokussierte dann in dem Infarkt.
Voßwinkel war betroffen, als er ihn am Krankenbett besuchte. Fast vorwurfsvoll blickte der ihn an. Auch seine Kollegen, Grell-Hansen und Petra Ladinski, waren total geschockt. Fast täglich kamen seine Jungs vorbei, brachten Zeitungen und Obst vorbei. Er brauchte lange, um sich von den Folgen des Infarkts zu regenerieren. Die Kur war wahrscheinlich das beste Mittel. Ortswechsel, Luftwechsel, ein geregelter Tagesablauf – er spürte, dass ihm die Kur bekam.
Und dann gab es ja auch noch die rätselhaften Vorfälle hier im Thüringischen. Sein Spürsinn war geweckt, er fühlte sich wieder wie ein Ermittler, ein Gefühl, was er schon lange vermisste.
Hainkel war zurück, neben ihm stand ein unscheinbarer Mann mit Nickelbrille und einer Haarfrisur, die irgendwie in die Siebziger des vergangenen Jahrhunderts passte. Dabei konnte der Mann gar nicht so alt sein. Linthdorf schätzte ihn auf Anfang dreißig. Aber heutzutage galt das ja als retrochic.
Der langhaarige Brillenträger stellte sich ihm als Dr. Olaf Beutelspieß vor. Auch Beutelspieß sprach mit dem ausgeprägt rollenden R, was die Wichtigkeit seiner Äußerungen noch einmal deutlich unterstrich.
Er bat Linthdorf ins Schloss, führte ihn und Hainkel zielstrebig durch prächtige Säle zu ein paar kleineren Räumen, in denen mehrere Vitrinen standen. Mit kummervollem Blick blieb er vor einer leeren Vitrine stehen. Da standen früher Meits Adam und Eva. Zwei Meisterarbeiten.
Aus seiner Kladde holte er zwei Fotos hervor. Sie waren wirklich wunderschön, eigentlich ihrer Zeit weit entrückt. Bedachte man, dass Conrad Meit das Paar bereits 1516 anfertigte, also in einer Zeit, die von den Bauernkriegen, Hexenverfolgungen und der Inquisition geprägt war, konnte man ihre souveräne Haltung und spielerisch anmutende Körpersprache eigentlich nicht für diese wilde Epoche der deutschen Geschichte nachvollziehen. Sie waren ein humanistisches Vermächtnis dieser uns bis heute fremd gebliebenen Welt des untergehenden Mittelalters.
Dr. Beutelspieß beendete sein flammendes Referat.
Linthdorf fragte nach, wie hoch der Schaden zu veranschlagen sei und ob es Versicherungsschutz gebe.
Beutelspieß sah angewidert zu dem Riesen auf. Als ob der Verlust mit Geld zu beziffern sei! Nein, es gäbe eben auch Dinge in der Welt, die man nicht quantifizieren könne. Wahre und große Kunst, die es geschafft habe, durch die Wirren der Zeitläufe zu kommen, einfach so von einem schnöden Dieb …
Er musste schlucken, hatte den Faden verloren. Linthdorf beschwichtigte. Natürlich, der Verlust, wirklich unersetzlich, er verstehe ja, aber er sei hier, um die Figuren wieder zurückzuholen.
Beutelspieß beruhigte sich, sah durch seine Brillengläser etwas friedlicher auf den fremden Mann aus dem fernen Berlin.
Hainkel fragte noch nach den beiden Miniaturportraits und dem Ratssilber. Beutelspieß winkte ab. Peanuts, nicht wirklich nur halb so wertvoll wie Meits Figuren. Ja, natürlich, die Portraits, zwei Cranachschüler, nicht schlecht gemalt, und das Ratssilber, aus den berühmten Augsburger Silberschmieden. Aber davon gebe es noch viele andere Artefakte.






