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Die ganzen Thüringer Schlösser und Burgen wären voll damit. Und der Taufkelch aus getriebenem Silber, Luther soll ihn schon benutzt haben …
Aber es musste doch ein ungefährer Wert angegeben worden sein?
Beutelspieß zuckte mit den Schultern. Dafür fühle er sich nicht zuständig. Wenn man einen ungefähren Marktwert für solche eigentlich unverkäuflichen Artefakte angeben wolle, müsste man auf illegale, also Schwarzmarktpreise zurückgreifen. Kein seriöser Antiquar würde Diebesgut aufkaufen. Die Zeiten wären glücklicherweise vorbei.
Aber natürlich es gäbe da schon noch neureiche Sammler, verrückte Typen, die wirklich ein Vermögen für so etwas ausgaben. Man schätze, das in deren Privatsammlungen unglaubliche und einmalige Objekte gehortet seien. Nur wenn ein solcher Irrer einmal starb, gelangten die Artefakte, meist über Auktionen, ins Licht der Öffentlichkeit.
Linthdorf hakte nach. Wieviel?
Beutelspieß flüsterte, kaum verständlich für die beiden Männer, eine halbe Million, möglicherweise sogar noch mehr.
Linthdorf pfiff. Hainkel nickte nur kurz.
Ob es bei der polizeilichen Untersuchung Anhaltspunkte gegeben habe, wie die Täter hereingekommen waren?
Beutelspieß nickte heftig mit dem Kopf. Wahrscheinlich hatte der Täter sich in der Nacht einschließen lassen und sei am Morgen nach Öffnung ganz ungeniert hinausspaziert.
Würde denn bei Schließung nicht kontrolliert, ob noch Besucher in den Räumen seien?
Doch, doch, aber mit der dünnen Personaldecke würde das manchmal etwas schwierig. Man lief alle Säle und Räume noch einmal ab, aber schaue eben auch nicht hinter jede Ecke oder jeden Vorhang.
Die Alarmanlage?
Ja, natürlich, die wichtigsten Objekte seien geschützt, aber eben doch nicht alle, es sei eine Kostenfrage.
Wer über die speziellen Kenntnisse verfüge?
Eigentlich nur die Mitarbeiter, und das wäre eine absolut verlässliche Klientel. Nein, dafür lege er seine Hand ins Feuer. Erst im Februar sei jemand von der Schlösserstiftung dagewesen und hätte den Stand der Sicherheitsmaßnahmen überprüft.
Linthdorf nickte. Langsam ging er mit Hainkel alle Räume und Säle des Schlosses ab, entdeckte unzählige Nischen und Verstecke, bestaunte die Schlosskapelle, den Weißen Saal mit seinen Stuckarbeiten und natürlich den imposanten Riesensaal mit seiner Kassettendecke. Die hessischen Landgrafen verstanden schon gut zu leben. Wenn man noch dazu bedachte, dass Schmalkalden nicht einmal ihre Hauptresidenz war …
Was für eine Fülle, was für eine Pracht!
Kurz bevor sich Beutelspieß von seinen beiden Gästen verabschieden wollte, holte Hainkel sein Handy hervor und zeigte dem Experten das Foto mit dem Medaillon. Ob er vielleicht wüsste, wer die unbekannte Schönheit sei?
Beutelspieß betrachtete intensiv die Fotos, schnaufte und schüttelte den Kopf. Eine kurhessische Prinzessin sei es ganz sicher nicht. Zumal die Initialien M R zu keiner der hiesigen Prinzessinnen passen würden.
Ungewöhnlich!
Zeitlich könne er aber das Medaillon schon einstufen. Stil und Machart würden auf das ausgehende 18. Jahrhundert hinweisen. Vielleicht 1780 oder 1790. Typisch wären solche Miniaturmedaillons am französischen Königshof gewesen, da seien sie groß in Mode und hätten von da aus die übrigen europäischen Länder erobert. Jede bessere Dame war erpicht darauf, solch ein Schmuckstück zu tragen um es als Treuepfand ihren galanten Verehrern zu hinterlassen. Spezialisierte Silberschmiede hatten damals Hochkonjunktur und die Miniaturmalerei kam zu einer ganz ungewöhnlichen Blüte.
Also kein ungewöhnliches Schmuckstück, aber natürlich, ein entsprechend spezialisierter Kunsthistoriker würde die unbekannte Schöne identifizieren können.
V
Sanatorium für Herzleiden in Bad Liebenstein
Mittwochabend, 9. Mai 2007
Hainkel hatte Linthdorf wieder in seinem Sanatorium abgeliefert. Rechtzeitig zum Abendessen war der Riese an seinem Tisch erschienen. Seine beiden Tischnachbarn, ein älterer Herr mit knarrender Stimme, der nur in kurzen Wortgruppen sprach und ein stiller Mensch, der außer für seinen Brotbelag kein wirkliches Interesse an Kommunikation bisher bekundet hatte, saßen bereits.
Jeder von ihnen hatte einen grellbunten Zettel in der Hand, mit dem sie etwas ratlos hin und her wedelten. Linthdorf deutete vorsichtig Interesse an den bunten Zetteln an.
Wo die denn rumlägen?
Ach, vorn an der Tür hätte die jemand verteilt. Keiner vom Personal, nein, nein!
Ober er vielleicht auch mal einen Blick …?
Wortlos schob ihm der Brotbelagexperte seinen Zettel rüber.
Linthdorfs Brauen kräuselten sich. War das ernst gemeint oder eine große Lachnummer?
Auf dem Dolmar solle demnächst ein Ufo landen. Ziemlich konkret in der Nacht vom 26. Mai zum 27. Mai. Das war zu Pfingsten, dem Fest der Niederkunft des Heiligen Geistes. Der Dolmar sei schon lange bekannt dafür, als kosmischer Aktivpunkt zu funktionieren. Die Kelten hätten das bereits vor vielen tausend Jahren gewusst und den Berg zu ihrem Heiligtum erwählt. Heute noch seien Spuren des Keltenrings auf dem Hochplateau zu finden. Außerdem stehe man im Kontakt zu den Außerirdischen, die ihre Ankunft genau für die Zeit angekündigt hätten.
Unterzeichnet war das Ganze mit dem geheimnisvollen Kürzel ATG.
Linthdorf schüttelte den Kopf. Was gab es doch nicht alles für Spinner! Seine beiden Tischnachbarn schienen allerdings vollkommen anderer Meinung zu sein. Der ältere Herr berichtete, dass er schon öfters Veranstaltungen der ATG besucht habe. Sehr seriös alles. Wissenschaftler, Astronomen und Historiker hätten da gesprochen und auch ein Diavortrag war äußerst eindrucksvoll gewesen.
Was den ATG heiße?
Ach so, nun das wäre doch ganz einfach: Astroterrestrische Gesellschaft.
Wo die Gesellschaft ihren Sitz habe?
Nun ja, die Vorträge wären an diversen Orten gewesen, in Meiningen, in Wasungen, in Schwallungen und natürlich auch auf dem Dolmar. Immer waren die Vorträge gut besucht. Also keine Scharlatane oder Hochstapler, nein, nein, alles sehr seriös …
Im Übrigen, falls der Herr Interesse habe, in drei Tagen sei ein Infoabend in Steinbach-Hallenberg geplant. Er könne ja einfach mal mitkommen.
Linthdorf nickte nachdenklich. Ob er Hainkel kontaktieren sollte? Was ging hier vor? Waren wirklich so viel Esotheriker und Ufologen in Thüringen zu Gange? Woher kamen die Leute, die sich hinter dem Kürzel ATG verbargen? Seltsam, seltsam.
Das heimliche Liebespaar
Ich selbst habe die Gräfin, obschon ich fünfzehn Jahre lang, teils ganz, teils in allen Ferien auf dem Dorfe lebte, überhaupt nur zwei Mal und nur einmal einigermaßen deutlich gesehen; dies Letztere geschah aus einiger Entfernung mittelst eines Glases.
Es mag im Jahre 1818 gewesen sein. Die Gräfin stand am offenen Fenster und fütterte mit Backwerk eine Katze, die unter dem Fenster war.
Sie erschien mir wunderschön; sie war brünett; ihre Züge waren ausnehmend fein; eine leise Schwermut schien mir eine ursprünglich lebensfrische Natur zu umhüllen; in dem Augenblick, wo ich sie sah, lehnte sie in schöner Unbefangenheit im Fenster, den feinen Shawl halb zurückgeschlagen, wie ein Kind mit dem Tier unter sich beschäftigt. Ich sehe noch, mit welcher Grazie die schöne Gräfin das Backwerk zerbröckelte und die Fingerspitzen am Taschentuche abwischte.
Dr. Karl Kühner, Sohn des Dorfpfarrers zu Eishausen
Eishausen
Sonntag, 12. Dezember 1826
Die Jahre zogen ins Land. Nichts schien die Harmonie des zurückgezogen lebenden Paares zu stören. Der Graf war mit seinem selbstgewählten Schicksal zufrieden. Seiner Begleiterin ging es ebenso. Man hatte sich arrangiert.
Er, Leonardus, konnte im Rückblick gar nicht feststellen, wann es anfing mit der Liebe. Eigentlich vom ersten Augenblick, als er ihr zum ersten Mal begegnete. Lange war das inzwischen her. Mehr als zwanzig Jahre. Er erinnerte sich dennoch als ob es erst gestern gewesen war.
Es war eine stürmische Herbstnacht, als er zu einem geheimen Treffen in einen der vielen Pariser Salons gerufen wurde. Er war in der Pariser Gesellschaft ein angesehener Mann, hatte sich mehrfach als Anhänger der Bourbonenpartei gezeigt und war durch seine holländische Herkunft prädestiniert, heikle Missionen ins Ausland ohne Probleme durchführen zu können.
Jeder Geheimauftrag der Bourbonenpartei war bisher von ihm zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt worden. Meistens waren es Kurierfahrten zu anderen europäischen Königshäusern, aber auch Missionen mit großen Geldsummen, die an einen sicheren Ort außerhalb Paris verbracht werden sollten.
Zum Treffen im Club Royal, so wurde der Salon inoffiziell genannt, waren viele Unbekannte erschienen. Sie stellten sich als Gesandte der Herzogtümer Kurland und Livland vor, auch ein persönlicher Kurier des russischen Zaren war anwesend.
In einem Chambre Separée warteten zwei junge Damen. Eine war ein eher schüchternes, feingliedriges Wesen, die andere war etwas größer und wirkte recht selbstbewusst. Leonardus hatte die beiden Damen noch nie gesehen.
Ein Vertrauter des Herzogs von Angoulême war ebenfalls anwesend und der persönliche Sekretär von Louis-Antoine de Bourbon.
Leonardus musste schlucken. Soviel Prominenz war selten an einem Ort zu finden. Es schien sich also um eine ausgesprochen wichtige und heikle Mission zu handeln. Er war sich sicher, dass er für eine neue Mission auserwählt worden war. Die meisten Missionen begannen mit einem geheimen Treffen im Club Royal, zu dem nur ein kleiner Kreis Zutritt hatte.
Baron Antoine Vavel de Verzay, ein reicher Chouan, glühender Royalist und einflussreicher Verbindungsmann zum Hause Bourbon, nahm Leonardus zur Seite.
Es ging um die beiden Damen in dem kleinen Nebenzimmer. Eine der beiden Damen sei in anderen Umständen. Das Ergebnis einer ungewollten Liebelei, nun ja, es waren unruhige Zeiten. Pech war nur, dass es sich dabei um Marie-Thérèse Charlotte, eine Prinzessin aus dem alten Königshaus handelte. Weder ihre ungewollte Schwangerschaft noch ihre wahre Identität durften bekannt werden. Häscher zogen bereits im Auftrag des Revolutionskomitees durch die Stadt auf der Suche nach flüchtigen Mitglieder des Königshauses. Einigen war die Flucht geglückt, vor allem dank der Mithilfe ihrer geheimen Gesellschaft.
Jetzt galt es, die junge Dame aus dem Dunstkreis der Aufständischen zu bringen.
Leonardus erkundigte sich nach der anderen jungen Frau, die mit in dem Nebenzimmer wartete. Vavel de Verzay winkte ab. Es wäre besser, nicht nach ihr zu fragen. Eigentlich existiere diese Dame nicht. Verwirrt schaute Leonardus den Baron an. Bisher gab es keinerlei Geheimnisse zwischen ihnen.
Die Mission sei heikel. Man müsse mit sehr unlauteren Mitteln arbeiten, um sie zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Vavel de Verzay hüstelte, schaute in Richtung der Gesandten aus Liv- und Kurland.
»Was haben diese Leute mit der Mission zu tun?«
»Noch nichts, aber sie werden …«
»Was passiert mit der zweiten Frau? Wer ist sie?«
Vavel de Verzay räusperte sich. Das Unternehmen stand und fiel mit dem persönlichen Einsatz van der Valcks.
Er hatte den Holländer persönlich auserwählt. Keiner schien vertrauenswürdiger zu sein und er entschloss sich, reinen Wein einzuschenken. Der Baron nahm Leonardus beiseite, erklärte ihm, dass es sich um eine Doppelgängerin der Prinzessin handele. Die eigentliche Prinzessin solle nach Livland gebracht werden, wo bereits der Herzog von Angoulême wartete. Seine Mission sei es, die falsche Prinzessin quer durch Europa zu begleiten. Dabei solle er aber tunlichst darauf achten, Spuren zu hinterlassen, die auf die wahre Prinzessin hinwiesen. Keiner sollte mitbekommen, dass er mit einer Doppelgängerin unterwegs sei. Das müsse ihr großes Geheimnis bleiben.
»Und welche von den beiden ist nun die Echte?«
Vavel deutete mit einem kurzen Kopfnicken in Richtung der selbstbewusst dreinschauenden Dame.
»Schau sie dir genau an. Sie hat viel Ähnlichkeit mit ihrer Frau Mama, der Habsburgerin Marie-Antoinette. Schau hin, wie sie ihren Kopf hält. Da ist viel royales Blut … Und wenn du sie reden hörst, du glaubst, Marie-Antoinette stünde vor dir.«
Leonardus hatte leider nicht das Vergnügen, die Königin kennengelernt zu haben. Er konnte sich noch daran erinnern, als im Oktober des Revolutionsjahres 1793 die Königin guillotiniert wurde. Er stand am Straßenrand, als der Käfigwagen mit ihr an ihm vorbeirollte. Er konnte eine frühzeitig gealterte Frau mit abgeschnittenen, grauen, verfilzten Haaren erkennen, angetan mit einem einfachen weißen Büßerhemd, in dem sie jämmerlich fror. Der Oktober war kühl und regnerisch. Das Schauspiel der Hinrichtung wollte er nicht miterleben. Er hasste die blutigen Orgien, die damals täglich stattfanden.
Leonardus war froh, dass die etwas schüchterne Dame seine Begleiterin werden sollte. Sie war ihm eindeutig sympathischer als die Prinzessin.
»Wie heißt sie?«, er deutete mit dem Kopf zu der zweiten Dame.
»Spielt keine Rolle, offiziell ist sie Marie-Thérèse Charlotte, Mademoiselle Royale.«
»Weiss sie davon? Wie soll ich sie anreden?«
»Mademoiselle Royale, das wäre am einfachsten.«
Leonardus wurde sich plötzlich bewusst, auf was für eine gefährliche Mission er sich da eingelassen hatte. Er würde der Lockvogel sein, hinter dem die Häscher herliefen. Die wahre Prinzessin würde hingegen sicher und unbehelligt nach Livland reisen.
»Was passiert, wenn ich gefasst werde?«
»Ihr dürft auf keinen Fall eure wahre Identität preisgeben. Ihr bekommt von mir einen französischen Pass ausgestellt, auf den Namen Charles-Louis Vavel de Verzay, offiziell seid Ihr mein Neffe. Post und Briefe unterzeichnet Ihr stets mit dem Namen. Es ist zu eurer Sicherheit. Keiner wagt sich so leicht an einen Vavel de Verzay heran.«
»Und wenn es trotzdem passiert?«
»Dann gnade dir Gott! Die wahre Identität der Dame darf auf keinem Fall aufgedeckt werden.«
Leonardus musste schlucken. Die Mission würde ein Himmelfahrtskommando werden. Könne er sich einen Augenblick Bedenkzeit …?
Vavel nickte. Nach ein paar Augenblicken willigte Leonardus ein. Das größte Abenteuer seines Lebens würde damit beginnen. Er war sich der Tragweite der Mission im Moment noch nicht ganz bewusst, spürte aber, dass es sich um eine Lebensaufgabe handeln würde. Er war jetzt im besten Mannesalter. Sein Dasein verlief bisher in unsteten Bahnen, nur dank seiner Vorsicht hatte er bisher keine Bekanntschaft mit den dunklen Seiten des Lebens gemacht.
Er wurde der jungen Dame vorgestellt als ihr neuer Begleiter und Beschützer. Der Baron führte ihn ihr als seinen Neffen vor.
Die wirkliche Prinzessin war inzwischen schon mit dem Vertrauten des Herzogs von Angoulême zu den beiden Gesandten aus Liv-und Kurland gegangen. Aber diese Dame interessierte Leonardus nicht im Geringsten.
Er hatte nur Augen für die schüchterne Schönheit vor ihm. Leonardus wurde rot, als er ihr das erste Mal in die Augen sah.
Sie waren blau, strahlten ihn mit einer unergründlichen Tiefe an. Ein Hauch von Rot überzog die bisher fast reinweiße Haut der jungen Frau, die vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt war. Sie wirkte zerbrechlich, obwohl sie recht groß gewachsen war.
Er hörte zum ersten Mal ihre Stimme. Sie sprach ein akzentfreies Französisch. Der Klang der Stimme war weich und melodiös. Leonardus Herz schlug schneller, so schnell wie noch nie in seinem Leben.
Seufzend schaute der Graf aus dem Fenster. Das Jahr neigte sich seinem Ende. In ein paar Tagen war Weihnachten. Er wandte sich der Frau in dem Sessel zu, die immer noch eine Schönheit war. Sie war jetzt Mitte Vierzig, doch keine Falte verunstaltete ihr Antlitz. Ihre Haut war noch immer perlweiß, nur ein paar kleine rote Flecken verrieten, dass sie nicht mehr die Jugend bewahren konnte.
Die beiden Menschen in dem großen Zimmer waren sich in einer Art und Weise vertraut, wie es nur selten passierte. Zusammengeschweißt durch die abenteuerliche Flucht, immer mit der Angst lebend, gefangen genommen zu werden, hatte sie das Schicksal in diesen abgeschiedenen Weltenwinkel geführt. Sie nahmen es als eine Fügung Gottes, zumal in Europa gerade die alte Weltordnung unterging.
Der korsische General Napoleon Bonaparte hatte sich zum Kaiser ausrufen lassen und begonnen ein Land nach dem anderen zu erobern.
Sie wussten, dass Napoleons Geheimagenten ihnen auf der Spur waren. Der Graf hatte Vertraute an den verschiedenen Höfen, die ihm davon berichteten. Jedes Mal, wenn er sich in eine neue Stadt begab, hatte er Angst, seinen Häschern direkt in die Arme zu fallen. Er konnte sich zwar nicht genau vorstellen, was die Leute mit ihm vorhatten, aber das Schicksal seiner Begleiterin war ihm wohlbekannt.
Napoleon spürte den Vertretern des alten Regimes nach, um sie für seine Zwecke auszunutzen. Was er mit einer wirklichen Prinzessin anstellen würde, wäre nicht auszudenken.
Aber am schlimmsten wäre es für ihn, von ihr getrennt zu werden. Er war gewöhnt an ihr Gesicht, das ihn jeden Morgen aufs Neue anstrahlte, brauchte den Klang ihrer Stimme und spürte den Duft ihrer zarten Haut. Ohne sie wollte er nicht mehr leben.
Das Jahr 1826 war mit einer bedeutenden Änderung der politischen Rahmenbedingungen einhergegangen. Sein Förderer und freundschaftlich zugetaner Protektor, der Herzog von Hildburghausen, übernahm den vakant gewordenen Thron im ostthüringischen Altenburg. Aus undefinierbaren Gründen, die nur die ernestinischen Herzöge wirklich kannten, sollte das bisher unabhängige Hildburghausen Bestandteil des benachbarten Herzogtums Meiningen werden.
Der Graf musste an sein Vorsprechen am Meininger Hof vor zwanzig Jahren denken. Damals hatten die Meininger ihn abgewiesen. Die Zeiten hatten sich gewandelt, Napoleon schmorte im Exil auf der unwirtlichen Atlantikinsel St. Helena und die Thüringer Fürstentümer hatten allesamt ihre Souveränität zurückbekommen.
Herzog Friedrich hatte sich bei seinem Abschied nach Altenburg noch einmal bei seinem Vetter aus Meiningen für den Verbleib des Grafen und seiner Begleiterin auf Schloss Eishausen nachdrücklich eingesetzt. Der junge Meininger Herzog Bernhard Erich Freund respektierte den Wunsch Friedrichs und beließ alles beim Status Quo.
Der Graf hatte in den letzten Jahren einige seiner engsten Vertrauten verloren. Schmerzlich spürte er noch immer den Verlust seines treuen Dieners Scharr, der vor sechs Jahren hochbetagt gestorben war. Auch sein Vertrauter am Hofe Friedrichs, der Senator Johann Carl Andreä, war vor ein paar Jahren plötzlich und unerwartet verstorben. Seiner Vermittlung hatte der Graf das Eishausener Schloss zu verdanken.
Neue Diener waren anstelle der alten getreten, aber der Graf hatte zu den Schmidts nicht dasselbe Vertrauen wie zum alten Scharr. Sie waren ihm zu redselig und auch etwas einfältig. Aber er brauchte sie nun einmal.
Vor zwei Jahren war sein Vater, Adrianus van der Valck, verstorben. Der Graf erbte eine beträchtliche Summe und konnte sich, was seine finanzielle Situation betraf, beruhigt zurücklehnen. Nein, Geldsorgen hatte er keine. Seiner treuen Begleiterin konnte er ohne Probleme alle Herzenswünsche erfüllen.
Lange Zeit hatte er sich zurückgehalten, bevor er sie fragte, wie sie wirklich hieß. Verwundert hatte sie ihn angeschaut. Warum das denn ein Geheimnis sei?
Er war verunsichert. Sie schien ebenfalls mit der Situation nicht wirklich zurechtzukommen. Ihr Name, sie hatte ihn fast vergessen, weil sie in der Öffentlichkeit stets als Mademoiselle Royale, später dann als Madame Royale aufgetreten war. So war der Plan, so wurde es auch getan.
Der Graf nannte sie anfangs immer Marie Therèse. Aber er merkte bald, dass sie sich mit dem Namen schwertat. Irgendwann in einer Sommernacht flüsterte sie ihm nach einer innigen Umarmung den Namen Cécile ins Ohr. Sie gab sich ihm als Cécile Renault zu erkennen. Er eröffnete ihr kurze Zeit später, dass er ein holländischer Diplomat und kein französischer Baron war. Sein wirklicher Name war Leonardus Cornelius van der Valck.
Endlich waren die letzten Geheimnisse geklärt. Wie eine unsichtbare Mauer standen lange Zeit ihre selbstgewählten Decknamen zwischen ihnen. Beide wussten um die Notwendigkeit der falschen Namen. Aber der Graf wusste schon seit langem, dass die wahre Bourbonenprinzessin bei einer Kindsgeburt im fernen Westpreußen verstorben war. Es brauchte keine weitere Verdunklung mehr.
Sie hatten ihren Frieden mit der Welt gemacht. Jetzt wollten sie nur noch ihr privates Glück genießen. Die Zeit war reif dafür. Der Graf war inzwischen 57 Jahre alt. Vor ein paar Jahren lag er darnieder und wusste nicht, ob er wieder genesen würde. Ihm wurde bewusst, wie kostbar die verbleibende Zeit sein würde. Nichts währt ewig, selbst das Glück hat eine begrenzte Dauer.
Der Hof auf dem Berg
In den schwungvollen expressiven Kompositionen des Künstlers Uwe-Hagen Dornberger lässt sich … eine Zusammenführung von Kunst und Leben beobachten … Obwohl informelle Arbeiten einen selbsreferentiellen Ansatz verfolgen und primär die eigene Präsenz demonstrieren, lassen sich Erzählspuren in den Bildern wahrnehmen, darauf verweisen die Titel, die der Maler seinen Bildserien gibt. Dornberger betont explizit, dass seine Verweise auf reales Geschehen optional zu verstehen sind.
S-H (Kunstkritiker aus Leipzig zur Eröffnung einer Ausstellung des Künstlers Uwe-Hagen Dornberger in Weimar, 2005)
I
Tannenhof unweit des Dörfchens Rohr
Sonnabend, 12. Mai 2007

Die Farben spritzten. Nein, genauer gesagt, sie wurden mit großer Kraft von dem schnaufenden Mann auf der riesigen Leinwand am Boden direkt aus der Tube in großen theatralischen Schwüngen verteilt. Kleckse entstanden, dünne Linien, Punkte.
Sichtlich zufrieden mit seinem Tun hielt der Farbvirtuose inne. Vor ihm entstand eine vielfarbige Komposition, bestehend aus pastos, fast reliefartig anmutenden Kreisen, offenen Bogenschwüngen und unregelmäßigen Flächen. Sattes Orange kämpfte mit giftgrünen Spritzern, schwarze Punkte belagerten gelbe Flächen, blaue Linien durchzogen ein rotwaberndes Feld.
Der Schöpfer der schrillen Farbwelten kratzte sich am Kopf. Wichtig war der Titel, der entschied, ob das Opus ein anerkanntes Kunstwerk wurde oder nur eine Fingerübung in Farbe blieb.
In einem Heftchen hatte der Farbenzauberer bereits eine Vielzahl von schön klingenden Fremdwörtern gesammelt, die er durch geschicktes Vertauschen von Buchstaben oder ganzen Wortteilen zu neuer Geltung verhalf.
Sein Atelier, ein großer Raum, ausgeleuchtet mit mindestens zwanzig Strahlern, war vollgehangen mit seinen Werken. An den Wänden hingen große quadratische Bilder, auf denen amöbenartige Wesen mit riesigen Insekten zu kämpfen schienen. Möglicherweise waren es aber auch nur Striche, Punkte und große Farbflächen. Auf einem alten Ledersofa standen ein paar Leinwände in Keilrahmen herum, die nur sehr spartanisch und monochrom bemalt waren. Ein Duft von Acryl lag in der Luft.
Gleich am Eingang zum Atelier stand eine beeindruckende Tiefdruckpresse mit zwei kompakten Stahlwalzen. In einem Doppelwaschbecken türmten sich Blechdosen mit tausenden Pinseln und Spachteln. Der Mann war produktiv.
Das Atelier gehörte zu einem einsam stehenden Hof. Die Leute vom Dorf nannten das Gehöft seit Urzeiten schon den Tannenhof, wahrscheinlich, weil sich direkt vor und hinter dem Anwesen riesige Nadelbäume emporreckten.
Lange Zeit blieb der Hof unbewirtschaftet, wäre gänzlich zur romantischen Ruine verkommen, ein Zuhause nur für Mäuse und Eulen. Doch gleich nach der Wende kaufte der Maler das Anwesen für wenig Geld der Gemeinde ab.
Die war froh, das Problemgrundstück abseits der eigentlichen Dorflage und schwer zugänglich auf dem sanften Rücken des zur Dorfgemarkung gehörenden Berges gelegen, los zu sein.






