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Vor sich sah er plötzlich ein rotes Licht. Es gehörte zu einem Fahrrad. Darauf eine seltsam vertraute Person. Zach erkannte sie sofort.
Es war Karolin, seine Karolin!
Was hatte die jetzt in der Nacht hier zu suchen? Wohin fuhr sie? Auf alle Fälle nicht nach Hause, denn das wäre die entgegengesetzte Richtung. In Zach stieg die Wut wie eine heiße Hitzewelle hoch. Der gesamte Frust der letzten Tage und Stunden kochte zu einem einzigen kompakten Gefühl zusammen: zu reiner Wut. Zach trat das Gaspedal durch und steuerte auf das rote Licht zu ...
Auf den Straßen von Berlin
Sonntag früh, 1. Januar 2006
Die letzte Nacht hatte Zach als Alptraum erlebt. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Immer wieder sah er die Frau im hohen Bogen über den Lenker stürzen und sah das kaputte Fahrrad im Schneematsch liegen. Und immer wieder schoss ihm durch den Kopf: Du hast sie umgebracht!
Das Geräusch des Auftreffens der Stoßstange auf das Fahrrad, der schrille Schrei der Frau auf dem Rad und das harte Aufschlagen ihres Körpers auf dem Straßenboden – alles war der Ablauf von gerade einmal ein bis zwei Sekunden, die für Zach unendlich langsam waren. In einer Art Zeitschleife liefen diese beiden Sekunden immer wieder in Slow-Motion vor seinem inneren Auge ab. Er sah sich selbst aus dem Auto steigen und zu der reglos am Boden liegenden Gestalt hinlaufen.
Sie lag vor ihm im Schneematsch und bewegte sich nicht mehr. Ihr Gesicht war merkwürdig bleich. Angst erfüllte in diesem Moment Zachs Innerstes und ließ ihn davonlaufen. Er setzte sich ins Auto und fuhr mit laut aufheulendem Motor los. Nur weg!
Erst nach einer halben Stunde hatte er sich wieder soweit im Griff, bis er ein paar klare Gedanken fassen konnte. Der erste Gedanke war zu helfen.
Sie konnte da nicht den Rest der Nacht über liegen bleiben, sie musste in ein Krankenhaus. Und zwar so schnell wie möglich. Zach drehte seinen Kombi und fuhr mit stark überhöhter Geschwindigkeit zurück. Er bog mit einem lauten Quietschen in die stille Straße am Friedhof ein. Die Stelle, wo sie lag, musste gleich kommen ...
Er erstarrte. Dort, wo eigentlich Karolin am Boden liegen musste, war nichts, absolut gar nichts. Nur das Fahrrad lag noch einsam herum. Der Schneematsch war vollkommen zertreten, als ob sie einen Tanz im Schnee gemacht hätte.
Unmöglich!
Er hatte es doch mit eigenen Augen gesehen: Sie lag ohnmächtig am Boden. Und jetzt war sie weg!
Zutiefst verunsichert stand Zach herum. Was sollte er nur machen?
Wenigstens das Fahrrad konnte er mitnehmen. Vielleicht war Karolin ja auch zu Hause oder im Krankenhaus? Er musste es herausfinden. Schnell legte er das Fahrrad zusammen und packte es in den geräumigen Frachtraum seines Kombis. Dann fuhr er los Richtung Wedding. Durch seinen Kopf jagten wirre Gedanken, die sich allesamt um den Unfall drehten. Irgendetwas stimmte jedoch nicht, und Zach hatte ein ungutes Gefühl.

Am Landwehrkanal
Montag früh, 2. Januar 2006
Irgendwie steuerte das Auto von selbst das Ufer des Landwehrkanals an. Zach war die Gegend vertraut. Hier war er mit seiner Karolin oft spazieren gegangen.
Im Sommer hatte das Ufer etwas Verträumtes. Die Bäume spendeten Schatten, unzählige Insekten schwirrten in der Luft und im Wasser gluckste es ab und an, so als ob ein Wassermann vom Grunde des Kanals ihnen einen Gruß heraufschickte.
Doch jetzt war es hier trist und grau.
Der Mann mit dem grauen Mantel trottete am Ufer entlang und schien gar nicht zu bemerken, was um ihn herum passierte. Er hatte alles verloren, was ihm wichtig gewesen war. Das war ihm inzwischen klargeworden. Karolin war verschwunden.
Er hatte alle Krankenhäuser nach ihr abgefragt. An Schlimmeres wagte er gar nicht zu denken. Es hatte ja sowieso keinen Sinn mehr. Seinem kleinen Sohn hatte er gestern noch einmal versichert, dass er ihn immer liebhabe. Der Junge hatte ihn etwas verstört angeschaut. Ein Blick, der Zach innerlich vollkommen aus der Balance gebracht hatte.
Er war sich nicht mehr sicher, was er machen sollte. Aber wenn er an die Ereignisse dieser Dezembernacht zurückdachte, wurde ihm immer mehr bewusst, dass er nur eine wirkliche Lösung seines Problems noch hatte.
Jetzt lag der Kanal als trübgraues Gewässer vor ihm. Keine Wasserbewegung war festzustellen. Zach stand am Ufer. Alles in seinem Kopf begann sich zu drehen. Bilder aus seinem Leben rollten in erstaunlicher Detailtreue und Genauigkeit noch einmal vor ihm ab.
Er hatte keine Angst mehr. Alles war so gekommen, wie es kommen sollte. Noch einmal schaute er nach oben und sog tief die kalte Winterluft in sich ein. Mit einem Lächeln verabschiedete er sich von der Welt und sprang.
Melusine – Tod in der Oder

... ist ein träger Strom. Abseits des großen Verkehrs zieht sie dahin. Sie entspringt im Mährischen Hochland, windet sich quer durch die Sudeten, nimmt die Wasser vieler kleiner Gebirgsbäche auf, um sich dann mit der Warthe und der Neiße zu vereinen. Ab Ratzdorf ist die Oder die natürliche Grenze zwischen Deutschland und Polen.
Sie passiert zahlreiche Industriestädte: Forst, Guben, Eisenhüttenstadt, Frankfurt, Schwedt, und ergießt sich bei Stettin in einen großen Binnensee: das Haff. Am nördlichen Ufer hat das Haff einen Zugang zur Ostsee. Dort werden die Wassermassen der Oder ins Meer geleitet.
Steht man am Ufer dieses Flusses, dann fallen einem die vielen Untiefen und Sandbänke auf, die tückische Strudel bilden. Der an seiner Oberfläche so ruhig und schläfrig wirkende Strom verbirgt seine immense Kraft geschickt.
Erst wenn man es einmal versucht hat, in der Oder zu schwimmen, weiß man über die
Schrecken ...
Melusine war eine echte Nixe. Im Altfranzösischen wird sie als »Schlangenweib« bezeichnet. Der Sage nach soll Melusine den Herrn von Lusignan verhext haben. Die wasserlastige Dämonin, deren Reizen niemand widerstehen konnte, habe den Herrn von Lusignan, so bezirzt, dass er ihr restlos verfiel und sie heiratete. Als er sie heimlich beim Bade beobachtete, verwandelte sie sich in eine Seeschlange und verschwand im Wasser auf Nimmerwiedersehen. Der Ritter wurde darüber unglücklich, verlor sein Vermögen und starb einsam und verlassen.

Melusine
Oderufer bei Kienitz
Sonntag, 1. Januar 2006
Was da im Eis trieb war nur schwer zu erkennen. Etwas Dunkles schien es zu sein, was da ab und an zwischen den Eisschollen hervorkam. Schwer zu sagen, ob es noch brauchbares Treibgut abgeben würde.
Die Gestalt am Ufer der Oder stand etwas unschlüssig und blickte zweifelnd aufs Eis. Eisnebel ließ die andere Uferlinie nur erahnen. Unheimliche Geräusche kamen vom Fluss.
Jedes Mal, wenn die brechenden Schollen aneinander krachten, erklang ein markerschütterndes Ächzen, als ob der Fluss unter der Last des Eises stöhne. Das dunkle Etwas inmitten der Eiswelt verschwand und tauchte an einer anderen Stelle wieder auf.
Irritiert trabte der kleine Mann neben den Schollen her und versuchte dem Eisstrom zu folgen. Hier auf dem Oderdeich ließ es sich gut laufen. Die Luft war trotz der Frosttemperaturen angenehm zu atmen. Man konnte schon etwas vom Ende des Winters spüren.
Jede Zeit hatte ihren speziellen Geruch in der Luft. Das Nahen des Winters kündigte sich durch einen Hauch von Rauch im Äther an. Sein Verschwinden und der diskrete Duft vermoderter Blätter deuteten die Ankunft des Frühlings an.
Der einsame Läufer starrte auf den dunklen Fleck inmitten des Eischaos. Irgendetwas störte den Beobachter an diesem Ding. Es schien sich zu bewegen ...
Oder täuschte nur das Eisflimmern eine Bewegung vor? Endlich schien der dunkle Fleck näher zu kommen. Die Oder hatte hier bei Kienitz viele Sandbänke, die den Fluss beschleunigten. An der Strömungsseite der einen großen Sandbank, kurz vor dem alten Heizkraftwerk, türmten sich die Eisschollen zu bizarren Eisbergen auf. Eingekeilt zwischen zwei großen Bruchschollen blieb das dunkle Etwas hängen.
Der Deichläufer erklomm vorsichtig das kleine Gebirge aus Eiskanten und Schneeresten. Je näher er sich heranarbeitete, desto mulmiger wurde ihm. Der ganze Eisberg schien recht instabil zu sein. Vor ihm wuchs das Bündel an. Ein größerer Körper schien es zu sein.
Eigentlich wollte er sich schon wieder davonmachen, aber etwas ließ ihn plötzlich erstarren. Winkte da nicht ein Arm aus dem Eis?
Dieser grünlich bläuliche Stecken hatte jedenfalls verblüffende Ähnlichkeit mit einem menschlichen Arm und einer Hand, deren Finger starr in alle Richtungen abstanden. Etwas ungläubig näherte sich der Flussläufer dem Ding. Aus dem mulmigen Gefühl wurde Gewissheit - im Eis vor ihm erblickte er die grünlich grau verfärbte Leiche einer nackten Frau.
Das Eis hatte ganze Arbeit geleistet. Der Körper war stark zerschunden. Überall waren große Schnittwunden zu sehen, die, inzwischen blutleer, weit auseinanderklafften. Auch das Gesicht war stark entstellt.
Da, wo eigentlich die Augen sein sollten, waren leere Höhlen, von der Nase war nicht mehr viel zu erkennen und auch die Ohren waren nur noch als Ansätze zu erahnen. Verfilztes langes Haar bedeckte den Kopf gnädigerweise so, dass die Wunden nur beim genauen Hinsehen zu entdecken waren.
Der ganze Torso hing fast vollständig im Eiswasser zwischen den Eisschollen, die hier an der Sandbank einen kleinen schützenden Freiraum geschaffen hatten. Dem Entdecker des grausigen Fundes wurde spontan übel. Er erbrach sich direkt ins Wasser. Etwas benommen torkelte er zurück ans sichere Ufer.
Er hatte den Damm noch nicht wieder erklommen, als er etwas sah, was ihn zutiefst verstörte. Er sah einen Mann die Deichkrone herabrennen Richtung Sandbank. Auch er schien die merkwürdige Frauengestalt im Eis entdeckt zu haben. Aber nicht das irritierte den kleinen Mann. Das Gesicht des ihm entgegenkommenden Mannes war ihm merkwürdig vertraut und gleichzeitig auch vollkommen fremd.
Ein Spuk am helllichten Tage. Vielleicht hing es ja mit der Frau im Eis zusammen. Vielleicht war sie ja gar kein menschliches Wesen, sondern eine Nixe. Ihm fielen all die wunderlichen Geschichten ein, die seine Mutter abends immer vor dem Einschlafen erzählt hatte.
Später hatte sie zwar stets gesagt, dass es alles Märchen seien, aber offensichtlich schienen sie doch viel mehr Wirklichkeit zu sein, als er zu glauben wagte.
Unschlüssig darüber, was er nun machen sollte, lief er auf und ab. Sprach mit sich selbst, schlug sich mit beiden Fäusten auf die Oberschenkel, um zu spüren, dass das alles kein Traum sei.
Die Eisluft begann schon ihr helles Flirren zu verlieren. Ein Hauch Dämmerung zog heran, tauchte die Uferwelt ins matte Blau der Winternacht. In der Ferne erklang das Läuten einer Kirchenglocke. Viermal schlug es an. Nervös blickte der Uferläufer Richtung Kienitz. Zögernd lief er Richtung Dorf davon.

Eine Meldung in der Märkischen Oderzeitung vom 3. Januar 2006
Am Morgen des 2. Januar wurde in der Nähe des Ortes Kienitz eine weibliche Leiche aus der Oder geborgen. Die Örtliche Freiwillige Feuerwehr hatte bei einer Übung die Tote am Ufer der Oder inmitten von Treibeis entdeckt, wie eine Polizeisprecherin mitteilte.
Hinweise auf ein Fremdverschulden für den Tod konnten zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bestätigt werden, da die Leiche durch das Einwirken des Treibeises stark in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Näheres über die Todesursache wird erst eine Obduktion ergeben, fuhr die Polizeisprecherin fort. Auch Angaben über Herkunft und Alter der Person sind bisher nicht möglich.
Und ein Bericht ...
Übungsausfahrt der Freiwilligen Feuerwehr Kienitz am 2.1.2006
Am Morgen des 2.1.2006 trafen sich die Mitglieder der FFW Kienitz zum traditionellen Jahresauftakt am Spritzenhaus. Pünktlich um 9.30 Uhr erfolgte die Ausfahrt mit den beiden Löschfahrzeugen Richtung Oderufer. Auf dem Übungsplan stand Bergung einer Person aus dem Eis. Hierzu waren speziell Leitern und Stangen mitgeführt worden. Beim Annähern der Fahrzeuge an die Oder konnten keinerlei Auffälligkeiten beobachtet werden. Die Übung verlief reibungslos. Beim Verstauen der Geräte wurde die Mannschaft des Kameraden Kohlgruber vom Löschfahrzeug II auf einen im Uferwasser schwimmenden Gegenstand aufmerksam. Nachdem sich Kamerad Kohlgruber vergewissert hatte, dass der Gegenstand eine Leiche weiblichen Geschlechts war, alarmierte er mich umgehend. Ich ordnete eine sofortige Absperrung des Uferabschnitts an und informierte die zuständigen Behörden der örtlichen Polizei per Telefon. Um 12.25 Uhr trafen die beiden ersten Streifenwagen aus Frankfurt/Oder am Fundort ein. Ich erstattete einen kurzen Bericht und ordnete dann den Rückzug der beiden Löschfahrzeuge ins Objekt an. Um 14.45 Uhr waren die beiden Fahrzeuge wieder im Standort. Die Übung wurde mit einem kurzen Auswertungsgespräch abgeschlossen.
Werner Cholynski
Wehrführer, FFW Kienitz
Nachtrag:
Diverse Reifenspuren sind von uns am Fundort der Leiche sichergestellt worden. Auch Fußspuren, die mindestens zu acht verschiedenen Personen gehören müssen, konnten eindeutig identifiziert werden. Ein Zusammenhang zwischen der Spurensicherung und der gefundenen Leiche kann nicht ausgeschlossen werden.

Im Dorfkrug von Kienitz
Montag, 2. Januar 2006
Am Abend ging es im Dorfkrug hoch her. Stimmengewirr, Zigarettenqualm und Bierdunst erzeugten eine eigenartig dichte Atmosphäre in dem sonst eher stillen Schankraum. Die Leute von der Freiwilligen Feuerwehr gaben den Ton an. Schon etwas benebelt vom Alkohol drängten sich die jungen Burschen nach vorne und gestikulierten wild herum.
»Ick hab ja noch jesacht, det is ne Tote da, was da im Wassa liecht, hab ick, doch ... Un plötzlich waren da alle um mich herumjestanden und hamse ooch jesehn. Janz blau war se un entstellt von dit Eis un janz nackelig lag se da so im Wassa. Muss ma ne schöne Frau jewesen sein. Noch jar nich so alt. Aba det kann man bei so ne Wassaleiche jar nich sachen.«
Ein rotblonder Hüne mit wettergegerbtem Gesicht und einer halbvollen Tulpe Bier in der Hand überschlug sich beim Erzählen im breiten Dialekt der Ostbrandenburger fast vor Eifer.
Ein solch gruseliger Fund gehörte nicht zum Alltag am Fluss. Eigentlich hatte sich hier seit dem letzten Hochwasser nichts Aufregendes mehr ereignet. Die Leute in den Orten am Oderufer führten ein zurückgezogenes, unspektakuläres Leben.
Im Sommer zog es immer mehr Städter aus dem nahen Frankfurt oder sogar aus dem fernen Berlin hierher zum Radwandern oder zum Paddeln auf dem Fluss. In der dunklen Jahreszeit verirrte sich nur selten ein Fremder ins Dorf.
Man war unter sich, genoss die intime Stimmung. Viel war sowieso nicht zu verdienen hier am äußersten Rande Deutschlands. Jobs waren rar, junge Leute zog es hinüber gen Westen.
Zurück blieben die älteren und die Hausbesitzer, die an ihrem Grund und Boden hingen und dafür einiges an Unannehmlichkeiten auf sich nahmen.
Die einzige Kneipe im Ort war der alte Dorfkrug. Ein eher nüchterner Zweckbau aus den Sechziger Jahren, ehemals als HO-Gaststätte erbaut mit Tanzsaal und Kegelbahn, inzwischen erfolgreich privatisiert. Der Inhaber, der ehemalige Leiter der HOG, hatte den Sprung in die neue Welt des Unternehmertums geschafft; er kaufte den etwas heruntergekommenen Rauputzbau für eine symbolische Summe, strich sie weiß an und brachte eine kleine Leuchtreklame über der Eingangstür an: »Zum Alten Oderschiffer« strahlte nun im neongrünen Licht in die Nacht.
Im Sommer stellte er Tische und Stühle raus, dazu ein paar Sonnenschirme mit bunter Werbung für diverse Biersorten. Dann war das Haus gut besucht. Im Winter allerdings lebte man auf bescheidenem Fuße.
Vielleicht dreißig Leute drängten sich in der Schankstube. Doch dem Stimmengewirr nach zu urteilen würde man eine ganze Hundertschaft hier vermuten.
Jeder glaubte, seine Stimme zum Thema erheben zu müssen. Rings um den Tresen ging es am hitzigsten zu. Wortführer war Kohlgruber, der Finder der Leiche.
Er genoss es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. In immer monströseren Farben schilderte er seinen Fund. Die meisten nickten eifrig und pflichteten ihm bei.
»Ja ja, sah janz schlimm aus ...«
Der Wirt schenkte eine Runde Klaren aus: »Geht aufs Haus!«
Soviel Umsatz wie an diesem Abend hatte die Kneipe sonst den ganzen Winter nicht. Zustimmendes Gegröle. Kohlgruber prostete den anderen zu.
Alle waren sichtlich damit beschäftigt, den Doppelten hinunterzustürzen.
Etwas abseits stand ein etwas kleinerer Mann, der sich aus der Zecherei heraushielt. Etwas verlegen verfolgte er die Gespräche, stierte dabei in sein Glas, welches bereits zu zwei Dritteln geleert war. Ein kollegialer Knuff ins Kreuz sollte ihn animieren, auch etwas mehr mitzutun beim Umtrunk. Unwirsch wehrte er die Einladung ab, legte einen Fünfeuroschein auf den Tresen und verschwand.
Kaum einer nahm Notiz vom Weggang des kleinen Mannes. Erst spät nach Mitternacht torkelten die letzten Besucher aus dem Dorfkrug. Die Leuchtreklame war längst schon erloschen, als ein Trupp Unverzagter noch lauthals schwadronierend durchs Dorf zog. Die Lichter in den Häusern waren aus, alles schlief bereits. Nur im Nachbarhaus, gleich neben der Kneipe, brannte ein schwaches Licht, vielleicht eine Fernsehleuchte. Aber darauf achtete niemand mehr.
Kienitz
Donnerstag, 5. Januar 2006
Zwei Tage waren vergangen. Das Dorf schien wieder zu seinem gewohnten Rhythmus zurückgekehrt zu sein. Ein dunkelgrauer Kombi mit Frankfurter Nummer parkte vor dem Gemeindehaus.
Er gehörte der Kripo aus Frankfurt. Die beiden Insassen waren bereits im Gemeindehaus verschwunden. Der Bürgermeister hatte die beiden Kripobeamten in sein Zimmer gebeten. Kaffeeduft lag im Raum. Ein paar Kekse waren auf einem Teller dekorativ aufgeschichtet. Etwas ratlos erwartete der Bürgermeister die Fragen der Beamten.
Nein, er kenne die gefundene Person nicht, auch seien bisher keinerlei Hinweise auf vermisste Personen eingegangen und im Dorf wisse auch keiner etwas über die geheimnisvolle Leiche. Er könne ausschließen, dass die Frau aus dem Ort oder aus den Nachbardörfern im Oderbruch komme.
Vielleicht sei sie ja aus dem benachbarten Polen, schließlich ist die Grenze ja direkt im Fluss. Ob die Polizei denn schon mal die Behörden im benachbarten Küstrin, das jetzt Kostrzyn hieß, befragt habe, die verständen auch ganz gut deutsch?
Die beiden Beamten machten sich missmutig ein paar Notizen. Routinearbeit, diese Befragungen, die meist nichts erbrachte, aber dennoch durchgeführt werden musste. Natürlich waren die Kripoleute schon auf die Idee gekommen, im benachbarten Polen nachzufragen, ob dort eine weibliche Person vermisst wurde.
Allerdings war bisher noch nichts Brauchbares gemeldet worden. Man tat sich schwer mit dem Amtshilfeersuchen. Es gab genügend Arbeit mit Schmuggel und Menschenhandel.
Um eine ominöse Fremde, die nirgends als vermisst gemeldet worden war, konnte man sich daher nicht auch noch kümmern. Zumal sie schon tot war und bisher nichts auf ein gewaltsames Ende hindeutete.
Die Leiche war bereits abtransportiert in die Gerichtsmedizin ins ferne Potsdam. Die Kripo aus Frankfurt verfasste einen abschließenden Bericht über die Umstände des Auffindens und den Stand der Bearbeitung bei der Klärung der Identität. Etwas dünn war der Bericht schon.
Aber mit der Leiche sollten sich die Kollegen vom LKA in Potsdam herumärgern. Die zogen solche Fälle sowieso an sich. Wozu soviel Aufwand mit einer Person, die sowieso keiner in der Gegend kannte!
Die Dienststelle in Frankfurt/Oder hatte genug mit Grenzdelikten zu tun. Für ominöse Todesfälle war da eigentlich keine Zeit, und erst recht hatte keiner der Beamten Lust auf mühselige Detektivarbeit.
Auszug aus einem Artikel in der Wochenendbeilage der »Potsdamer Neuesten Nachrichten« über die Entwicklung der Vermisstenzahlen im Lande Brandenburg:
... konnte auch für das gerade abgelaufene Jahr 2005 wiederum eine Steigerung bei der Aufklärungsrate von Vermisstenfällen festgestellt werden. Über 75 Prozent aller als vermisst gemeldeten Personen konnten im Berichtszeitraum aufgefunden werden. Meist handelte es sich um Kinder und Jugendliche, die ihrem Elternhaus den Rücken kehrten. Ein zunehmender Anteil debiler und seniler Personen ist bei dieser Statistik ebenfalls zu verzeichnen. Die Vermisstenstatistik spiegelt hierbei auch die allgemeine Entwicklung der Bevölkerung wieder.
Die Gründe, warum Personen in unserer Gesellschaft immer wieder ins Abseits geraten und als vermisst gemeldet werden, sind ausgesprochen vielfältig. Oftmals werden Personen als vermisst gemeldet, die bereits seit Monaten keinen Kontakt mehr zu ihrer Umwelt hatten und vollkommen vereinsamt sind. Dieses Problem der gesellschaftlichen Isoliertheit und Vereinsamung wird inzwischen als ein soziales Problem erkannt und rückt immer mehr in den Brennpunkt kommunaler Politik. Mit entsprechenden Angeboten versuchen die Kommunen hier Abhilfe zu schaffen.
Potsdam
Freitag, 6. Januar 2006
Linthdorf legte die Zeitung weg und ging zum Fenster. Es war einer dieser typischen grauen Wintertage. Ein wirkliches Wetter ließ sich nicht definieren. Über dem Häusermeer von Potsdam lag dichter weißgrauer Nebel. Ein ungemütlicher Wind pfiff durch die Straßen und eisiger Sprühregen verbreitete zusätzlich ein Gefühl von Kälte.
Er stand immer noch am Fenster seines Büros im fünften Stock eines Siebzigerjahrebaus, stierte in den grauen Tag und grübelte vor sich hin. Irgendwie lief seine Zeit hier nach einer eigenen Uhr ab.
Die Tage dehnten sich und die kurzen Abende und die noch selteneren freien Wochenenden wurden auf den Augenblick eines Atemzugs reduziert.
Ein Blick auf seinen Schreibtisch schien diesen Eindruck zu bestätigen. Akten stapelten sich zu Papierhaufen beachtlicher Größe. Linthdorf staunte immer wieder, dass diese Stapel nicht umfielen. Wieder war eine blassgrüne Mappe auf seinem Tisch gelandet. Wahrscheinlich wieder eine der zahllosen Vermisstenanzeigen, die in den letzten Jahren immer mehr geworden waren. Die Aufklärungsrate bei solchen Fällen war leider nicht sehr hoch, da die meist jugendlichen Ausreißer sich sehr schnell dem Bereich der Zuständigkeit deutscher Justiz entzogen.
Oftmals meldeten sie sich völlig abgebrannt erst nach Jahren aus Thailand oder Brasilien zurück. Amtshilfeersuchen brachten meist nur viel bürokratischen Aufwand, aber selten Ergebnisse.
Lustlos schnappte er sich die dünne Mappe. Sie trug den Stempel der Kripo aus Frankfurt/Oder. Unterschrift unleserlich. Die hatten den ganzen Fall einfach ans LKA abgegeben. Ein paar Fotos rutschten heraus.
Kein schöner Anblick. Eine Wasserleiche, ziemlich entstellt. Der kurze, sachliche Bericht, der beigefügt war, versetzte Linthdorf auch nicht gerade in Euphorie.
Was sollte er jetzt hier noch ermitteln?
Die Frau konnte von sonst wo kommen: Ukraine, Weißrussland, Rumänien oder noch weiter weg. Der Tag hatte bereits einen ersten Kratzer aufs Gemüt des Mittvierzigers gezeichnet. Ja, natürlich gab es einen Routineablauf für solche Vorgänge.


