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Linthdorf hörte interessiert zu, schaufelte sein Rührei dabei ohne Unterbrechung in den Mund und schlürfte den Kaffee geräuschvoll. Der Gastwirt schaute mit einer gewissen Zufriedenheit auf den Tisch, es schien seinen frühen Gästen zu schmecken.
Irgendetwas störte Linthdorf jedoch beim Frühstücken. Er fühlte sich beobachtet. Im Laufe seines Berufslebens hatte er einen feinen Sinn für solche Aktivitäten entwickelt. Er spürte fast körperlich den Blick eines Fremden auf sich. Linthdorf trat ans Fenster und versuchte im Haus gegenüber den heimlichen Beobachter zu entdecken. Allerdings schien der vom Manöver Linthdorfs überrascht worden zu sein und hatte sich vom Fenster zurückgezogen. Nur eine leichte Bewegung der Gardinen verriet ihn.
»Wer wohnt denn dort drüben?«
Verwirrt schaute der Gastwirt zu Linthdorf.
»Das ist der Hansi, der lebt seit zehn Jahren nun schon allein im Haus. Seine Mutter starb im Sommer 97 während des Hochwassers. Seitdem ist er etwas wunderlich. Bekommt jetzt Hartz IV. Hatte früher Mal als Postbote gearbeitet, aber als die Post auf Autos umstellte, konnte er nicht weitermachen. Er hat keinen Führerschein. Die Post hatte er immer mit dem Rad ausgefahren. Das steht jetzt bei ihm im Schuppen. Ab und zu fährt er damit noch übers Land. Meist läuft er jedoch an der Oder entlang. Wir nennen ihn auch den Deichgrafen. Aber Hansi ist harmlos. Tut keiner Fliege etwas zuleide. Manchmal kommt er rüber und isst ne Bockwurst. Alkohol rührt er nur selten an, und mit Frauen hat er auch nichts am Hut. Jedenfalls haben wir noch keine bei ihm auf dem Hof gesehen. Er ist ein bisschen ein Eigenbrötler.«
Linthdorf nickte nur. »Armer Hund.«
»Was sind wir Ihnen schuldig?« Er zahlte für Moser gleich mit, ließ sich die Rechnung aushändigen und bedankte sich für die Informationen. Moser sah ihn etwas ungläubig an.
»Welche Informationen denn?«
»Mensch, Moser, hier ist doch einiges zu erfahren. Der hat uns doch nicht umsonst beobachtet.«
Zielstrebig ging Linthdorf auf das dem Dorfkrug gegenüberliegende Haus zu, klingelte am Hoftor. Über der Klingel war ein Namensschildchen mit dem Namen Hans-Peter Kraeft angebracht.
Linthdorf wartete nicht, bis Kraeft zum Gartentor kam. Er klinkte die Gartentür ein und begab sich mit Moser Richtung Haustür.
Das Haus machte einen verwahrlosten Eindruck. Im Garten waren die Obstbäume alterschwach und schon lange nicht mehr beschnitten worden. Eine kleine Skulptur stand abseits im Vorgarten. Beim näheren Hinsehen war es eine Nixe mit kunstvoll gewundenem Fischschwanz und zwei prallen Brüsten. Das Gesicht war eher kindlich naiv denn feminin. Wind und Wetter hatten der kleinen Skulptur, die vielleicht mal einen halben Meter groß gewesen war, stark zugesetzt. Linthdorf schaute etwas belustigt auf die Nixe.
Der Zaun war auch windschief. Was sich im Moment noch unter der Schneedecke verbarg, würde im Frühling sicherlich keinen besseren Eindruck bieten. Die Haustür öffnete sich einen Spalt, eine Kette war von innen vorgelegt. Misstrauisch äugte Kraeft aus dem dunklen Spalt. »Was wollen Sie?«
»Tach, Herr Kraeft. Wir sind von der Kriminalpolizei in Potsdam. Wir würden uns gern mit Ihnen unterhalten wegen der Toten in der Oder.«
Kraeft öffnete die Tür und ließ die beiden Polizisten ein. Es roch muffig nach ungelüfteten Räumen. Die dunklen Holzmöbel im Flur waren schon lange nicht mehr entstaubt worden. Kraeft war ein eher unscheinbarer Mensch, nicht sehr groß, knochig, die aschblonden Haare standen abenteuerlich nach allen Seiten ab. Er hatte ein Allerweltsgesicht, wasserhelle Augen, ein paar Sommersprossen, Stoppelbart und als auffälligstes Merkmal ziemlich abstehende, hochrote Ohren.
Sein Alter ließ sich nur schwer einschätzen. Irgendwie sah er schon sehr verlebt aus. Die Augen blickten etwas müde, ein paar tiefe Falten furchten die Stirn, so dass Kraeft den Eindruck ständigen Grübelns machte.
Unglückliche Menschen altern schneller als Zufriedene. Diese Erfahrung hatte Linthdorf im Kontakt mit vielen seiner Gesprächspartner gemacht. Er merkte sofort, dass Kraeft kurzatmig war, kleine Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn, obwohl es ungewöhnlich kühl im Hause war.
Sie saßen sich jetzt gegenüber, Linthdorf und Moser auf einer alten Couch, die bei jeder Bewegung knarrte, Kraeft auf einem schweren Stuhl.
»Bleiben Sie mal ruhig, wir wollen Ihnen ja nichts tun«, beschwichtigte Linthdorf den kleinen Mann auf dem Stuhl. »Wieso haben Sie uns beobachtet?«
Kraeft rutschte unruhig hin und her. »Hab ich ja gar nich. Wollt bloß ma kucken, wer da so früh bei Herbert schon einkehrt. Is ja eijentlich noch zu.«
Linthdorf nickte mit regloser Miene.
»Sie sind doch oft an der Oder unterwegs. Ist Ihnen in den letzten Tagen etwas aufgefallen, bevor die Leiche geborgen wurde?«
Nach kurzem Zögern schüttelte Kraeft den Kopf. »Nöö, was sollte mir denn auffallen?«
»Leute, die nicht hierhergehören, fremde Autos, Ungewöhnliches eben.«
»Na ja, seit die Grenze zu Polen offen ist, gibt’s hier schon mehr Verkehr. Aber die beachte ich nich so. Sind sowieso nur Gauner. Ich mag die alle nich. Aba im Winter is meist Ruhe. Silvester nachmittags waren ein paar Autos unten an die Oder. Die ham schon mit die Raketen rum geballert und gesoffen. Junge Leute, kannte ich alle nich, weiß nich, wo die her warn. Drei Autos warn das. Große Kisten, so ne Landrovers, teure Dinger.«
»War die Oder da schon mit Eis bedeckt gewesen?«
»So richtig kalt wurde es ja erst in der Neujahrsnacht, aber Eisschollen trieben da schon recht viele auf dem Wasser.«
»Waren Sie am Silvesternachmittag an der Oder unterwegs?«
»Ja, war ich. Mach jeden Tach nen Gang entlang des Deichs. Da hab‘ ich ja auch die Autos mit die jungschen Kerls gesehen. Hab aber nen großen Bogen um die gemacht. Will mit so ne Leute nix zu tun ham.«
»Und haben Sie dann auch noch gefeiert, ich meine Silvester?«
»Nee nee, bin kein so’n Partyheld. War abends um Acht noch ma bei Herbert drüben gewesen. Der hat ja große Party am Abend, war’n fast alles Leute aus’m Dorf da. Ich bin nur ma kurz reingeschaut, war mir viel zu laut und auch zu viele Leute da. Bin dann wieder rüber zu mir und hab noch fern gesehn bis Mitternacht. Das war’s.«
»Und am Neujahrstag wurde es kalt?«
»Ja, ging schon früh los mit Schnee. Auf der Oder haben die Eisschollen angefangen sich zusammen zu schieben. Die Oder hat ja ne janz jewaltige Strömung. Je mehr Schollen treiben, desto öfter krachen die zusammen und schieben sich übereinander. Is schon n’ tolles Schauspiel. War ich auch kucken.«
»Aber aufgefallen ist Ihnen da noch nichts?«
»Nöö, war alles wie imma.«
»Haben Sie vielleicht jemanden am Deich gesehen?«
»Nöö, niemanden ...«
»Und ein Auto, was nicht hingehörte, vielleicht die drei Geländewagen vom Vortag?«
»Nöö, auch nicht ...«
Kraeft wurde plötzlich einsilbig. Linthdorf spürte, dass im Moment nicht mehr aus ihm herauszuholen war und hörte auf zu fragen. Er nickte kurz zu Moser. Aufbruch. »Vielen Dank, Herr Kraeft, wir müssen noch weiter.«
Auf dem Weg durchs Dorf schwieg Linthdorf. Moser trabte wortlos neben ihm her. So richtig verstand er nicht, wieso sie diesen armen Hund befragt hatten. Auf Moser machte Kraeft einen unangenehmen Eindruck. Etwas Unaufrichtiges glaubte er in seinem Wesen entdeckt zu haben. Moser brach das Schweigen.
»Kam Ihnen Kraeft nicht auch etwas komisch vor?«
Linthdorf schaute prüfend auf Moser.
»Ja, speziell als die Rede auf den Neujahrstag kam, da wurde er sehr still. Ich glaub, da hat er uns nicht alles erzählt.«
Ein leichter Schneegriesel hatte eingesetzt und puderte den Hut Linthdorfs. Moser zog sich seine Kapuze fest und trabte durch den Schnee Richtung Auto.

Weg hinter Güstebieser Loose
Immer noch Sonnabend, 7. Januar 2006
Die Befragung der beiden Feuerwehrleute hatte nichts Neues ergeben. Schnell waren die beiden Polizisten fertig gewesen. Linthdorf steuerte seinen Daimler Richtung Oderdeich. Die Straße war schmal, entgegenkommen durfte ihnen hier niemand, zumal der Schnee ein Ausweichen ziemlich unmöglich machen würde.
Am Horizont tauchte schon der eckige Kirchturm des Nachbardorfes Güstebieser Loose auf. Rechts neben ihnen war der Deich als Schneewall zu erkennen. Linthdorf steuerte kurz vor Güstebieser Loose eine freie Stelle an, hier wendeten wahrscheinlich die Räumfahrzeuge. Das ungleiche Paar stapfte durch den Schnee zum Deich.
Nur wenige Menschen schienen in der Winterzeit diesen Weg zu nehmen. Spärliche Fußspuren waren im Schnee zu entdecken. Linthdorf versuchte in dieselben Fußspuren zu treten, die bereits ein unbekannter Deichgänger vor ihm gemacht hatte. Für seine langen Beine eine Zumutung, dauernd musste er das Tempo reduzieren, der Unbekannte war ein deutlich kleinerer Mensch gewesen. Moser grinste, für ihn waren die vorgetretenen Spuren ideal.
Auf der Deichkrone konnte man den Fluss gut überblicken, auch das andere Ufer war einsehbar. Die Oder erinnerte Linthdorf an seine Kindheit. In der Ferienzeit war er ins Ferienlager gefahren. Seine Eltern hatten diese Ferienreisen als ausgesprochen nützlich für die soziale Erziehung ihres Sprösslings angesehen und trotz anderweitiger Pläne ihn angemeldet.
Mal ging es an die Küste, mal ins Gebirge, zweimal war er auch in Polen, ganz weit hinten, im äußersten Osten hinter Białystok, wo der Bug fließt. Urtümliche Landschaft empfing ihn dort. Die Oderlandschaft hier erinnerte ihn an diese Zeit. Er versuchte die aufkommenden Bilder zu unterdrücken. Eine unbeschwerte Zeit war es gewesen, mit Angeln gehen, Zeltlager, Schnipseljagd und Wisente Beobachten im Nationalpark.
Die Welt war damals noch ein wohlgeordnetes Ganzes mit festen Parametern. Er hatte sich inzwischen weit entfernt von diesem unbekümmerten Jungen, der er damals war. Nichts war mehr übrig von der ungetrübten Entdeckerfreude und Abenteuerlust des Zwölfjährigen.
Blickte er jetzt auf die Flusslandschaft, so war es ein nüchterner, analysierender Blick, ausgerichtet auf sein funktionales Tun als Ermittler der Kripo.
Dennoch fühlte er ein unbestimmtes Jubilieren tief in seinem Innersten. Es stieg langsam auf, als ob der Blick in die Weite auch sein innerstes Wesen wieder mit dem Leben anfreunden wollte. Die langen Jahre als Ermittler beim LKA in Potsdam hatten tiefe Spuren in Linthdorfs Seele hinterlassen. Er wollte sich das eigentlich nie richtig eingestehen. Nach außen gab er stets den ausgewogenen Kollegen, der mit gleichbleibender Freundlichkeit, ja fast schon einer Art stoischer Gelassenheit die Schicksalsschläge des Alltags ertrug.
Egal ob er Lebensläufe von Leuten durchleuchten musste, die er als Privatperson niemals kennen lernen würde oder zu Tatorten gerufen wurde, wo einem das Herz bis zum Halse schlug aufgrund der vorgefundenen Spuren von grausamer Gewalt und Herzlosigkeit, Linthdorf steckte alles weg, jedenfalls offiziell. Seine Kollegen bewunderten ihn dafür heimlich.
Hier draußen in der scharfen Winterluft des Januartages begann diese stoische Maske langsam zu verschwinden. Moser schaute verwundert auf zu seinem riesigen Partner und beobachtete die Wandlung in den Gesichtszügen. Die meist leicht gefurchte Stirn glättete sich, die Augen, die sonst immer irgendwie fixiert auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne waren, wurden lebhaft und ein feines Lächeln zierte den sonst so höflich distanziert schauenden Kollegen.
Moser fragte ihn, ob er etwas entdeckt habe. Linthdorf schüttelte nur den Kopf.
Sie stapften nun schon zwanzig Minuten auf dem Oderdeich Richtung Kienitz. Der Schornstein des Küstriner Heizkraftwerks war in der Ferne zu erkennen. Die Finger fingen an, starr vor Kälte zu werden. Auch im Gesicht war die eisige Luft spürbar. Linthdorf blickte stets zum Flussufer hinunter. Dort hatten Eisschollen sich zu merkwürdigen Gebilden aufgeschichtet. Ab und zu zog er seine zigarettenschachtelgroße Kamera aus der Manteltasche und fotografierte den Fluss.
Nach weiteren zehn Minuten wurde er plötzlich unruhig. Inmitten der Eisschollen erblickte er etwas, was da eigentlich nicht hingehörte.
Eine ockerfarbene Plastiktüte schien es zu sein. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit trabte Linthdorf durch den Schnee ans Ufer und angelte den prall gefüllten Beutel aus dem Uferwasser zwischen den Eisschollen. Moser staunte nicht schlecht über seinen Chef.
Der Beutel war schwer, etwas Textiles war darin, aber auch ein fester Gegenstand. Wie lange er schon im Wasser lag, konnte man nur schwer schätzen. Wahrscheinlich hatten die Eisschollen den Beutel ans Ufer transportiert.
Mit ihrer Beute trabten die beiden in Richtung Auto. Moser trug den Beutel, der aus mehreren Rissen triefte, etwas missmutig mit leicht ausgestreckter Hand. Sein rechtes Hosenbein fühlte sich schon bedrohlich feucht an. Der Beutel landete im Kofferraum des Daimlers.
Potsdam
Dienstag, 10. Januar 2006
Vor Linthdorf lag der Bericht der Gerichtsmedizin auf dem Schreibtisch. Ein umfangreiches Pamphlet war das, gespickt mit lateinischen Fremdwörtern aus der Medizinersprache und Fotos aus dem Innenbereich des Körpers. Etwas irritiert von der Vielzahl an Informationen begann er zu blättern.
Beim Zahnstatus stutzte er. Für eine so junge Frau waren das recht wenige Zähne, die da noch zu sehen waren. Er erinnerte sich, dass die Kollegen aus Frankfurt ein Foto mitgeschickt hatten, worauf eine makellose Reihe weißer Zähne zu sehen waren. Er blätterte noch einmal den dünnen Bericht des Frankfurter Dezernats durch, ja, natürlich, hier war das Bild.
Als Kommentar war ein Hinweis darauf, dass diese Zähne eine zahntechnische Arbeit waren und nicht mehr zu den natürlichen Zähnen des Opfers gehörten. Er hatte auch noch den Hinweis des Gerichtsmediziners im Ohr, dass nur ein ausgewiesener Spezialist dieses Gebiss hatte anfertigen können.
Fast hätte er bei dieser Beschäftigung mit den Zähnen der Toten das Wichtigste überblättert: die eigentliche Todesursache. Dem Fachlatein entnahm er, dass sie an inneren Blutungen, zugefügt durch eine Vielzahl äußerer Schläge und Tritte, letztendlich verblutet war.
Ein qualvoller und langsamer Tod, wahrscheinlich waren die letzten Stunden dieser Frau eine einzige Höllenqual gewesen. Mehrere Rippenbrüche, Milzriss, Lungenflügelquetschung, Schädelbasisbruch. Das Werk eines Sadisten oder sogar mehrerer ...
Konkrete Spuren, die auf verschiedene Täter hinwiesen, waren nicht nachzuweisen. Die Frau konnte sich nicht mehr wehren, da beide Arme gebrochen waren und wie leblos an ihr herabhingen. Die Schmerzen allein der Splitterbrüche mussten unerträglich gewesen sein. Viele der Schnitte in der Haut allerdings wurden erst nach dem Tode zugefügt. Die Schnittkanten deuteten auf scharfkantiges Eis hin. Wahrscheinlich während der Zeit im Fluss.
Ebenfalls die Entstellungen im Gesicht. Typische Fraßbilder von wilden Vögeln. Krähen vielleicht, die mit ihren spitzen Schnäbeln die Augen ausgepickt hatten und auch die vorstehende Nase und Teile der Lippen auf dem Gewissen hatten. Aber auch Fische in der Oder konnten daran beteiligt gewesen sein. So genau ließ es sich anhand der vorgefundenen Wunden nicht mehr feststellen.
Die Leiche hatte viel Blut verloren, Flusswasser war dafür überall im Körper und in allen Gefäßen nachgewiesen worden. Dennoch war eine DNA-Bestimmung anhand von Blutresten möglich. Blutgruppe A, Rhesus positiv. Nun ja, das hatten knapp sechzig Prozent der Menschheit. Eine ungefähre Altersbestimmung war auch beigefügt. Sie musste zwischen 33 und 38 Jahre alt gewesen sein. Linthdorf klappte den Ordner zu.
Die Lektüre solcher Berichte löste unweigerlich bei ihm Mitleid mit der geschundenen Kreatur aus. Hier wurde immer gut sichtbar, was ein Gewaltverbrechen bedeutete. Die Verletzungen der Opfer wurden zwar immer recht emotionslos in ein Kauderwelsch aus lateinischen Fachbegriffen und mechanistischen Beschreibungen, wie sie zugefügt worden waren, verpackt. Aber wer nur ein bisschen Phantasie hatte, konnte sich anhand der Angaben ein gutes Bild vom Tathergang machen.
Es war für Linthdorf immer noch ein unvorstellbares Phänomen, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun konnten. Eine tief sitzende Wut packte ihn dann, die ihn wie einen Bluthund auf die Fährte brachte, um die Untat aufzuklären.
Die Leidenschaft für Gerechtigkeit ließ ihn auch den etwas zermürbenden Alltag im LKA mit all den bürokratischen Abläufen ertragen. Im Übrigen wüsste er auch nicht, was er sonst machen sollte.
Sein Interesse an anderen Berufen war nach allem, was er so mitbekommen hatte in seinen Dienstjahren, nicht sehr ausgeprägt.
Vielleicht könnte er sich ein Leben auf dem Lande vorstellen. Allerdings so ganz allein auf einem alten Bauernhof war auch nicht seine Welt.
Eine Frau gab es nun schon seit fünf Jahren nicht mehr in seinem Leben. Nach dem kläglichen Scheitern seiner zweiten Ehe hatte er die Lust auf eine neue Beziehung verloren. Aber das war schon wieder ein wunder Punkt auf seiner Seele, an den er im Moment lieber nicht denken mochte.
Linthdorf beauftragte Moser mit der Suche nach Zahntechnikern im Großraum Berlin und auch in Brandenburg, welche dieses Gebiss gefertigt haben könnten. Der Zahnstatus der Frau war ziemlich ungewöhnlich – wenn es eine Möglichkeit zur Identifizierung gab, dann über diese kunstvolle Arbeit eines Zahntechnikers. Vielleicht hatten sie ja Glück.
Der Plastikbeutel aus der Oder war inzwischen bei der KTU. Die Klamotten schienen der Frau aus dem Fluss gehört zu haben. Jedenfalls passten sie hinsichtlich der Konfektionsgröße. Sie waren schon ziemlich abgetragen, keinerlei Hinweis auf Hersteller oder Markenzeichen, eher Secondhandware.
Der feste Gegenstand war eine ziemlich verschlissene Handtasche, die allerdings leer war. Jemand musste sie sorgsam ausgeräumt haben. Vielleicht ergab ja die mikroskopische Untersuchung ein paar Hinweise.
So richtig ging es mit der ominösen Toten nicht voran. Noch immer war ihre Identität nicht geklärt. Suchmeldungen an alle Polizeidienststellen hatten bisher auch noch nichts erbracht. Ein Foto zur Veröffentlichung in der Presse schien beim Aussehen der Leiche auch nicht sehr hilfreich. Die Suche im polizeiinternen Datenspeicher hatte auch nichts ergeben. Die Frau war nirgends erfasst. Sie blieb eine Unbekannte.
Es gab in der Abteilung einen Stapel mit Aktenordnern, in denen solche Todesfälle erfasst wurden, die als »Unbekannt« in den elektronischen Speichern geführt waren. Solange kein Anhaltspunkt vorhanden war, der die Identität des Opfers eindeutig klären konnte, verliefen alle weiteren Ermittlungen im Sande.
Eine missliche Situation. Speziell in diesen modernen Zeiten, wo alles irgendwo einmal in irgendwelche Datenträger eingegeben worden war. Die Grenzen der superschnellen Informationswelt wurden jedes Mal den Ermittlern aufgezeigt, wenn sie diesen Stapel erblickten, der von Jahr zu Jahr etwas höher wurde. Linthdorf hatte das Gefühl, dass diese Akte auch in Kürze auf dem Stapel landen würde.

Die verratene Nixe
Eine Nixe hatte sich beim wilden Spielen unter Wasser in der Reuse eines Fischers verfangen und zappelte nun hilflos im Netz. Als der Fischer, ein alter Mann, der stets mit dem Wenigen, was er hatte, zufrieden gewesen war, zu seiner Reuse kam und beim Einholen des Netzes bemerkte, was für ein kapitaler Fang ihm da geglückt war, begann die Nixe zu weinen. Der Fischer hatte Mitleid mit ihr und ließ sie frei. Die Nixe tauchte schnell zurück in ihr heimisches Gewässer, wedelte noch einmal kurz mit ihrer Schwanzflosse, als ob sie dem Fischer danken wollte.
Am nächsten Tage waren in der Reuse des Fischers die schönsten und größten Fische, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Er brachte seinen Fang zum Markt und alle bestaunten seine außergewöhnlich großen Hechte, Zander, Aale und Welse. Schnell hatte er seinen Fang verkauft und soviel erlöst wie noch nie zuvor. Zufrieden ging er nach Hause und legte sich schlafen.
Am nächsten Morgen fuhr er mit seinem Boot wieder zu seiner Reuse hinaus und wieder waren die Netze prall gefüllt mit außergewöhnlich großen Fischen.
Nach ein paar Wochen wurde schließlich der Marktvorsteher auf ihn aufmerksam. Er ließ den Fischer von seinen Marktbütteln beschatten. Doch die beiden Büttel konnten nichts Ungewöhnliches feststellen. Sie berichteten ihrem Herrn von der morgendlichen Ausfahrt des Fischers zu seiner Reuse, seiner Rückkehr mit den vielen Fischen im Boot und dem Verladen der Fische auf seinen Marktwagen.
Ärgerlich über diese Antworten ging der Marktvorsteher zum Fischer. »Hör mal Fischer! Es scheint nicht mit rechten Dingen zuzugeh’n bei deinem Handwerk. Bist du etwa mit dem Teufel im Bunde?«
Der Fischer erschrak: »Nein, nein! Ich bin ein redlicher Mann.« Der Vorsteher bedrängte ihn jedoch weiter und weiter bis endlich der Fischer, vollkommen entnervt von den dauernden Anschuldigungen, dem Vorsteher sein Erlebnis mit der Nixe berichtete.
Der Vorsteher, ein gieriger und skrupelloser Mann, fuhr mit seinen beiden Bütteln auf einem großen Kahn hinaus auf den See des Fischers. Mit großen Fangnetzen fischten sie im See, darauf hoffend, die Nixe zu fangen.
Plötzlich fing der See an zu brodeln. Ein großer Strudel zog das Boot des Vorstehers mit seinen beiden Bütteln hinab. Der Fischer beobachtete dies vom Ufer aus und erschrak gar fürchterlich. Als sich das Wasser wieder beruhigt hatte, erschien nur wenige Meter vom Ufer entfernt die Nixe für einen Moment.
Sie starrte den Fischer aus ihren großen blauen Augen an, sagte kein Wort und verschwand nach kurzer Zeit ohne noch einmal an die Oberfläche zurückzukehren. Von Stund an blieb die Reuse des Fischers leer.
Potsdam
Montag, 16. Januar 2006
Eine Woche war vergangen. Linthdorf hatte die Tage mit banalen Dingen verbracht: Suchmeldungen aus dem gesamten Bundesgebiet, Koordinierungsgespräche mit Kollegen aus Berlin, Berichte schreiben für den Chef. Abends war er erschöpft nach Hause gefahren.
Er lebte in Berlin, fuhr jeden Tag nach Potsdam mit der S-Bahn, den altersschwachen Daimler nutzte er hauptsächlich für Dienstfahrten ins Umland. Er hasste den Berliner Stadtverkehr. Hier wurde er bis in die Haarspitzen gereizt von den aggressiven Fahrern auf den Straßen der Hauptstadt. Es wurde gedrängelt, gehupt, gerast. Linthdorf kam sich jedes Mal vor als ob er im Autoscooter für Erwachsene unterwegs sei.
Also war er vor ein paar Jahren auf die S-Bahn umgestiegen, hier konnte er lesen, und das langsame Dahinruckeln beruhigte ihn. In letzter Zeit allerdings stiegen auch frühmorgens im Berufsverkehr die »Sänger« und Schnorrer mit zu und nervten mit ihren aufdringlichen Betteleien.
Der junge Moser war inzwischen schon in die nächste Abteilung versetzt worden. Die von ihm angefangenen Listen der Zahntechniker hatte Linthdorf auf seinem Tisch, dazu ein Vermerk, mit wie vielen Moser schon telefoniert hatte. Es blieben noch immer knapp sechzig Namen übrig. Seufzend schnappte sich Linthdorf das Telefon und begann die Liste abzuarbeiten.
Einem Anderen konnte er leider diese Arbeit nicht aufhalsen. Die Abteilung war chronisch unterbesetzt. Die vorhandenen Ermittler waren mit dem täglichen Aufkommen vollkommen ausgefüllt. Der Chef der Abteilung kam jeden Morgen und verteilte neue Aufgaben. Die Arbeitsgruppe für das Tötungsdelikt existierte im Moment nur auf dem Papier, die Verantwortung lag bei Linthdorf, und die zugesagten Einsatzkräfte ließen auf sich warten. Jeder hatte auf seinem Schreibtisch genügend Akten zu liegen. Er holte sich einen starken Kaffee, und begann seine Sisyphusarbeit.
Berlin-Wedding
Noch immer Montag, 16. Januar 2006






