Der Ausschluss des Gattenwohls als Ehenichtigkeitsgrund

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Auch der Berliner Jesuit Hermann Muckermann bejahte die Bedeutung der personalen Dimension neben der prokreativen, nahm die Verhältnisbestimmung jedoch anders vor als die beiden zuvor genannten Autoren. Er ging von einem doppelten Sinn der Ehe aus28 und sah die „unmittelbare Aufgabe“ des ehelichen Zusammenlebens darin, „aus der Ergänzungsfähigkeit heraus durch den seelischen Austausch die Entwicklung zu einem höheren Menschentum zu erreichen“29. Die Zeugung und Erziehung von Nachkommen seien diesem Sinngehalt jedoch nicht gleich-, sondern übergeordnet: Er betonte, dass „der tiefste Sinn der Ehe nicht nur in der Lebensgemeinschaft von Gatte und Gattin [liege], sondern vor allem in der ehelichen Fruchtbarkeit.“30 Die Ergänzung der Partner könne erst dann als vollkommen betrachtet werden, wenn ein Kind aus der Ehe hervorgehe.31 Zusammengefasst bestehe die Ehe
„ganz allgemein in der Ergänzung der beiden geschlechtlich verschiedenen Menschen, um der gegenseitigen Vervollkommnung zu dienen und die gesamte Lebensaufgabe – jeder auf seine Art – gemeinsam zu lösen. Dieser allgemeine Sinn, den als solchen auch der römische Katechismus anerkennt, schließt den zweiten Sinn ein, der, von der Natur sowohl als von der Übernatur aus gesehen, der wichtigste ist. Man bezeichnet ihn als finis primarius. Dieser Sinn betrifft das Kind, und zwar seine Entstehung und seine Gestaltung und Erziehung […].“32
Auch hier ergibt sich aus der Anerkennung des Eigenwerts der Paarbeziehung keine Konsequenz in rechtlicher Hinsicht.
Die damaligen Versuche stimmen im Bemühen überein, die traditionelle Engführung auf den Fortpflanzungszweck durch die Würdigung eines eigenständigen personalen Zieles zu überwinden. Neben diesem Anliegen waren die Autoren bestrebt, eine Anschlussfähigkeit an die lehramtlichen und kodikarischen Vorgaben zu bewahren. Damit lässt sich auch der Verzicht auf rechtliche Folgerungen erklären. Ferner ist zu beachten, dass die Autoren einen genuin sakramenten- bzw. moraltheologischen Ansatz verfolgten; daher standen Grundlegung und Darstellung des Ehelebens im Vordergrund und nicht die Anforderungen an den Ehewillen.33
Dennoch sah sich das kirchliche Lehramt zu Klarstellungen veranlasst: In seiner Ansprache vor dem Apostolischen Gericht der Rota Romana vom 03.10.1941 verurteilte Papst Pius XII. die Auffassung, Primär- und Sekundärzweck seien „ugualmente principale“.34 Der Sekundärzweck dürfe zwar nicht bestritten werden, doch sei er dem Primärzweck wesentlich unter- und seiner intrinsischen Struktur nach auf diesen hingeordnet.35 Das Hl. Offizium mahnte dies in einem von Pius XII. approbierten Dekret vom 30.04.1944 ebenfalls an. Anstoß gaben nicht näher genannte Veröffentlichungen, welche verneinten, dass die Zeugung von Nachkommen den Primärzweck darstelle, oder die Unterordnung der Sekundärzwecke unter den Primärzweck ablehnten.36 Exemplarisch wird die Behauptung angeführt, die Ehe sei vorrangig zur persönlichen Ergänzung und Vervollkommnung der Partner eingerichtet.37 Weil aus solchen Ansichten Irrtümer und Unsicherheiten entstehen könnten, sah sich die Kongregation veranlasst, einzuschärfen, dass diese Positionen nicht geduldet werden könnten.38 Pius XII. wiederholte das in mehreren Ansprachen, besonders deutlich und mit ausdrücklicher Berufung auf das Dekret des Hl. Offiziums in seiner Ansprache bei der Versammlung der katholischen Hebammen Italiens vom 29.10.1951.39 Obwohl das kirchliche Lehramt die personale Dimension der Ehe in den o. g. Lehrschreiben anerkannte, betonte es, diese sei vom Fortpflanzungszweck abhängig und ihr komme rechtliche Bedeutung nicht zu. Insofern wurde den ehe- und moraltheologischen Vorstößen, die Ehezwecklehre zu modifizieren, eine klare Absage erteilt. Eine Weiterentwicklung der Ehetheologie, die der Paarbeziehung einen Eigenwert einräumte, und das lehramtliche Beharren auf der Hierarchie der Ehezwecke standen einander unversöhnlich gegenüber.
Der italienische Kanonist Arturo C. Jemolo zeigte an einem fiktiven Fall eindrücklich die Diskrepanz zwischen dem personalen Eheverständnis und der damals geltenden Rechtslage auf: In diesem Beispiel will ein Mann eine Frau mit dem Ziel heiraten, an ihrer Familie Rache zu nehmen. Er hat vor, seine Braut in der Ehe zu quälen, um so deren Familie leiden zu lassen und sie zu demütigen. Wie war ein solcher Ehewille nach der Rechtslage des CIC/1917 zu beurteilen? Jemolo konstatierte: Solange der Mann nicht durch positiven Willensakt eines der drei augustinischen Ehegüter oder die gegenseitige Übertragung des Rechts auf zeugungsgeeigneten Geschlechtsverkehr (ius in corpus) ausschlösse, wäre der Ehewille in rechtlicher Hinsicht ausreichend, um eine gültige Ehe einzugehen.40 Das wäre sogar dann der Fall, wenn der Mann darüber nachdächte, seine Braut zu töten.41 Technisch gesehen, würde es sich um eine gültige Ehe handeln, doch sei gleichermaßen klar, dass es sich bei dieser Heirat zur Erfüllung einer vendetta um etwas handle, das keinesfalls dem entspreche und dessen würdig sei, was gemeinhin als Ehe angesehen werde.42
2.2 Sinngehalte der Ehe in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes
Die lehramtlichen Zurückweisungen neuer ehetheologischer Entwürfe vermochten weder die Diskussion um das Zueinander der Sinngehalte der Ehe gänzlich zu unterbrechen, noch boten sie eine Lösung für das zugrundeliegende Problem.43 Der Fragenkomplex wurde im Kontext der Vorbereitungen und Beratungen des II. Vatikanischen Konzils (1962–1965) erneut behandelt und kontrovers diskutiert.
Bei seiner Ansprache zur feierlichen Eröffnung des Konzils vom 11.10.1962 warnte Papst Johannes XXIII. vor einer negativen Sicht auf den Verlauf der Geschichte und rief die Konzilsväter dazu auf, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die kirchliche Überlieferung, sondern auch auf die Entdeckungen und Bedürfnisse der Gegenwart zu richten.44 Das so verstandene aggiornamento im Sinne einer Inkulturation der Offenbarung im Dialog mit der Gegenwart sollte zu einem Leitmotiv des Konzils werden.45 Besonders deutlich tritt dieses Grundanliegen in der „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“ Gaudium et spes hervor: Bereits in der Überschrift des ersten Artikels wird die „engste Verbundenheit der Kirche mit der ganzen Menschheitsfamilie“46 ausgesagt. Die Kirche steht der Welt nicht einfachhin als (be-)lehrende Institution gegenüber, sondern ist innigst (intima) mit ihr verbunden und von ihr betroffen.47 Nach dieser programmatischen Einleitung entfaltet die Konstitution eine christliche Anthropologie, auf deren Basis sie wichtige Einzelfragen des menschlichen Lebens erörtert, darunter auch die „Förderung der Würde der Ehe und der Familie“48.
Das Ehekapitel in der jetzt vorliegenden Gestalt hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte.49
In den ersten Entwürfen wurde noch an der Hierarchie der Ehezwecke festgehalten: So bekräftigte bspw. das Schema De castitate, virginitate, matrimonio, familia vom 07.05.1962 die Vorrangstellung des Primärzwecks der Zeugung und Erziehung von Nachkommen vor den Sekundärzwecken und allen übrigen subjektiven Zielen, welche die Partner mit der Eheschließung verbinden.50 Diese Ordnung der Ehezwecke zu leugnen, wurde als zu verurteilender Irrtum angesehen.51 Das überarbeitete Schema Constitutio dogmatica de castitate, matrimonio, familia, virginitate, das Papst Johannes XXIII. am 13.07.1962 genehmigte und das den zukünftigen Konzilsvätern übersandt wurde,52 beinhaltete diesbezüglich kaum Änderungen.53 In einem nächsten Schema wurde zwar auf die Zweckterminologie verzichtet, doch verwies man zunächst noch auf das Dekret des Hl. Offiziums von 1944 und implizierte damit einen gewissen Vorrang der Fortpflanzung.54 Später wurde der Verweis auf das Dekret aufgegeben und die Rolle der ehelichen Liebe stärker betont; personaler und prokreativer Sinngehalt wurden in einer Balance gesehen.55 Diese Entwicklung setzte sich bis in die Endphase der konziliaren Beratung fort, blieb aber bis zum Ende nicht unwidersprochen: Noch unter den letzten Änderungsvorschlägen zum Schema Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis, wenige Wochen vor der Abstimmung über den endgültigen Text, wurde von 190 Vätern gefordert, sowohl die Hierarchie der Ehezwecke als auch die Übertragung des ius in corpus als Konsensobjekt im Ehekapitel festzuschreiben, „und damit versucht, diese deutlich kontraktuell geprägte Konzeption des alten Codex in den Konzilstext hineinzuretten.“56 Die zuständige Kommission wies diesen Vorschlag jedoch zurück: Einerseits mit dem formalen Argument, dass die Pastoralkonstitution nicht der richtige Ort für eine juristisch präzise Festlegung sei, andererseits wollte man nicht mehr davon abrücken, dass der Konsens wesentlich mehr umfasse als die bloße Übertragung von Rechten und Pflichten.57 Am 04.12.1965 wurde auf der 167. Generalkongregation des Konzils in zwölf einzelnen Abstimmungen über die Berücksichtigung der Änderungsvorschläge durch die Kommission entschieden. Der verbesserte Text des Ehekapitels wurde mit großer Mehrheit angenommen58 und die Konstitution schließlich am 07.12.1965 feierlich verabschiedet.59
Der endgültige Text des Kapitels über die Ehe umfasst sechs Artikel: Zunächst stellt GS 47 die fundamentale Bedeutung von Ehe und Familie für das Wohl der Person und der ganzen Gesellschaft fest, bevor einzelne Gefährdungen (bspw. Polygamie oder Egoismus) für die Würde dieser Institution aufgezählt werden. Die Lehre des Konzils versteht sich demgegenüber als Stärkung für die von diesen Problemen betroffenen Menschen. GS 48 beschreibt die Ehe in schöpfungstheologischer und soteriologischer Hinsicht.60 Gott wird als Urheber dieser „innige[n] Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“, vorgestellt, die auch als Bund, als Ort inniger Verbundenheit und als „gegenseitiges Sich-Schenken zweier Personen“ beschrieben wird und als Sakrament die Eheleute stärkt. Die beiden Artikel 49 und 50 befassen sich mit der Bedeutung der Liebe bzw. der Fruchtbarkeit für die Ehe. Die Liebe umgreift die gesamte Wirklichkeit der ehelichen Gemeinschaft und kennt verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten. Diese eheliche Liebe und die Ehe sind auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommen hingeordnet, Kinder werden als „vorzüglichste Gabe für die Ehe“ verstanden, doch wird explizit erklärt, dass auch eine kinderlose Ehe ihren Wert behalte. Die Aufgabe der Elternschaft sollen die Partner verantwortet und im Hören auf das eigene Gewissen wahrnehmen. GS 51 führt diesen letzten Gedanken weiter und hebt hervor, dass bei der Geburtenregelung nicht auf unsittliche Methoden zurückgegriffen werden dürfe.61 Mit Aussagen über die Erziehung der Kinder und einem Appell an alle Menschen, sich für den Schutz und die Förderung der Familie einzusetzen, schließt Artikel 52 das Ehekapitel der Pastoralkonstitution ab.
In Bezug auf das Verhältnis der Sinngehalte der Ehe ist von Bedeutung, welche Rolle die Konzilsväter der ehelichen Liebe (amor coniugalis) zuschreiben: Nach der Charakterisierung der ehelichen Gemeinschaft in GS 48 wird in den beiden folgenden Artikeln zuerst die eheliche Liebe und dann die Fortpflanzung behandelt. Ebenso wird die Liebe in eine Reihe mit der Fortpflanzung, der Einheit und der Treue gestellt.62 Die Parallelisierung von Liebe und Nachkommenschaft begegnet auch in GS 51.63 Solche Textstellen vermitteln den Eindruck, dass mit der Liebe ein eigenständiger Sinngehalt der Ehe neben der Fortpflanzung ausgedrückt werden sollte.
Doch es ist eine andere Verwendungsweise des Liebesbegriffs, die das Ehekapitel dominiert:64 So wird bereits zu Beginn von GS 48 mit der Liebe nicht nur ein Teilaspekt, sondern die gesamte Wirklichkeit der Ehe definiert.65 Derselbe Artikel handelt vom Segen Christi über die Liebe, womit auch an dieser Stelle die Ehe als Ganzes gemeint ist.66 Zweimal tritt die Liebe als Subjekt neben der Ehe auf, wenn erklärt wird, dass Ehe und Liebe auf Nachkommenschaft hingeordnet seien.67 An diesen Aussagen wird erkennbar, dass die eheliche Liebe nicht als ein bloßer Teilaspekt der Ehe verstanden wird, sondern die ganze Wirklichkeit der Ehe betrifft und beschreibt. Norbert Lüdecke sieht daher in der Liebe das „Strukturprinzip der gesamten Ehewirklichkeit“ und den „kontinuierliche[n] Referenzpunkt des ganzen Ehekapitels.“68
Die widersprüchliche Beschreibung des amor coniugalis als eigenständiger Sinngehalt neben der Fortpflanzung einerseits und als ein die ganze Ehe durchdringendes Strukturprinzip andererseits liegt darin begründet, dass während des Konzils noch keine klare Terminologie für einen partnerschaftlichen Sinngehalt zur Verfügung stand.69 Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Konzilstext neben dem prokreativen Sinngehalt ein selbständiger personaler Wert ausgedrückt werden sollte. Das wird sehr anschaulich in GS 48: Die Ehe wird hier vorgestellt als „innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“, als ein „heilige[s] Band“, das „im Hinblick auf das Wohl der Gatten und der Nachkommenschaft sowie auf das Wohl der Gesellschaft nicht mehr menschlicher Willkür“ unterliege.70 Als dem Zugriff des Menschen entzogen werden demnach nicht mehr nur die Wesenseigenschaften der Ehe, Einheit und Unauflöslichkeit, sowie die prokreative Ausrichtung der Ehe betrachtet, sondern auch das Wohl der Gatten und das Wohl der Gesellschaft.71 Weiter heißt es, die Ehe sei „mit verschiedenen Gütern und Zielen ausgestattet“, die „von größter Bedeutung für den Fortbestand der Menschheit, für den persönlichen Fortschritt der einzelnen Familienmitglieder und ihr ewiges Heil; für die Würde, die Festigkeit, den Frieden und das Wohlergehen der Familie selbst und der ganzen menschlichen Gesellschaft“72 seien. Auch hier ist der Bezug zur Nachkommenschaft gegeben, gleichzeitig wird jedoch ausführlich die Wichtigkeit für die einzelnen Personen beschrieben und dieser Zusammenhang – allerdings nicht im Sinne einer Rangfolge – von der prokreativen Dimension abgesetzt.73 Die Güter und Ziele „lassen sich sowohl textgeschichtlich als auch in bezug auf die offizielle Endfassung des Ehekapitels textanalytisch als die beiden neben den Wesenseigenschaften der Einheit und Unauflöslichkeit bestehenden Werte der Partnerschaft und der Nachkommenschaft identifizieren.“74 Diese Werte werden mit den beiden folgenden Sätzen jeweils konkretisiert: Zunächst beschreibt die Konstitution die natürliche Hinordnung der Ehe und der Liebe auf Nachkommen, die als „Krönung“ angesehen werden.75 Danach wird die partnerschaftliche Dimension durch das biblische Bild des Ein-Fleisch-Werdens näher bestimmt.76 Die Gatten sind aufs Engste miteinander verbunden, bestreiten gemeinsam ihr Leben und „erfahren und vollziehen dadurch immer mehr und voller das eigentliche Wesen ihrer Einheit.“77 Diese eheliche Partnerschaft, die „Lebenseinheit der Ehegatten“78 wird nicht als Nebenzweck zur Fortpflanzung verstanden, sondern stellt einen „Wesenszug der Ehe“79 dar. Es geht hier um die Intersubjektivität der Partner und um die Bereicherung, die sie aus dem täglichen Miteinander erfahren.80
Anschließend werden aus beiden Sinngehalten – und zwar gleichermaßen aus dem partnerschaftlichen wie dem prokreativen – die Wesenseigenschaften der Ehe abgeleitet: Treue und unauflösliche Einheit der Partner liegen in der Vereinigung und der Selbstschenkung der Gatten ebenso begründet wie im Wohl der Kinder.81 Die traditionelle Herleitung der Wesenseigenschaften allein aus dem bonum prolis wird damit überwunden.82 Auch daran lässt sich ablesen, dass die Konzilsväter eine Gleichrangigkeit zwischen beiden Werten vertreten.83 GS 48 schließt mit dem Auftrag an die Ehepartner und die ganze Familie, Zeugnis für das Wirken Christi abzulegen. Erreicht werden soll das „durch die Liebe der Gatten, in hochherziger Fruchtbarkeit, in Einheit und Treue“84 und durch die Kooperation der Familienmitglieder. Liebe ist hier wiederum nicht Synonym für die Ehe als Ganzes, sondern drückt den partnerschaftlichen Wert aus. Entscheidend ist, dass partnerschaftlichem und prokreativem Wert in gleicher Weise Zeugnischarakter zugeschrieben wird.85
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Konzilsväter in GS 47–52 die im CIC/1917 normierte und später lehramtlich wiederholt eingeschärfte Unterscheidung zwischen dem Primärzweck der Zeugung und Erziehung von Nachkommen und den Sekundärzwecken der gegenseitigen Hilfe bzw. dem Heilmittel gegen die Begierlichkeit aufgeben. Stattdessen etablieren sie neben dem prokreativen Sinngehalt der Ehe einen diesem gleichwertigen und eigenständigen partnerschaftlichen Sinngehalt. Die Verbindung der Ehepartner wird nicht länger in erster Linie als Gemeinschaft zur Fortpflanzung gesehen, sondern als gleichermaßen von beiden Werten geprägter Liebesbund. Dies lässt sich – trotz begrifflicher Unschärfen im Endtext – anhand der Textgeschichte aufzeigen. Beide Sinngehalte gehören zum Wesen der Ehe, zwischen ihnen besteht eine Balance und nicht eine Rangfolge.86 Insofern ist die konziliare Lehre auch eine Absage an ehetheologische Entwürfe, die der Paarbeziehung als solcher einen Vorrang vor der Fortpflanzung einräumten.87 Dass die Konzilsväter bewusst auf eine juristische Terminologie verzichteten, bedeutet indes nicht, dass mit dem Ehekapitel der Pastoralkonstitution keine verbindlichen Aussagen getroffen wurden.88 Vielmehr enthalten alle Konzilsbeschlüsse, auch das Ehekapitel von Gaudium et spes, „Grundsatzentscheidungen oder Fundamentalprinzipien“, die zwar rechtlich noch zu konkretisieren sind, aber die bereits eine Position bestimmen, „hinter welche die Kirche nicht zurück kann und will.“89 Tatsächlich hat die konziliare Rede von einem eigenständigen partnerschaftlichen Sinngehalt der Ehe im CIC auch eine rechtliche Konkretion erfahren.
2.3 Der personale Sinngehalt der Ehe bei der Revision des Codex Iuris Canonici
Schon vor dem Ende des Konzils hatte Papst Paul VI. dazu ermahnt, bei der Revision des CIC die konziliaren Erkenntnisse zu berücksichtigen.90 Die mit der Redaktion des Eherechts befasste Studiengruppe (Coetus Studiorum De Matrimonio)91 war von Anfang an bestrebt, diesen Auftrag auch im Hinblick auf das konziliare Eheverständnis zu beherzigen. Dies erwies sich als nicht ganz einfach: Bereits bei den ersten Zusammenkünften machten die Konsultoren mehrere Vorschläge für einen Canon zur Beschreibung der Ehe.92 Einerseits enthielten alle Vorschläge neben der Hinordnung auf Zeugung und Erziehung von Nachkommen ein partnerschaftliches Element, das in der Mehrzahl der Entwürfe als conformatio93 der Gatten ausgedrückt wurde.94 Andererseits wurde die Zuordnung von prokreativer und partnerschaftlicher Dimension sehr unterschiedlich vorgenommen: Teils wurde eine Hinordnung der Ehe auf die wechselseitige Formung erklärt,95 teils wurde die conformatio als Strebeziel („Matrimonium […] tendit“96) oder als causa der Ehe angesehen.97 Bei der Aufnahme der ehetheologischen Impulse von Gaudium et spes bestand Unsicherheit, welche rechtliche Relevanz den dortigen Aussagen zukommen sollte.98 Dabei wurde auch diskutiert, ob mit den altkodikarischen Begriffen „Primärzweck“ und „Sekundärzweck“ überhaupt noch operiert werden könnte99 und was das Fehlen einer Rangfolge der Zwecke in der Pastoralkonstitution bedeuten sollte.100 Strittig war ebenso die Frage nach der Aufnahme des amor coniugalis und dessen rechtlicher Relevanz.101 Zur Lösung dieser Fragen wurde mehrfach der Wunsch nach einer lehramtlichen Klarstellung geäußert,102 die jedoch offenbar ausblieb. Der Berichterstatter der Arbeitsgruppe, Pieter Huizing, teilte später mit, dass innerhalb des Coetus die Entscheidung gefallen sei, im Anschluss an Gaudium et spes auf den Zweckbegriff und die Zweckhierarchie zu verzichten.103 Zusammengefasst gab es zu Beginn des Revisionsprozesses Stimmen, die ein Umdenken im Sinne der Aussagen über die Ehe in der Pastoralkonstitution als notwendig erachteten,104 wohingegen andere ein Abrücken von der traditionellen Ehezwecklehre für nicht angeraten hielten.105 Eine ausdrückliche Übereinkunft über die strittigen Punkte wurde nicht erreicht. Das Ergebnis dieser ersten Beratungen war der Formulierungsvorschlag: „Matrimonium est intima totius vitae coniunctio inter virum et mulierem, quae indole sua naturali ad prolis procreationem et educationem ordinatur“.106 Zwei Konsultoren merkten dazu an, dass die Sekundärzwecke durch die Rede von der intima totius vitae coniunctio ausgedrückt seien107, der Sekretär lobte, dass mit dieser Formulierung die Nichtigkeit einer Ehe wegen Ausschlusses der Sekundärzwecke vermieden sei.108
Das Resultat ist – betrachtet man sowohl dessen Zustandekommen als auch das Ergebnis selbst – mehrdeutig. Auffällig ist das oft bezuglos scheinende Nebeneinander von Aussagen und Konzepten in der Diskussion. Einzelne sprachen sich bspw. gegen eine Aufnahme des ius in corpus aus109, andere gingen darauf nicht weiter ein und schlugen später die Beibehaltung des altkodikarischen Konsensobjekts vor.110
Die Beschreibung der Ehe als intima totius vitae coniunctio fand Eingang in das SchemaSacr. So lautet c. 243 § 1 des Schemas: „Matrimonium, quod fit mutuo consensu de quo in cann. 295 ss., est (intima) totius vitae coniunctio inter virum et mulierem, quae, indole sua naturali, ad prolis procreationem et educationem ordinatur. “
Auch anlässlich der Sichtung und Beratung der Antworten der Konsultationsorgane im Februar des Jahres 1977 hielt man an der Formulierung fest und entschied sich ausdrücklich dafür, die Begriffe intima111, totius112 und coniunctio113 beizubehalten.
Allerdings wurde hinsichtlich der alleinigen Hinordnung auf Zeugung und Erziehung angefragt, ob hierin eine „indirekte Bekräftigung der Hierarchie hinsichtlich der Ehezwecke verborgen“ und es daher angezeigt sei, „auch andere Ehezwecke im Canon aufzuzählen“.114 Daraufhin antwortete ein Konsultor, dass der Coetus mit der Norm keine Zweckhierarchie ausdrücken wollte, die Ehezwecke jedoch in ihr enthalten seien,115 und schlug zur besseren Wiedergabe des Intendierten vor, die Norm um ein etiam zu ergänzen.116 Die Frage nach der Nennung anderer Ehezwecke wurde dahingehend positiv beantwortet, dass die Arbeitsgruppe die Aufnahme eines finis personalis matrimonii befürwortete und sich auf folgenden Formulierungsvorschlag einigte: „Matrimonium est viri et mulieris intima totius vitae coniunctio quae indole sua naturali ad bonum coniugum atque ad prolis procreationem et educationem ordinatur:“117
An diesem Punkt der Revisionsarbeiten begegnet zum ersten Mal der Begriff des bonum coniugum.118 Zur Herkunft des Begriffs finden sich keine Angaben, es wird nur beschrieben, dass die Formulierung aus zwei Vorschlägen zusammengestellt wurde und allgemeine Zustimmung fand.119 Später stellte der Vorsitzende der Revisionskommission fest, dass diesem personalen Aspekt in Bezug auf den Ehekonsens auch rechtliche Relevanz zukomme.120 Nach weiteren Beratungen wurden die cc. 242 und 243 § 1 des Schemas zu c. 1008 Schema/1980 zusammengefasst. Die das Eherecht einleitende Norm lautete jetzt: „§ 1. Matrimoniale foedus, quo vir et mulier intimam inter se constituunt totius vitae communionem, indole sua naturali ad bonum coniugum atque ad prolis procreationem et educationem ordinatam, a Christo Domino ad sacramenti dignitatem inter baptizatos evectum est. § 2. Quare inter baptizatos nequit matrimonialis contractus validus consistere quin sit eo ipso sacramentum. “121
In der Relatio über die Änderungswünsche der Kommissionsmitglieder am Schema/1980 findet sich eine grundsätzliche Kritik an dieser Norm.122 Kardinal Pietro Palazzini lehnte das zu starke Abrücken von der theologischen und kanonistischen Tradition ab und verwies auf das Armenierdekret vom 22.11.1439123, wo die drei augustinischen bona aufgeführt werden, sowie auf Aussagen des Catechismus Romanus124 zum Wesen der Ehe. Auch in Gaudium et spes sei nicht konkret vom bonum coniugum, sondern allgemein von Gütern die Rede, mit denen die Ehe ausgestattet worden sei. Dabei habe man jedoch besonderen Wert auf Zeugung und Erziehung von Nachkommen gelegt.125 Im Einzelnen wandte sich der Relator erstens gegen die Beschreibung der Lebensgemeinschaft als totius, weil das u. a. den sog. Gewissensehen und den Mischehen widerspräche.126 Zweitens sprach er sich gegen die Erklärung aus, die Ehe sei auf das Gattenwohl hingeordnet, weil „der Zweck eines geschaffenen Dinges immer außerhalb dessen Wesens liegt. Nun aber ist das Gattenwohl kein Ding außerhalb der Ehe, sondern bezieht sich auf deren Wesen wie eine wechselseitige Ergänzung […] hauptsächlich auf physischer und psychischer Geschlechtsebene. Es kann nicht als ein Zweck der Ehe dargestellt werden. Es wäre ein finis operantis, aber kein [finis] operis.“127 Mit Verweis auf Thomas von Aquin hielt er es für „philosophisch absurd, einem Seienden mehr als einen wesentlichen und hauptsächlichen Zweck zuzuweisen“128, jedoch fines operantis könne es mehrere geben.129 Die Hinordnung auf das Gattenwohl sei demnach zu streichen. Gleichzeitig wurde von Kardinal Giuseppe Siri die Wiedereinführung der Zweckhierarchie aus c. 1013 CIC/1917 gefordert und von Erzbischof Luis E. Henríquez Jiménez kritisiert, dass der Terminus communio in § 1 unklar sei.130