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Aber ich muss mehr über mich erzählen, sonst komme ich dem Geheimnis meiner Reise nicht auf die Spur. Leider weiß ich noch nicht, wie ich es anfangen soll. Am besten schreibe ich auf, was heute passiert ist, denn das ist ganz gewiss der erste Schritt gewesen.
Ich war heute Morgen sehr neugierig, wie und wann ich Van Dyck treffen würde, und zum ersten Mal seit langer Zeit lief ich wieder aufgeregt umher. Schon beim Frühstück, bei dem wir alle in der muffigen Bauhütte einen körnigen Brei hinunterschlangen, lehnte sich der Werkmeister, ein ungepflegter Kerl mit glasigen Augen, plötzlich mit einem triumphierenden Lächeln zurück und schlug mit einem Löffel gegen seine tönerne Schale: „Es wäre schön, wenn ihr faulen Säcke heute ausnahmsweise mal fleißig ausseht. Mister Jones kommt zu Besuch!“
Lautes Stöhnen ertönte. Ein Steinmetz, den ich aus den folgenden Jahren kannte, lachte künstlich und knurrte: „Es wird genauso ablaufen wie immer: Unserem Bau-Meister ist doch ohnehin alles zu verspielt, was wir machen. Es kotzt mich an. Erinnert ihr euch an das letzte Mal, als er die Ehre hatte, uns zu visitieren:, Ich wünsche schlichtere Formen, klar, streng und nobel. Nicht diese katholische Überfrachtung.‘ Und dann erzählt er wieder stundenlang von Palladio., Lasst es uns machen wie Palladio!‘ Palladio holladio! Ich kann es nicht mehr hören. Palladio, der große Wiederentdecker der alten Formen. Palladio hier, Palladio da. Warum ist Mister Jones nicht in Venedig oder Rom geblieben, wenn ihm der antike Kram der Vorgeschichte besser gefällt als die künstlerischen Formen unserer Zeit!“
Der Werkmeister rülpste genüsslich, und man sah ihm an, dass er die Meinung des aufgebrachten Handwerkers zwar teilte, aber schon kannte. In diesem Moment öffnete sich der mit groben Latten versperrte Eingang ein Stück und Van Dyck blickte in den Raum. Er rümpfte die Nase und blieb in der halboffenen Tür stehen, sodass der Wind ungehindert durch den Raum ziehen konnte. Herrisch fragte er: „Ist Inigo Jones schon hier gewesen?“
Der Werkmeister sprang auf, wischte sich die Hände an der Hose ab und machte einen Schritt auf den Maler zu, was diesen unwillkürlich zurückweichen ließ.
„Er wird jeden Augenblick hier sein, Sir!“
„Wenn er kommt, sag ihm, dass ich vor dem Kirchenportal auf ihn warte!“
„Gerne, Sir, äh, Sir …“ Der diensteifrige Vorarbeiter öffnete überraschend den Mund zu einem breiten Grinsen, bei dem eine Reihe abgebrochener Zähne sichtbar wurde. „Man sagt, Ihr macht nicht nur religiöse Bilder, sondern seid auch ein Meister der erotischen Malerei. Könntet Ihr nicht einmal eine unverhüllte Schönheit auf die Wand unserer kleinen Hütte hier malen? Eine mit großen … na, Ihr wisst schon. Warum guckt Ihr denn so? Eine keusche Jungfrau natürlich!“
Die Männer krümmten sich vor Lachen, während Van Dyck rot anlief und wortlos die Tür hinter sich zuschlug. Der Werkmeister prustete: „Na, das geschieht ihm recht, dem eingebildeten Laffen. Dem Ritter im feinen Zwirn. Habt ihr sein Gesicht gesehen? Wie ein Pferd mit Durchfall.“
Wieder grölten die Männer, und es gelang mir, mich durch die derbe Heiterkeit nach draußen zu schleichen. Van Dyck stand neben dem kleinen Verschlag mit den Werkzeugen, puderte sich erregt die Nase und blickte mit verspanntem Hals in die Ferne.
Da er mir an Bord der „Marian“ erzählt hatte, wie das Bild aussah, das er von mir malen würde, sprach ich ihn vorsichtig an: „Entschuldigt meine Unverfrorenheit, Sir, aber ich würde mich gerne als Modell zur Verfügung stellen.“
Er musterte mich von oben bis unten und verzog dann den Mund zu einem verächtlichen Grinsen: „Wofür? Für den Esel in einem Krippenbild?“
Idiot, dachte ich. „Nein, Sir, für irgendein Bild eben!“
Er hustete in ein spitzenbesetztes weißes Taschentuch und sagte dann mit drohendem Unterton: „Hör zu. Die eine Hälfte Londons möchte von mir gemalt werden und wartet darauf, dass ich für sie Zeit habe. Die andere Hälfte möchte das auch, kann es aber nicht bezahlen. Ich werde also für einen Habenichts wie dich keine Leinwand verschwenden. Und jetzt lass mich in Ruhe.“
Er drehte sich demonstrativ um und sah nach einer halben Minute erstaunt in meine Richtung, weil ich immer noch am gleichen Fleck stand.
„Ich habe gesagt, du sollst verschwinden!“
„Ich kann in die Zukunft sehen!“
„Ach! Und die Erde ist eine Kugel, die um die Sonne fliegt! Gibt es eigentlich überall nur noch Verrückte?“
Er blickte mich verächtlich an und ging Richtung Baustelle davon. Mir wurde mulmig. Eigentlich war ich immer bemüht gewesen, mich aus der Geschichte herauszuhalten. Was sollte ich jetzt machen? Ich hatte von Anfang an große Angst, dass ich Einfluss auf Dinge nehmen könnte, die den Lauf der Welt verändern. Ein scheinbar belangloses Wort zur falschen Zeit ist in der Lage, alles durcheinander zu bringen. Jemand ändert seine Meinung, geht einen neuen Weg oder bekommt Angst – und plötzlich schlägt die Geschichte einen neuen Kurs ein.
Wobei ich ehrlicherweise sagen sollte, dass ich nicht immer so vorsichtig gewesen bin. Zu Beginn meiner Reise in die Vergangenheit habe ich zum Beispiel eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt, Adolf Hitler zu töten. Es wäre ein Leichtes gewesen, dem Säugling oder dem Schulkind Adolf aufzulauern und das Jahrhundert etwas menschlicher zu machen. Aber dann wurde ich unsicher, denn ich wusste nicht, ob das überhaupt funktionieren würde. Ich hatte meine Reise ja zu einer Zeit begonnen, in der bereits bekannt war, wie das Dritte Reich verlaufen würde. Außerdem: Wer gab mir das Recht, mich zum Richter aufzuspielen? Ich hätte vielleicht nicht so viel grübeln sollen. Tatsache ist: Ich brachte es nicht fertig. Zumindest habe ich mir das damals eingebildet.
Wahrscheinlich ist der eigentliche Grund aber viel schlichter: Ich war zu feige. Ich wollte die Verantwortung nicht übernehmen. Das war noch nie meine Stärke gewesen. Ich konnte ja noch nicht einmal Entscheidungen für mich selbst fällen, wie sollte ich es dann für die Weltgeschichte tun? Im jetzigen Fall allerdings wusste ich auf Grund unseres Zusammentreffens auf der „Marian“, dass ich Van Dyck näher kennen lernen würde, also lief ich ihm nach.
„Sir, schaut mich doch einmal in Ruhe an. Vielleicht fällt Euch ja doch eine Möglichkeit ein, mich zu verwenden.“
Er drehte den Kopf angewidert über die Schulter, spielte mit der Kette, die über seinem Wams hing, und winkte zwei Maurer heran. „Haltet mir diesen Irren vom Leib.“
Ehe ich mich versah, packten mich die Männer und zogen mich zur Seite. Ich rief, so laut ich konnte: „Ihr werdet ein Bild malen, Sir. Darauf sieht man den König mit Reitknecht und Page. Ich kann es Euch beschreiben.“
Die Maurer waren einen Augenblick unachtsam, sodass ich mich losreißen und auf Van Dyck zulaufen konnte. Als ich ihn fast erreicht hatte, traf mich ein schwerer Schlag von hinten, und ich verlor das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Strohsack in einem großen Saal. An den Wänden standen und lagen unzählige halbfertige Bilder, die das gezackte Tapetenmuster verdeckten. In der Mitte des Raumes stand eine Staffelei, die von der anderen Seite durch unzählige Kerzen erhellt war.
Van Dyck musste eine meiner Bewegungen gehört haben, denn er kam hinter der Leinwand hervor und blendete mich mit einer Kerze, die unter einem Glassturz stand, sodass ich die Augen zusammenkneifen musste. Er betrachtete mich eine Zeit lang kritisch, dann murmelte er: „Beschreibe dieses Bild, von dem du gesprochen hast!“
Ich schluckte und versuchte, mich daran zu erinnern, was der Künstler mir über das Bild erzählt hatte. Ich richtete mich auf, sackte aber wieder zusammen, als ein stechender Schmerz durch meinen Kopf fuhr.
Leise sagte ich: „Das Bild zeigt auf der linken Seite den König mit seinem Degen und einem Spazierstock. Auf der rechten Seite steht ein Pferd, das so aussieht, als ob es lacht. Ein Reitknecht hat seinen Arm auf den Rücken des Tieres gelegt, während ein junger Mann hinter ihm gedankenverloren, nein, eher fragend, in die Ferne schaut.“
Die Augen des Malers verengten sich: „Welche Farbe hat das Pferd?“
„Es ist weiß!“
„Welche Farbe hat die Hose des Königs?
„Sie ist rot!“
Van Dyck packte mich brutal am Ärmel und zog mich hoch. Er stieß mich so schnell vorwärts, dass ich fast gestolpert wäre. Plötzlich griff seine Hand in meine Haare und drehte meinen Kopf zu dem Bild, an dem er eben gearbeitet hatte.
„Wie bist du hier hereingekommen?“
Ich schwieg. Auf der Staffelei stand das Gemälde von König Charles. Es sah eigentlich genau so aus, wie ich es beschrieben hatte, obwohl das Licht aus einem anderen Winkel zu kommen schien. Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich den entscheidenden Unterschied: Auf der Leinwand waren nur der König und der Reitknecht zu sehen. Ich in Gestalt des jungen Mannes fehlte darauf.
Van Dyck schüttelte mich: „Niemand darf meine Bilder betrachten, bevor sie fertig sind. Ich hasse das, hörst du, ich ertrage es nicht. Das wissen sogar meine geringsten Diener. Also: Wie bist du hier hereingekommen?“
Ich packte seinen Arm und befreite mich aus dem schmerzhaften Griff.
„Sir, ich habe offensichtlich das falsche Bild beschrieben. Also kann ich nicht hier gewesen sein. Auf diesem Gemälde sind nur zwei Männer, ich habe aber von dreien gesprochen. Auf meinem Bild sieht man drei Männer. Hier fehlt der Dritte – Ihr seid also, mit Verlaub, im Irrtum. Ich weiß auch gar nicht, warum Ihr Euch so aufregt …“
Van Dyck starrte ins Leere. Er hatte meine Worte ignoriert, darum hörte ich auf zu reden und blickte in sein konzentriertes Gesicht. Unbewusst massierte er sich mit der linken Hand das Ohrläppchen. Er nahm ein Stück Kohle vom Tisch und begann, mit schnellen Strichen etwas zu skizzieren.
Nach einigen Minuten murmelte er leise vor sich hin: „Nicht zwei Figuren, nein, drei, das ist gut, das ist richtig gut. Drei Personen, drei Elemente und Ideen, die irgendwie zusammengehören: Geist, Seele und Körper. Vater, Sohn und Heiliger Geist. Denken, Träumen und Handeln. Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart. Drei in einem. Drei Männer können zusammen die ganze Welt sehen, jeder 120 Grad. Jeder braucht die anderen und doch herrscht einer über sie. Er verkörpert die Macht des Augenblicks, die Herrschaft des Hier und Heute. Denn die Gegenwart ist die Königin des Seins. Darum muss einer dem Betrachter ins Gesicht sehen. Er, der König, der oberste Regent der Gegenwart, ragt heraus – er ist präsent, er bestimmt, er hat das Jetzt im Griff, während die anderen nach vorne und zurück schauen und darin versinken. Das gegenwärtige Sein steht im Vordergrund, der Blick zum Morgen ist der Blick des aktiven Arbeiters, während der gut gekleidete Page ins Gestern schaut. Die Vergangenheit steht im Hintergrund, die Zukunft bleibt der Gegenwart ebenbürtig, doch von ihr abhängig. Das Licht kommt von schräg hinten, es strahlt auf den Herrscher, der aber seinerseits den wärmenden Mantel des Pagen braucht, wenn er nicht erfrieren will. Es ist kalt ohne Vergangenheit. Und man kommt nicht vorwärts, wenn einem nicht die Träume mit schnellen Hufen voraneilen. Darum hat die Zukunft mit ihrem schattigen Gesicht ein schnelles Reittier an der Hand. Das ist der Lauf der Zeit. Stell dich da hin!“
Er deutete bestimmt auf einen Punkt hinter der Staffelei und wandte sich zu seiner Palette, die auf einem kleinen Schemel lag und im Licht der Kerzen glitzerte.
Ich verstand ihn nicht sofort: „Was ist los?“
Der Maler wiederholte seine Bewegung: „Du hast Recht. Ich weiß nicht warum, aber du hast Recht. Das Bild stimmt so, wie es jetzt ist, nicht. Seit Tagen überlege ich, was mir nicht gelungen ist, warum es mir nicht gefällt. Jetzt weiß ich es: Das Entscheidende fehlte. Zwei Figuren zeigen immer ein Gegeneinander, wenn es drei sind, beginnt das Ganze zu leben. Ich mache aus einem Königsporträt ein Meisterwerk über die Zeit. Zwischen Hell und Dunkel, zwischen die leuchtende Gegenwart und die fordernde Zukunft, zwischen König und Reitknecht drängt sich der fahle Schein dessen, der weiß, wo alles herkommt. Denn was ist die Gegenwart ohne die Vergangenheit? Ich werde dich in das Bild einbauen. Du bist die Vergangenheit. Ich muss dich allerdings kleiner malen als in der Realität, denn du bist ja fast einen ganzen Kopf größer als der König, aber das bekomme ich schon hin. Also, stell dich da hin!“
„Nein!“
Van Dyck blickte auf, als habe er ein Wort vernommen, das noch nie an sein Ohr gedrungen war.
„Bist du wahnsinnig geworden? Vorhin wolltest du unbedingt …“
„Ich bin gern bereit, Modell zu stehen, ich stelle nur eine Bedingung: Ich will euch dabei eine Geschichte erzählen dürfen.“
Der Maler hob die Augenbrauen: „Normalerweise bevorzuge ich zwar Musik beim Arbeiten, aber wenn du beim Erzählen einigermaßen ruhig stehen bleiben kannst, soll es mir recht sein.“
So verharrte ich, Stunde um Stunde, und blickte zurück in die Zeit, in meine Zeit, in die Jahrhunderte, die der Welt noch bevorstanden. Und ich ließ all das hervorströmen, was mir seit nunmehr 365 erlebten Jahren den Verstand rauben wollte, meine ganze Angst, meine Ruhelosigkeit und meine Verzweiflung.
Irgendwann hörte Van Dyck auf zu arbeiten und ließ uns etwas zu essen bringen. Er, der große Hofkünstler, das Wunderkind, das schon als junger Mann oberster Assistent von Peter Paul Rubens war, lauschte einem ratlosen Bauarbeiter, der durch widrige Umstände in sein Atelier gekommen war. Ich hatte ihm geholfen, er half mir. Und es tat unendlich gut, zu schimpfen, zu wüten, zu schreien, zu weinen und diesen Sack voller Fragen, der sich während meines selbst verordneten Schweigens in meiner Seele angefüllt hatte, zu öffnen.
Anfangs war der Drang, Worte zu finden, so groß, dass meine Erlebnisse wohl sehr wirr geklungen haben müssen. Ich holte Erinnerungen und Gefühle aus 365 Jahren hervor und warf sie meinem ersten Zuhörer hin.
Van Dyck ließ mich gewähren, zwei, vielleicht drei Stunden lang. Dann unterbrach mich der Künstler das erste Mal, sehr vorsichtig, ja fast zärtlich: „Wie fing alles an?“
1999 Ich kann mich noch an die Farbe des Kleides von Anna erinnern. Ein dunkles Blau mit eingesponnenen Silberfäden. Sie hatte es schon im vergangenen Jahr an Silvester getragen, weil ich es liebte, ihren nackten Rücken zu betrachten. Ich traf sie vor dem Haus, als sie gerade aus ihrem Polo stieg. (Van Dyck stutzte, also sagte ich: „Eine Kutsche ohne Pferde“.) Ich hatte nicht gewusst, dass sie auch zu dieser Party („Hofball“) kommen würde, und fühlte mich unbehaglich. Aber wenn man sich nach fünf Jahren trennt, hat man nun einmal noch einige Zeit den gleichen Freundeskreis.
Anna war unsere Beziehung nach einiger Zeit zu eng geworden, meine Lust am Heiraten, meine enge Welt der Altphilologie („Magister der alten Sprachen“), mein Eingebundensein in die „existenzverneinende“ Welt der Universität, wie sie es immer nannte, das Dahinvegetieren mit einer halben Assistentenstelle („Dasein als Adlatus“), mein zusätzliches Jobben auf dem Bau („Arbeit im Baugewerbe“), meine fruchtlose Forschungsarbeit über den „Humor als Mittel der Zeitkritik. Sprachmuster in den Satiren Lukians“, in der ich nachweisen wollte, dass der feixende Dichter des zweiten Jahrhunderts bewusst die erzählerischen Traditionen seiner Epoche aufgenommen hatte, um durch diese Verfremdungen die damaligen Stil- und Kunstformen als Farce zu entlarven.
Anna fand, dieses Thema sei reine Zeitverschwendung, Lebensverschwendung. Immer wieder fragte sie gehässig: „Was wird sich in der Welt ändern, wenn dein Buch erscheint? Gibt es nur einen Menschen, der dadurch ein bisschen glücklicher wird?“
„Ich!“, sagte ich dann beleidigt, aber das war zu einer Zeit, als wir schon anfingen, unsere Argumente zu wiederholen. Ich wusste, was ihr an mir missfiel, sie wusste, was mir an ihr missfiel, und keiner von uns dachte daran, etwas Grundlegendes zu ändern.
Nein, das stimmt nicht. Wir litten beide unter den andauernden Streitereien, die sich immer an Kleinigkeiten aufhingen und dann mit Tränen endeten, aber trotzdem machte keiner den ersten Schritt zu einer Verbesserung der Situation. Denn es gab immer wieder wundervolle Momente, in denen wir das Gleiche dachten und fühlten. Aber sie wurden seltener. Wäre es nach mir gegangen, hätte sich wahrscheinlich nie etwas geändert, doch dann fand Anna, es sei einfach Zeit, die Beziehung zu beenden, bevor ich sie mit in mein „selbstgeschaufeltes Akademikergrab“ zöge. Wäre unsere Trennung zu dieser Zeit nicht erst drei Monate her gewesen, drei Monate voller Selbstmitleid und Zerknirschung, dann hätte ich sicherlich anders reagiert.
„Was machst du denn hier?“, fuhr ich sie unfreundlicher an, als ich wollte. Anna wühlte noch einen Augenblick im Handschuhfach und schlug dann die Tür fester zu, als nötig gewesen wäre.
„Karsten gehört zu meinen Freunden, falls du das vergessen hast“, blaffte sie zurück. Damit hatte sie zweifelsohne Recht. „Außerdem kann ich den Jahrtausendwechsel feiern, mit wem ich will. Schließlich habe ich die letzten vier Jahre auch in diesem Kreis gefeiert.“
„Schon gut, entschuldige. War nicht so gemeint. Ich … äh … wusstest du, dass ich auch eingeladen bin?“
Sie hatte sich wieder gefangen und sah mich herausfordernd an: „Ja, ich dachte, wir wollten Freunde bleiben, da werden wir doch ohne Streit auf diese Party gehen können. Letztes Jahr ging es ja auch.“
Sehr lustig, dachte ich, da waren wir ja auch noch zusammen!
Mir fiel nichts mehr ein, obwohl ich seit unserer Trennung in meiner Fantasie sicherlich hundert Gespräche mit ihr geführt hatte, in denen ich ihr endlich all das sagen konnte, wofür mir in ihrer Gegenwart die Worte fehlten. Sie blickte ein bisschen mitleidig auf meinen alten Anzug, rückte den Träger ihres Kleides zurecht und ging vor mir ins Haus.
Ich war sehr melancholisch an diesem Abend. Vor allem, weil mein Blick immer Anna suchte. Für mich schien sie unübersehbar. Anna lachend mit einem Glas Sekt in der Hand. Anna mit einer Rose im Haar, die ihr ein angetrunkener Kollege dorthin gesteckt hatte. Dabei wusste ich genau, dass sie sich nichts aus Blumen machte. Sie war eines Tages damit herausgerückt, nachdem ich sie wochenlang mit Rosen überschüttet hatte, die immer wortlos in eine Ecke gestellt wurden. Anna mit attraktiven Männern, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Anna mit diesem glücklichen Lachen, das wie eine sanfte Welle über ihr Gesicht floss und alle Ängste und Trübungen mit sich nahm, dieses Lachen, von dem ich immer geglaubt hatte, es sei nur für mich bestimmt. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie und ihr jeweiliges Gegenüber die Einzigen waren, die diesen Abend genossen.
Karsten zog mich nach dem Essen in die Küche, hielt mir einen Teller mit Käse hin und setzte eine aufmunternde Miene auf: „Sie macht das, weil sie traurig ist.“
„Na, so sieht sie aber nicht aus! Sie scheint sich prächtig zu amüsieren.“
Er musterte mich, als müsse er überlegen, was er jetzt am besten sagen könnte. Schließlich meinte er optimistisch: „Ich bin sicher, dass sie ihren Entschluss bereut.“
„Da habe ich aber was ganz anderes gehört!“
„Du meinst die Geschichte mit Frank? Das ist doch schon längst wieder vorbei. Sie war traurig, und er hat sie getröstet. Was glaubst du, wie viele Beziehungen auf diesem Wege entstehen? Aber so blöd ist Anna nicht. Die hat schnell genug gemerkt, dass man nicht so einfach eine neue Beziehung anfangen kann. Weißt du übrigens, was das Verrückte an neuen Beziehungen ist?“
Ich wollte in diesem Augenblick weder weise Ratschläge noch Unterhaltung, fand es aber unhöflich, nicht zu antworten. Also sagte ich mürrisch: „Nein!“
Karsten lachte: „50 Prozent davon sind auf jeden Fall alt, denn du bist wieder dabei! Klever, gell? Habe ich neulich irgendwo gehört. Aber mal ganz im Ernst. Wenn du Anna noch liebst, dann solltest du dir ein bisschen mehr Mühe geben!“
„Und was heißt das konkret, Dr. Sommer?“
Er senkte verschwörerisch die Stimme, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken: „Was meinst du, warum sie dein Lieblingskleid anhat? Geh ran, sie wartet doch nur darauf.“
„Na, ich weiß nicht!“
Ich war an diesem Abend nicht zum Flirten aufgelegt. Alles wirkte trübe und undurchsichtig. Die Party, die Menschen, die Gespräche und das Gelächter, das wieselflink durch den Raum stob, um sich dann hinter einem der Bücherregale zu verstecken. Ich trieb in diesem zerfaserten Dasein wie eine Qualle, die vergeblich gegen die Meeresströmungen ankämpft. Irgendwie zerrann die Zeit in meinen Händen. An der Ursache gab es keinen Zweifel: Es war der Silvesterabend 1999.
Natürlich wusste ich, dass der Jahrtausendwechsel ein willkürliches Datum ist, bei dem sich die Historiker wahrscheinlich so oft verrechnet haben, dass wir eigentlich 2000 Jahre nach der Einschulung Jesu feiern. (Van Dyck hob die Augenbrauen.) Und trotzdem bekam ich plötzlich Angst, dass Anna Recht haben könnte.
Wozu brauchte die Welt eine Arbeit über den Humor Lukians? Und hatte nicht auch meine Mutter Recht, die bei allen Familientreffen spitz fragte, wann denn ihr 35jähriger Sohn gedenke, gediegen und anständig zu werden. Für sie hieß das vor allem eines: Enkelkinder zeugen. Plötzlich schien alles, wofür ich bisher gearbeitet hatte, so unwichtig zu sein. Als würde eine ausgehungerte Zecke mit einem Mal ahnen, dass die Welt doch aus mehr als aus Wärme und Buttersäure besteht. Ich fühlte mich verloren.
Karsten versuchte mehrfach, mich zu Anna zu schicken, aber ich saß den ganzen Abend lang stumm in einer Ecke und tat so, als würde mich seine CD-Sammlung („Verewigte Musik“) ungemein interessieren.
Um fünf vor zwölf knallten im ganzen Haus die Korken der Sektflaschen („Champagner“), und wir liefen mit unseren Gläsern in den kleinen Garten, um zu sehen, wie sich die Nacht über uns in ein Lichtermeer verwandelte. Frankfurt im Glanz der Verschwendung. Die Stadt hieß das neue Jahrtausend willkommen. Mir war schlecht. Eine Minute vor zwölf nahmen wir uns an den Händen, nein, man nahm sich an den Händen, denn auf einmal stand Anna neben mir, und wir zählten miteinander die Sekunden von 60 bis 0.
Es war ein langer Abschied. Ich sehnte mich ganz weit weg, hätte aber niemals sagen können, wohin. 35 Jahre zerrten wie eine einzige Frage an mir, und ich war nicht in der Lage, sie zu beantworten. Ich erinnere mich noch, dass mir in diesem Moment der Gedanke durch den Kopf schoss, ob ich wohl jemals trauriger gewesen war.
Vor allem, als mir auffiel, dass Anna und ich diesmal um null Uhr zusammen sein würden. Trotz unserer gescheiterten Beziehung. Im vergangenen Jahr, als wir noch ein Paar gewesen waren, hatten wir uns nämlich beide so intensiv mit verschiedenen Bekannten unterhalten, dass wir den eigentlichen Jahreswechsel getrennt verbrachten. Sie hatte im Garten gestanden, ich vor dem Haus, und jeder hatte dickköpfig darauf gewartet, dass der andere sich auf den Weg machte. Vor Wut war ich daraufhin erst einmal für zehn Minuten auf der Toilette verschwunden, um meiner Freundin aus dem Weg zu gehen. Und sie hatte später so getan, als sei nichts gewesen.
Aber das ist eben Anna, so war Anna, nein, so wird Anna sein: Sie ignoriert alles, was ihr nicht passt. Und irgendwann, schon drei Monate lang, genauer gesagt, gehörte eben auch ich zu den Dingen, die sie übersah.
Die Stimmen wurden lauter, denn jetzt blieben nur noch zehn Sekunden bis zum neuen Jahrtausend. Zehn, neun, acht … Es war, als würde mein Leben ausgezählt, der geschlagene Kämpfer liegt am Boden, ohne zu wissen, gegen wen er verloren hat, und der Schiedsrichter lässt die Zahlen über diese Niederlage triumphieren. Sieben, sechs, fünf … Die anderen Gäste strahlten sich an und mir wurde schwarz vor Augen. Vier, drei … Ich musste mich an Anna festhalten, deren vor Freude geöffneter Mund bei einem kurzen klaren Blick so aussah, als wollte er mich verschlingen. Ich war wie in einem Vollrausch, dabei hatte ich den ganzen Abend nur ein Glas Wein getrunken. Zwei, eins, null …
Ich spürte, wie etwas zerbrach. Irgendwo in mir. Ein störendes Knacken, lautlos und doch so, als ginge nun ein Riss durch mich hindurch oder als hätte ich einen Sprung bekommen. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, ich fiele ins Nichts, stürzte haltlos in den Abgrund. Ich habe keine Ahnung, wie lange dieser Zustand dauerte. Es passierte einfach – und es zog vorüber. Denn plötzlich war das, was den ganzen Abend von mir Besitz ergriffen hatte, wieder verschwunden. Als hätte jemand den auf das Opfer zurollenden Bagger einfrieren lassen oder einen Film angehalten.