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Ich setzte mich auf den kalten Steinfußboden, umschlang meine Beine mit den Armen und schaute zu dem Künstler auf. „Ich bin nicht hier, weil ich etwas will, sondern weil ich etwas nicht will. Jetzt, wo ich das sage, spüre ich selbst, wie feige das klingt. Ist das nicht Schrecken erregend? Aber ich sagte ja, dass ich ein Meister im Verdrängen bin! Wer nicht weiß, was er will, fängt irgendwann an, gegen alles zu sein.
Ich weiß überhaupt nur noch, was ich nicht will. Wenn ich erklären sollte, was ich will, dann bliebe mein Mund geschlossen. Das bedrückt mich. Denn können wir überhaupt vorankommen, solange wir nur negative und keine positiven Ziele haben? Ich bin hier, weil ich den Glaubenskrieg nicht mag, weil er unberechenbar ist und die Menschen verschlingt wie ein Ameisenbär die Ameisen. Und doch sehne ich mich danach, endlich wieder zu wissen, was ich will, endlich wieder für etwas zu sein!“
Van Dyck nahm eine Stoffbahn und legte sie über die Staffelei. Das Kunstwerk verschwand wie unter einer Schneedecke.
Der Künstler blickte mich an. „Beschreibe mir das Bild!“
Die Kerzen warfen flackernde Schatten auf die weiße Fläche und verwandelten sie in ein wogendes Meer.
„Das habe ich doch schon getan, Sir!“
Der Maler trat einen Schritt auf mich zu. „Das eine Mal reicht nicht. Wenn etwas große Kunst ist, dann kannst du es beliebig oft betrachten, es wird dir immer etwas Neues erzählen. Manchmal erkennt man erst nach langer Zeit, worin sein Geheimnis besteht, und doch hättest du dieses gewisse Etwas nicht entdeckt, wenn du nicht schon vorher lange mit fragenden Augen darauf geschaut hättest. Jeder Blick sorgt dafür, dass etwas von der Kunst in dir bleibt. Und du musst reif werden zu sehen. Ob etwas ein Kunstwerk darstellt oder nicht, bestimmst du. Nur wenn du in der Lage bist, es zu sehen und zu verstehen, kann es seine Schönheit preisgeben. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll.
Pass auf: Es ist wie mit Noten. Ein Mensch, der kein Instrument spielt, sieht nur einen Haufen seltsamer Kleckse auf einem Blatt Papier. Ein guter Musiker aber sieht nicht nur die Noten, für ihn sind die kleinen Flecken auf den Linien Botschafter einer herrlichen Welt, er hört jeden Ton, der dort notiert ist. In ihm werden die dunklen Punkte zu hellen Klängen, die die Welt zum Schwingen bringen. Und je geübter er ist, desto klarer erlebt er das Orchester mit all seinen Nuancen.
Das Gleiche gilt für dieses Bild: Im Augenblick hast du davon nur eine Vorstellung. Und weil du kein Maler bist, müsstest du es viele hundert Male betrachten, ehe du es wirklich sehen, geschweige denn nachmalen könntest. Gut, du weißt, dass darauf drei Männer und ein Pferd zu sehen sind, aber ich wette, du könntest nicht einmal sagen, ob König Charles an seinem Schultergurt ein Taschentuch oder einen Handschuh trägt. Nimm dir Zeit und lerne zu sehen.“
„Warum?“
Er hob den Kopf, sichtlich getroffen. „Jetzt enttäuschst du mich. Warum! Weil … weil du ein Kunstwerk bist.“
Ich verstand ihn nicht. „Ach!“
Einen Moment wirkte der Maler so, als wolle er mich nun verabschieden, dann aber sagte er: „Weißt du, warum die Menschen so gerne von mir porträtiert werden? Weil ich in den Gesichtern das sehe, was sie zu etwas Besonderem macht. Jeder Künstler tut das, aber mir ist dieser Aspekt wichtiger als alle anderen. Einige meiner Kritiker behaupten, ich könne keine Menschen erfinden, ich bräuchte immer Vorbilder. Ich glaube, sie haben Recht. Und ich schäme mich dessen nicht. Ich will nicht Gott sein und Neues schaffen. Nur haben das diese anmaßenden Pinselhandwerker noch nicht begriffen. Ich male das typisch Menschliche in den Menschen, die ich sehe. Und dadurch werden sie unsterblich. Denn das macht keiner so gut wie ich. Der Musiker sieht nicht nur die Note, er hört den Ton. Der Maler sieht nicht nur das Gesicht, er erkennt die Leidenschaften und Nöte des Dargestellten, er kennt dessen Geschichte.“
Er drehte sich spielerisch um die eigene Achse und ließ dabei ein Glucksen ertönen: „Hör zu. Wenn einer eine solche Geschichte hat wie du, dann ist er ein Kunstwerk. Also muss er ein großer Künstler werden, um sich zu verstehen. Du kannst im Augenblick an deinem Dasein doch gar nichts ändern. Also hast du die Wahl: Du kannst verzweifeln oder etwas aus deiner Lage machen. Du bist so, wie du bist. Dass du dich dagegen auflehnst, ist zwecklos. Ergo: Finde lieber heraus, was mit dir passiert. Und jetzt kommt der kleine geniale Hinweis: Wenn es doch eine Möglichkeit geben sollte, etwas an dir und deinem Leben zu verändern, dann entdeckst du sie nur, wenn du dich erst einmal akzeptierst.“
Ich spürte, dass ich wütend wurde. „Das versuche ich seit einem Jahr!“
Van Dyck lachte wieder sein dunkles, geheimnisvolles Lachen, dass ich zum ersten Mal auf der „Marian“ gehört hatte. Dann sagte er bedächtig: „Nein, das versuchst du nicht. Du versteckst dich vor dir. Nachdem du so viel geredet hast, wird es Zeit, dass ich dir eine Geschichte erzähle: Mein Lehrer Peter Paul Rubens, der, das habe ich heute Morgen erst gehört, in Zukunft wie ein Fürst auf seinem Landschlösschen Steen leben will, wusste genau, dass ich als sein Assistent niemals meinen eigenen Stil entwickeln würde. Aber ich war damals gerade 21 und so stolz, bei diesem verehrten Mann arbeiten zu dürfen, dass ich gar nicht auf die Idee kam, mich selbständig zu machen. Weil ich gut war, fürchtete ich mich, sehr gut zu werden. Mein eigener Erfolg stand mir im Weg. Ich hatte so viel erreicht, dass ich mich fast zu früh zufrieden gegeben und dabei meine eigentliche Berufung beinahe verpasst hätte. Darin bin ich übrigens kein Einzelfall. Ich kenne viele Menschen, die sich auf halbem Weg niederlassen und sich dort so bequem einrichten, dass sie den Gipfel aus dem Blick verlieren. Und wer wäre von dem, was ich erreicht hatte, nicht begeistert gewesen? Ich betreute die Werkstatt von Rubens im Palais in Antwerpen, ich vertrat den Meister, wenn er unterwegs war, und konnte sogar seine Signatur auf den Bildern perfekt imitieren. Ich dachte, ich hätte alles, was ich brauche. Dabei hatte ich nichts. Ob jemand ein großer Künstler wird, hängt nicht nur von seinem Talent ab, es hängt auch davon ab, ob er an sich glaubt. Ich war im Grunde ein besserer Leibeigener, einer, der sicher sehr kunstvoll, aber eben doch nur als Nachahmer lebte. Leider war ich zu schwach, um zu beurteilen, wozu ich fähig bin.
Und … ich brauchte Rubens. Zumindest dachte ich das damals. Weißt du, meine Mutter starb, als ich sieben war, und von da an waren die Künstler meine Familie. Mein Großvater zog als Kaufmann durch die Lande, und mein Vater lobte mich zwar, aber er liebte mich nicht. Ich lebte durch die Künstler, mit denen ich zusammen war. Ich umklammerte den Spatz in der Hand – diesen wunderschönen seidigen Vogel -, obwohl die Taube auf dem Dach auf mich wartete. Mehrfach versuchte Rubens, mich auf einen eigenen Weg zu bringen, doch ich lachte nur.
Da fing er plötzlich an, mich zu schikanieren. Weil ich nicht im Guten hören wollte, wählte er den brutalen Weg. Er mäkelte an meinen Motiven herum, kritisierte meinen Stil und zerschnitt sogar einmal eines meiner Bilder, weil er es für schlecht hielt. Er machte mir das Leben zur Hölle, um mich zum Himmel zu bringen. Wir schieden im Zorn, und sein letzter Satz war: ‚Du wirst mir noch einmal dankbar sein.‘ Heute bin ich es. Aber es dauerte lange, bis ich es sein konnte. Erst als ich mich nicht mehr nach Antwerpen sehnte, war ich frei, meine eigene Kunst zu finden und meinen eigenen Stil zu entwickeln.
Verstehst du: Solange du dich nicht von deiner alten Heimat löst, solange du trauerst, dass du die Welt des 20. Jahrhunderts verloren hast, solange wirst du in ihr hängen bleiben. Schneide den Faden ab und finde dich.“
Ich sprang auf. „Und wie soll ich das bitte machen?“
Van Dyck streckte mir wortlos die Hand hin, und als ich sie ergriff, zog er mich mit sich. Er führte mich zu einem Holzgestell, auf dem verschiedene Leinwände lagen. Er wühlte darin, zog einige Holzkisten hervor und brummte dabei vor sich hin. Endlich hatte er, was er suchte.
Er drückte mir einige Bögen Zeichenpapier, eine feine Feder und ein Tintenfass in die Hand: „Schreibe auf, was du erlebst. Und schärfe mit der Feder auch deinen Blick. Hier! Das dürfte für einige Zeit reichen. Wenn ich dir etwas raten darf: Zwei Türen neben meinem Atelier liegt ein kleiner Vorratsraum, in dem Kulissen und Dekorationen unserer höfischen Bühne lagern. Dort kommt nie jemand herein und du kannst in Ruhe über viele Jahre schreiben.“
Er lachte, immer lauter. Dann hob er die Hand zum Gruß und schlurfte zur Tür. Meine Stimme hielt ihn noch einmal zurück: „Sir! Vielen Dank. Ich würde … Euch gerne noch eine kleine Notiz mitgeben. Bitte lest sie erst in einigen Wochen. Und wenn Ihr mir glaubt, dann wisst Ihr, was Ihr zu tun habt.“
Ich riss einen schmalen Streifen Papier ab, schrieb die Zeilen, die mir vor fünf Tagen auf der Fleute das Leben gerettet hatten, und überreichte sie ihm.
Van Dyck grinste schelmisch: „Ganz gleich, wer du bist, ich bedanke mich meinerseits für den unvergleichlichen Abend. Jetzt muss ich aber gehen. Ich möchte mir meine Illusion gerne bewahren. Wer weiß, vielleicht erwische ich ja noch einen Reisevogel, der mich in einer Stunde nach Antwerpen bringt.“
Kichernd zog er die Tür hinter sich zu.
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