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Manchmal standen die Wachen dann nur still in der Ecke des Raumes und beobachteten die Umgebung völlig bewegungslos. Théra verstand das anfangs nicht. Sie taten doch nichts. Dasselbe Verhalten sah Théra bald auch bei den Kellnern und bei vielen anderen im Servicebereich des Hotels. Es gab offenbar geheime Zeichen, dann setzten sie sich plötzlich in Bewegung, brachten einem Gast Essen, Trinken oder eine Serviette. Théra lernte, dass das Leben manchmal nur aus warten, beobachten und einem sehr kontrollierten Handeln bestand. Alles schien in einer seltsamen Art der Ordnung miteinander verwoben zu sein.
Théra bekam zunächst nur ein sehr vages Gefühl für eine Art innere Ordnung, die das Leben bestimmt.
Para hatte ihr das einmal erklärt. Sie saßen in der Holzhütte. Sie beobachteten die Ameisen und Para erklärte Théra, dass auch die Ameisen Gesetze und Regeln haben, die bestimmen, wer als Späher unterwegs war, wer das Futter besorgt und wer als Krieger galt. Théra hatte mit den Ameisen Kontakt aufgenommen und die Ameisen erzählten ihr, dass es da ein System gab, welches das Überleben des Stammes sicherte. Ohne Regeln würden die Ameisen nicht überleben, sagten sie.
Théra war sehr beeindruckt.
Théra verstand langsam immer klarer, dass dies auch bei den Menschen nicht anders war.
Manchmal wurde sie von Para oder Papa mitgenommen zum Fluss. Das Wasser war kalt. Sie badeten. Sie bespritzten sich gegenseitig mit Wasser. Papa legte sie auf seine starken Arme und übte mit ihr schwimmen. Dann schallte ihr glockenhelles Lachen durch das Tal und die Arbeiter, die verstaubt in den Ruinen der alten Stadt standen und nach Schätzen gruben, sahen sich an, und sie lächelten sich gegenseitig zu. Kinder bedeuteten für die Indios Leben. Alle kannten dieses kleine Mädchen, das ihre Mutter Théra genannt hatte, die Tochter der Sonne. Sie war wirklich wie eine kleine Sonne. Théra hatte eine warme Ausstrahlung und sie steckte mit ihrem Lachen alle an.
Théra wurde von Para und Papa ein paar Mal mitgenommen in das Tal des Wasserfalls. Es lag eine Tagesreise entfernt. Es gab dort Wald, Wiesen, einen kleinen Fluß und ein paar Holzhäuser. Théra lernte dort andere Kinder kennen. Viel größere. Sie machte die Bekanntschaft von Hühnern, Gänsen, Ziegen, Lamas und Maultieren. Sie lernte, dass es auch in diesem Tal eine Ordnung gab, die alles zusammenzuhalten schien. Jeder hatte seine Aufgabe und Théra lernte sehr schnell, dass es unter den Hühnern, den Gänsen oder den Maultieren auch eine Ordnung gab. Es gab bei den Tieren Anführer und es gab Regeln. Théra schloss sich mit den Tieren kurz. Sie hörte ihnen zu, sie stellte Fragen und sie beobachtete.
Jetzt begann sie Papa und Para wirklich zu verstehen.
Es gab überall eine Ordnung und das war wichtig, um das Zusammenleben friedlich zu gestalten. Papa hatte zwei Lieblings-Lamas, die bei den anderen Lamas unangefochten als die Leittiere der Gruppe galten. Sie sah bei den Tieren aber auch, dass es dort manchmal Rangstreitigkeiten gab.
Bei den Maultieren bekam sie einmal eine Beisserei mit. Sie lernte, dass die Tiere um die Machtposition in der Gruppe kämpfen, um den Weibchen zu gefallen.
Théra war noch kein Jahr alt, aber die Fürsorge von Para und Papa, ihre Fähigkeit, mit den Tieren zu sprechen, ihre Beobachtungsgabe, ihre Unbekümmertheit und ihr wacher Geist zeigten ihr all das immer klarer auf. Sie lernte, die Welt mit ihrer kindlichen Auffassungsgabe und der Kraft des Tunnels zu begreifen.
Überall wo sie war, wurde sie mit Freundlichkeit aufgenommen, von den Menschen und auch von den Tieren. Das prägte Théras Verhalten.
5.
Unten am Fluß gab es eine Siedlung aus Holzhäusern. Dort wohnten viele Menschen. Es waren Indios, wie sie selbst. Alle diese Indios arbeiteten in der Ausgrabung, die Mama befehligte. Es gab dort aber auch einen Laden. Para, Papa und Mama gingen manchmal mit ihr dahin. In dem Laden gab es alles zu kaufen. Es waren immer irgendwelche Käufer da. Manche brauchten Zucker, andere Getränke, ein Sägeblatt, eine Sense oder ein Brot. Andere wiederum kauften sich Kleidung, Schuhe oder einen Hut. Hier erhielt Théra ihre erste indianische Kleidung. Ein Hemd aus Leinen, Sandalen, und einen Poncho, den sie überziehen konnte, wenn es regnete.
Sie erhielt auch ein Kopftuch und einen Hut. Mama hatte ihr erklärt, sie sei eine Quechua. Darauf müsse sie stolz sein. Ein Quechua Mädchen müsse indianische Kleidung tragen.
Viele der Indios hatten Instrumente. Panflöten, Rasseln, Trommeln, Gitarren und verschiedene andere Zupf-, Streich-, und Blasinstrumente. Abends wurde viel musiziert. Die Indios sangen und tanzten, und oft saßen sie zusammen und lernten miteinander.
Für Théra war das wunderbar. Mama sang oft mit. Jeder, der ein Instrument spielen konnte oder singen konnte, der durfte mitmachen, egal wie falsch das klang. Auch Théra mischte sich mit ihrer kindlichen Stimme ein. Anfangs sehr schüchtern und leise. Später trällerte und sang sie, wobei sie bald darauf achtete den Takt und die Töne zu treffen. Mama machte ihr das vor. Théra sang Mama einfach nach.
Es gab hier einen Imbiss mit einem großen Hof, in dem viele Tische und Bänke standen. Einfach und roh zusammengezimmert. Mama, Papa und Para aßen oft dort. Sie ließen Théra kosten. Es schmeckte ganz anders als im Hotel. Théra lernte den Unterschied zwischen indianischem Essen und der gehobenen Küche kennen, die im Hotel gepflegt wurde. Sie konnte nicht sagen, was besser war. Beides war gut, aber beides war anders. Sie sah auch immer wieder Gäste, die sie schon aus dem Hotel kannte. Sie liebten diese Zusammentreffen der Indios genauso wie Théra.
Nun vielleicht nicht genauso. Für die Fremden war das exotisch. Es war Urlaub. Für Théra war das ihre Kultur, ihre Lebensart. Die Menschen lebten auch in Holzhäusern, so wie sie und Mama. Sie sprachen eine eigene Sprache, die Sprache der Quechua und der Aymara Indianer. Die Fremden sprachen mexikanisch, amerikanisch, deutsch oder etwas anderes. Sie verstanden vieles nicht.
Théra hatte das indianisch und das spanisch von Anfang an gehört. Beides wurde „Zuhause“ gesprochen. Außerdem kannte sie von Dennis und Para diese Tiersprache, und sie lernte auch diese universelle Sprache zu verstehen und zu sprechen, die Papa und Para manchmal benutzten.
Außerdem sprachen Para und Papa manchmal in einem indianischen Dialekt, den Mama nicht verstand. Später sollte sie verstehen, dass dies die Sprache der Théluan und der Peruan gewesen war. Auch diese Laute verstand Théra seltsamerweise.
Obwohl diese kleine Siedlung rund um die Ausgrabung weit abgeschieden war, wuchs Théra gleichzeitig mit mehreren Sprachen auf und sie konnte diese Sprachen bald unterscheiden und lernte sie alle zu sprechen.
6.
Als die Sporthalle und die Eventhalle fertig waren, die dort neben em Hotel gebaut worden waren, diese muschelförmigen Gebäude, die sich bis hinauf in den Himmel hoben, da begann Papa regelmäßig verschiedene Musiker einzuladen. Es entwickelte sich bald ein weiteres Zentrum in dem indianische Musik genauso gepflegt wurde wie klassische Musik.
Théra nahm an diesen Ereignissen von Anfang an Teil. Sie lernte, dass es ganz verschiedene Musikrichtungen gab. Jede hatte irgendetwas besonders schönes. Da gab es einen Klavierspieler. Papa hatte sie in dieses Konzert mitgenommen. Théra hatte mit wachen Augen und Ohren dagesessen, der Mund stand offen. Speichel tropfte aus den Mundwinkeln, so vertieft war Théra in diese Musik. Sie sabberte Dennis das ganze Hemd voll. Später schlief sie in seinen Armen ein.
Manchmal kamen Gruppen, die indianische Musik spielten. Théra kannte das aus der Indiosiedlung, dennoch klang es anders.
Schließlich kamen auch Conny, Armando und Fatima. Natürlich kannte sie diese Namen nicht. Aber Mama und Papa nahmen sie mit. So etwas hatte Théra noch nie gehört. Die Musik blieb in ihrem Kopf. Noch lange nachdem die Musiker aufgehört hatten zu spielen.
Théra hatte auf Papas Schoß gesessen. Sie hatte die Ärmchen zu der Musik gestreckt. Manchmal bewegte sie die Ärmchen im Takt der Musik und wiegte mit dem Kopf. Sie hatte fieberheisse Wangen und ihr Atem ging schwer und stoßweise. In dieser Nacht prägte Théra ein eigenes Wort für Musik. Es klang wie eine Mischung aus Geige, Panflöte und dem Gesang Fatimas. In den Folgetagen sang sie immer wieder diese Art der Musik. Manchmal saß sie bei Papa oder Para auf dem Schoß, manchmal bei Mama. Théra sang und sang und sang.
Sie sang auch ihren Hunden vor, die dann anfingen zu kläffen und zu heulen, und der Gesang wurde dreistimmig, Théra und ihre zwei Hunde. Manchmal klang das schaurig, manchmal melodisch. Théra und ihre zwei Hunde hatten einen eigenen Gesang gefunden.
7.
Im Herbst war Papa dann fortgegangen. Mama, Para und einige Menschen im Hotel, die wirklich wichtig für Théra waren, blieben. Papa kam erst im nächsten Frühjahr wieder.
Théra lernte ihren ersten Winter kennen.
Sie spürte, wie es kalt wurde. Sie lernte, wie der Atem vor dem Mund „rauchte“, sie bekam warme Kleidung. Sie spürte die Kälte an ihren Händen, in ihren Lungen und an den Wangen. Sie lernte den ersten Schnee kennen. Diese wunderbaren weissen Flocken, die vom Himmel tanzten, manchmal so dicht, dass man durch dieses Treiben nicht mehr hindurchsehen konnte.
Sie sah, wie der Schnee liegenblieb, sie spürte, wie schwer es war, mit ihren kurzen Beinen gegen diese weisse Masse anzukämpfen. Sie erlebte, wie der Wasserfall im Tal zu einer einzigen großen Wassersäule gefror. Para hatte sie mitgenommen. Sie lebten ein paar Tage bei den Indios in der Hütte, die warm war von der Glut des Feuers. Sie erlebte, wie sich die Hunde vor das Feuer legten und mit ihr im Schnee balgten. Sie spürte den kalten Luftstrom, wenn sich die Tür öffnete und sie merkte, wie wichtig es war, dass sie draussen eine Mütze aufsetzte. Im Stall, bei den Hühnern, den Schweinen, den Gänsen und Ziegen war es immer warm. Manchmal warf sie sich quiekend ins Stroh.
Sie sah, wie die Lamas und die Maultiere mit den Hufen im Schnee scharren, um etwas essbares zu finden. Sie lernte, die Tiere mit Heu zu füttern, und sah wie ihre Schnauzen in der Kälte dampften. Manchmal setzte Para sie auf eines der Maultiere. Dann spürte sie die Wärme unter diesem dichten Fell. Sie legte sich hin und nahm die Wärme in sich auf. Ihre kleinen Hände griffen in den Winterpelz und hielten sich fest.
Para zeigte ihr, dass man auf Maultieren reiten kann. Das war wunderbar. Ein paar mal machten sie Ausflüge hinauf auf die Hochebene. Hier war der Schnee sehr tief. An Weihnachten ging der Schnee den Maultieren bereits bis zum Hals. Die Hunde waren schon lange vorher umgekehrt. Später konnte man gar nicht mehr hinauf.
Sie sah auch, wie sich Para ein paar Mal in einen Adler verwandelte und in die Lüfte hinaufstieg. Das war etwas ganz Neues für Théra. Sie sah zu und staunte.
Sie war noch viel zu klein, um solche Fähigkeiten zu entwickeln, aber sie beobachtete und lernte.
In diesem Winter sah Théra zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum. Es gab hier in Peru keine Tannen. Bübchen hatte irgendeinen jungen Baum abholzen lassen. Er hatte sich aus Deutschland bunte Kugeln und Kerzen schicken lassen.
Der Baum stand in der Hotelhalle und Théra erlebte, wie unter den Arbeitern, den Wachleuten und den wenigen Gästen, die es im Winter hier gab, Geschenke getauscht wurden. Es wurde gesungen. Diese Klänge waren für Théra neu.
Bald wurden die Gesänge abgelöst durch die typischen indianischen Gesänge und Instrumente. Es wurde ein lustiges Fest und Théra träumte in den nächsten Tagen viel davon.
Im Winter lernte Théra auch erstmals die Schule der Indios kennen. Sie kannte das alles nicht, und sie verstand nicht genau, was die Erwachsenen da machten, aber sie sah, wie wichtig das für die Indios und die Wachleute war, was sie da machten. Einige Hotelgäste mischten sich dazu. Sie staunten über diese Schule, und sie ließen sich von der gutgelaunten Schar anstecken, und stellten ihr Wissen bereitwillig zur Verfügung. Es war im Hotel ganz anders als im Sommer.
Théra mit ihren 12 Monaten begriff instinktiv, dass das alles anders war, aber sie konnte das nur gefühlsmäßig begreifen. Es wurde mehr gelacht. Die Menschen genossen die Wärme der Öfen im Hotel, und die Kälte des Schnees ließ sie enger zusammenrücken. Es gab wunderbar duftende Kuchen und gefüllte Gänsebraten. Es wurde viel musiziert und Théra nahm all das tief in sich auf.
Auch von ihrer Mutter hatte sie in diesem Winter viel. Nicht nur, weil Alanque mehr Zeit für Théra hatte, als im Sommer. Théra bekam viel mehr von ihrer Mutter mit. Was mit sechs Monaten eher wie ein diffuses Erleben für sie war, das nahm sie jetzt alles mit wachen Augen auf. Sie stolperte überall mit ihren kurzen Beinen herum. Sie hatte im Laufen inzwischen viel mehr Sicherheit bekommen und sie genoß diese neue Freiheit. Sie hatte richtige Zähne bekommen, das Essen wurde nicht mehr wie früher nur gelutscht oder zwischen den Zähnchen hin und hergeschoben, sondern richtig gekaut. Alles war anders.
Théra lernte den Winter zu lieben.
8.
Als der Schnee taute und der Frühling Gras, Blumen und Blätter herbeizauberte, erlebte Théra schon wieder eine neue Welt. Ihre beiden Hunde wurden regelrecht übermütig. Sie tollten draussen herum und sie kläfften die Blumen, die Wolken und die Sonne fröhlich an.
Sie konnte die warme Kleidung endlich ablegen und tankte die ersten Sonnenstrahlen. Sie begann zu verstehen, was ihr Para über die Kraft und die Güte der Sonne erzählte.
Dann kam Papa wieder.
In ihrem zweiten Lebensjahr erlebte Théra alles viel intensiver und viel bewusster. Sie konnte jetzt selbstständig überall herumstapfen – auch wenn sie mit ihren eigenen Beinen noch keine großen Entfernungen überwinden konnte. Ihre Laute wurden immer klarer. Sie kannte längst solche Worte wie Papa, Mama, Para, Hund und Haus und sie kannte die Namen der Tiere und sie erweiterte ihren Wortschatz immer mehr.
Sie hatte genau aufgepasst, wenn sich Para manchmal in einen Hund verwandelte. Sie begann, sich selbst manchmal in einen Hund zu verwandeln, und sie lernte, dass ein Hund mit anderthalb Jahren eine gewaltige Ausdauer hat. Sie musste aber auch lernen, dass Papa und Para ihr verboten, sich überall und in jedes Tier zu verwandeln. Sie lernte, was ein Geheimnis ist.
Auch das war zunächst ein sehr diffuses Wissen, doch Para und Papa erklärten ihr das immer wieder und immer wieder, bis sie begriff, dass es gefährlich war, sich in manche Tiere zu verwandeln. Sie lernte, dass es in ihrer Familie Fähigkeiten gab, die man fremden Menschen nicht offen zeigen durfte.
Das war ein harter Lernschritt und er formte das Bewusstsein der kleinen Théra. Sie merkte, dass sie anders war, als andere Menschen. Nicht wie Para oder Papa, aber anders als alle anderen und sogar anders als Mama. Sie lernte auch, dass es einige Menschen gab, denen sie ihre Fähigkeiten zeigen durfte. Dazu gehörten Onkel Bübchen, Tante Apanache, der Koch Moses und der „kleine Spanier“, aber nur, wenn sonst niemand in der Nähe war. Anderen durfte sie das nicht zeigen, dass sie gerade lernte, die Gestalt von Tieren anzunehmen und sich nach Belieben wieder zurückzuverwandeln konnte in ein kleines Mädchen.
Papa und Para verboten ihr strikt, sich in eine Spinne, eine Fliege oder eine Maus zu verwandeln. Das Leben dieser Tiere ist gefährlich, erklärten sie. Wie leicht konnte Théra zur Beute werden. Sie begriff, dass sie verletzt oder getötet werden konnte, wenn sie das Falsche tut.
Para und Papa waren in diesem Punkt wirklich energisch. Sie zeigten ihr, wie Fliegen von Vögeln gefressen werden, wie sie sich in Spinnennetzen verfangen, oder wie Mäuse von den Hunden gejagt, gefangen und aufgefressen werden. Das ist der Lauf der Dinge, hatten sie Théra erklärt. Das ist die Natur. Setze dich nicht unnötig einer solchen Situation aus, die dein Leben in Gefahr bringt.
Auch das war ein schmerzhafter Prozess. Théra begann die Tiere mit anderen Augen zu sehen, und sie verstand bald, was sie als Baby bei den Tieren nur als eine Art immerwährenden Zyklus des Lebens sehr diffus beobachtet hatte.
Théra war schließlich mit anderthalb Jahren ihren Altersgenossen weit vorraus, aber sie war - natürlich - immer noch ein sehr kleines Mädchen.
9.
In diesem Sommer erzählten Para und Papa viel von der alten Stadt, die dort ausgegraben wurde. Sie erzählten von einer längst vergangenen Kultur, von der Sonnenkönnigin und von Kriegern der Théluan.
Sie nahmen Théra überall hin, sie verstand (wenn auch zunächst noch sehr verschwommen), dass diese Ruinen einmal eine richtige Stadt gewesen waren mit vielen Häusern und Bewohnern. So richtig konnte sie sich das noch nicht vorstellen, aber sie sah natürlich diese vielen Hütten der Arbeiter, und das war für Théra zunächst eine Stadt.
Théra ahnte, dass etwas zwischen dieser Stadt und ihren Bewohnern besonders war. Etwas, das sie mit diesen Bewohnern verband. Vielleicht war es diese besondere Hochachtung, die Para und ihr Vater bei diesen Indios genossen, die dort in der Erde wühlten und die gegenüber in ihrer eigenen Stadt wohnten.
Sie sah, wie ganze Karawanen von Lamas und Maultieren mit Körben voller Erde und Schutt beladen, und weggebracht wurden. Ein immerwährender Strom von Tieren.
Unten am Fuß des Berges wurden diese Körbe auf Lastwagen umgeladen und weggebracht. Sie sah, dass hier etwas wichtiges passierte, aber sie verstand die Bedeutung noch nicht. Ihre Mutter war immer mittendrin in all diesem Gewimmel. Sie dirigierte, sie leitete an, sie gab Befehle. Es gab Besprechungen, an denen Théra manchmal teilnehmen durfte, bis es ihr zu langweilig wurde. Sie durfte auch Scherben, Steine, Goldstücke und andere Funde in die Hand nehmen. Papa und Para erzählten ihr dann geduldig von diesen Dingen.
Papa und Para nahmen Théra oft mit in ihr Tal des Wasserfalls. Das Tal wurde Théra bald zu ihrer zweiten Heimat. Ein Teich war angelegt worden. Sie konnte mit den Maultieren, den Gänsen und den Schweinen viel besser reden als ein Jahr zuvor. Théra nahm alles viel bewusster auf. Sie lernte auch mit den anderen Kindern zu spielen, auch wenn es so war, dass die Kinder der Indiofmilie mehr auf Théra aufpassten, als wirklich mit ihr zu spielen. Der Altersunterschied war einfach zu groß.
Im Tal des Wasserfalls gab es Füchse, Eulen und es gab noch viele andere Wildtiere. Para zeigte ihr die Rehe und die Wildschweine, die Eichhörnchen, die Wiesel, die Raben, die Kaninchen und die Luchse.
Manchmal nahm Para sie mit auf die Hochebene. Dort lernte Théra eine ganz andere Welt kennen. Eine Welt aus Gras und Gestrüpp, eine Welt mit klaren und kalten Seen. Eine Welt, in der es Adler, Riesengürteltiere und Pumas gab. Es gab hier wilde Hunde. Füchse und Mäuse gab es überall. Manchmal rief Théra die Mäuse und ließ sich von ihrer Welt auf der Hochebene erzählen.
Als es dann Winter wurde, ging Papa wieder fort. Alle andern blieben. Théra erlebte ihren zweiten Winter, ihr zweites Weihnachten und sie merkte bald, dass ihre Mutter einen dicken Bauch bekam. Es war Para, der ihr erklärte, dass in diesem Bauch ein kleines Mädchen wuchs. Théra würde im Sommer eine kleine Schwester bekommen.
Mama ließ sie den Bauch befühlen. Théra konzentrierte sich ganz stark, und sie konnte bald den Herzschlag dieses kleinen Wesens spüren, das hier wuchs. Es gab zwei Herzschläge. Den von Mama und den von ihrer kleinen Schwester. Théra konnte das bald deutlich voneinander unterscheiden.
Dann schmolz der Schnee. Das erste Grün zeigte sich, die Hunde tollten wieder draussen herum und bellten vor Freude die Blumen und die Sonne an.
Papa kam wieder.
Théra hatte ihn lange vermisst. Sie lag an diesem abend lange in Papas Armen, und sie erzählte Dennis von ihren Erlebnissen im Winter und von all diesen Tieren, die Para ihr gezeigt hatte. Ihre menschlichen Worte waren einfach, aber sie hatte ja ihren Strom von Energiewellen, die Papa viel besser erzählten, was sie alles erlebt hatte, als sie das mit ihren wenigen menschlichen Worten beschreiben konnte. Später lag sie mit Papa und Mama in dem großen Bett. Sie spürte die Wärme und die Liebe von Papa und Mama und sie war glücklich.
10.
In diesem Jahr sah Théra, wie die Stadt langsam wuchs. Überall um das Hotel herum entstanden neue Gebäude. Die Siedlung der Arbeiter wurde zu einem Teil durch feste Bauten ersetzt. Viele neue Arbeiter zogen zu. Es waren vorwiegend Aymara und Quechua Indianer, so wie sie.
Papa ließ ein Appartementhaus errichten, in dem die Angestellten des Hotels kleine und saubere Einzimmerappartements bezogen.
Nur ihr eigenes Holzhaus - in dem sie mit Mama und Papa lebte - blieb unverändert. Sie liebte dieses Haus.
Sie hatte schon mehrere Unwetter in diesem Holzhaus erlebt. Sturm und Regen. Das Haus lebte wirklich. Es knackte und knarrte. Die Balken bogen sich manchmal ein wenig unter der Last des Sturms. Sie sah, wie Spinnen, Käfer, Wespen und Mäuse Zuflucht suchten, wenn sich das Wetter änderte. Sie sah auch, wie ihre Hunde manchmal die Nasen schnüffelnd in die Luft hoben, und die Luft prüfend durch die dicken Nasen einsogen. Sie lernte, selbst auf solche Wetterveränderungen zu achten, und begann sie zu spüren, längst bevor solche Ereignisse eintrafen.
Im Winter lebte sie mit Mama und Para im Hotel. Das bot mehr Sicherheit und es war warm.
In diesem Winter hatte ihr Para etwas gezeigt. Er war mehrfach mit ihr ins Tal des Wasserfalls gezogen. Einmal ritt sie auf einem Maultier. Ein anderes Mal verwandelten sich Para und Théra in große Hunde und liefen zusammen neben den Maultieren her. Ein drittes Mal verwandelte sie sich zusammen mit Para in ein Lama. Das war ja ein leichtes Laufen. Im Tal lag Schnee. Während Suse bis zum Bauch im Schnee versank, lief sie mit Para fast mühelos durch den Schnee. Es machte den Lamas gar nichts aus.
Para hatte in der Hütte der Aymara warme Kleidung für sich und Théra deponiert. Es war schon lästig, dass Théra sich für solche Verwandlungen immer erst nackt ausziehen musste. Lamas oder Hunde tragen nun mal keine Menschenkleidung. Sie hatte jetzt begriffen, dass diese Verwandlungen ein Geheimnis waren. Die Aymara im Tal wussten allerdings davon. Para hatte sie verpflichtet, nie etwas darüber zu sagen.
Im Tal saßen sie mit den Kindern der Aymara Familie in der warmen Stube, Para lernte mit den Kindern und den Eltern schreiben, lesen und rechnen. Er erzählte indianische Märchen. Théra nahm all das in sich auf. Schreiben und lesen war noch sehr fremd. Sie konnte das nicht, aber sie hörte genau zu. Es gab bald einzelne Worte, die sie grob entziffern konnte.
Sie sahen nach den Hühnern und Gänsen. Théra liebte all diese Tiere. Sie waren für sie wie Brüder und Schwestern.
Dann kam der Tag, wo Théra von Para in ein leeres Hotelzimmer mitgenommen wurde. Er fasste sie an den Händen und bat sie, die Kleidung anzubehalten und zu versuchen zu erraten, was er gerade denkt. Théra konnte das nicht. Sie sah Para an, runzelte die Stirn, und sie versuchte es noch einmal und noch einmal. Dann hatte sie eine diffuse Ahnung von Fliegen und stand plötzlich in Papas Holzhütte im Tal des Wasserfalls. Para nahm sie mit hinaus in die Schneelandschaft. Théra staunte. Sie sah Para lange an und bat ihn, sie hochzunehmen, so dass sie in seinen Armen lag. Para setzte sie auf die Hüfte und Théra schlang ihre kleinen Arme um Paras Hals.