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Es war das erste Mal, dass sie diesen Sprung machte. Diese Überwindung von Raum. Sie hatte gespürt, wie sie durch eine Art Tunnel flog. Warm und dunkel. Später sprang Para mit Théra zurück. Diesmal landeten sie in dem winterleeren und unbeheizten Holzhaus von Papa und Mama. Para hatte ihr erklärt, dass auch Papa solche Fähigheiten hat, und dass Théra mit niemandem darüber reden dürfe, auch nicht mit der Familie in ihrem Tal des Wasserfalls. „Das ist ein Geheimnis unserer Familie“, hatte Para gewarnt.
Er war mit Théra hinüber ins Hotel gegangen. An diesem Abend lag Para lange neben ihr im Bett, und erzählte von den Königen der Théluan Krieger, vom Urwald und von seiner eigenen Familie, seiner Mutter und seinen beiden Schwestern. Langsam begriff Théra, dass Para nicht ihr Onkel war, sondern ihr Bruder. Dass Papa auch der Papa von Para war, und dass Para aus der Vergangenheit gekommen war, um sie, Théra, zu beschützen. Théra lag mit roten Wangen neben Para. Manchmal richtete sie sich auf. Manchmal legte sie sich auf Paras Brust und hielt ihn mit ihren Ärmchen fest.
Sie verstand sehr diffus, dass ihre Familie eine lange und fast königliche Tradition hatte, die Théra mit der Vergangenheit verband, aus der Para gekommen war, um sie zu beschützen.
Inzwischen war es wieder Sommer geworden. Papa war längst wieder da. Théra hatte viele Fragen. Papa nahm sie jetzt oft in die Ausgrabung mit und erzählte Théra von diesem geheimnisvollen Volk, das einmal hier gelebt hatte und das Théras Familie war. Théra nahm das auf mit ihren zweieinhalb Jahren und sie bat Papa manchmal, mit ihr ins Tal des Wasserfalls zu springen.
Sie sah, dass Papa das genauso gut konnte wie ihr Bruder Para. Es machte sie glücklich.
Mamas Bauch wurde in dieser Zeit immer dicker. Théra fühlte das Leben in diesem Bauch. Sie nahm Kontakt auf zu diesem Wesen, das dort wohnte und sie merkte, wie dieses Wesen, das einmal ihre Schwester werden sollte, manchmal die kleinen Händchen von innen fest gegen die Bauchdecke drückte, um Théras Hände zu fühlen.
Längst bevor ihre Schwester geboren war, bestand eine Art der Kommunikation zwischen den beiden Schwestern. Sie waren miteinander verbunden durch ein Band aus Energie.
Als Théras Schwester im Sommer geboren wurde, staunte Théra, wie klein dieses Wesen war. Es konnte nicht mit Worten sprechen wie sie, aber sie fühlte, wie sich ihre kleine Schwester mit ihr durch Energieströme verständigte.
Die kleine Schwester wurde Clara genannt.
Théra sah zu, wie Clara an der Brust von Mama trank. Jetzt wurde ihr bewusst, wozu diese Brust gut war. Sie durfte manchmal daran nippen. Es schmeckte süss, und sie begriff, dass auch sie, Théra, lange von dieser Brust genährt worden war. Jetzt war sie schon groß und jetzt lernte sie von Papa und Para ganz andere Dinge.
11.
Im Sommer kamen viele Indios in die neu gebaute Siedlung. Männer, Frauen und Kinder.
Immer wieder durfte Théra mit Papa, mit Para oder mit einem ihrer Freunde aus dem Hotel dorthin gehen. Sie lernte jetzt viele neue Kinder kennen. Kleine und große.
Dann gab es ein einschneidendes Erlebnis. Eines der Kinder war krank geworden. Papa hatte Para hingeschickt, und Para hatte Théra mitgenommen.
Das Mädchen lag mit hohem Fieber im Bett. Der Arzt, der manchmal kam, um nach dem Kind zu sehen, wusste keinen Rat mehr.
Para hatte sich zu dem Kind gelegt und bat auch Théra, sich dazuzulegen. Was dann kam, war wie ein Traum. Para entführte sie in eine neue Welt. Es war, als wenn Théra sich in ihre Atome auflöste. Sie spürte, wie sie zusammen mit Para in den Körper dieses kranken Kindes kroch. Sie flogen durch die Blutbahnen. Sie besuchten das Herz, die Leber und den Darm dieses Kindes. Sie besuchten die Nervenzellen und das Gehirn. Para nahm sie an der Hand und begann mit Théra zusammen kranke Zellen aufzuspüren. Para zeigte ihr, was gesunde und kranke Zellen sind. Er kroch in die Zellen des Mädchens, er rief gesunde Zellen zu Hilfe, und bildete Gürtel aus Abwehrzellen um die kranken Zellen, bis sie abstarben. Es gab viele davon.
Théra hatte keine Ahnung, wie lange das dauerte. Para war stets bei ihr, und er führte sie durch den Körper des Mädchens. Später sollte sie erfahren, dass sie drei Tage und drei Nächte neben dem kranken Mädchen gelegen hatten. Ein Netz aus Blitzen hatte sie umgeben. Die Mutter und der Vater des Mädchens hatten still im Raum gesessen und gewartet. Sie hielten sich gegenseitig fest. Sie hatten geweint und gebetet. Manchmal waren sie vor Erschöpfung eingeschlafen.
Dann waren Para und Théra aus den Blutbahnen, den Nervenzellen und dem Körper des Mädchens wieder ausgezogen. Sie wachte auf, sie sah, dass Para nach Wasser verlangte, nach rohem Fisch und nach Früchten. Er hatte dem Mädchen zu trinken gegeben, und er hatte darum gebeten, dem Mädchen nun alle zwei Stunden etwas Wasser, Obst und Fisch zu geben. Sie müsse jetzt viel schlafen. Die Familie dürfe auch nicht darüber reden, was in den letzten Tagen geschehen sei.
Dann hatte Para nach Dennis gerufen. Er wankte mit Théra zurück in ihr Holzhaus. Er war zu schwach, um gerade zu laufen oder gar zu springen. Dort legte er sich mit Théra ins Bett, und schlief mit Théra drei Tage durch. Théra fühlte sich regelrecht ausgelaugt. Manchmal wurde sie ein wenig wach, mehr wie ein Dämmerzustand, Papa war immer da. Er versorgte sie mit Wasser und mit Obst und rohem Fisch. Das hatte sie vorher noch nie gegessen. Es war schwer zu kauen und es schmeckte eigenartig. Dann war sie jedes Mal wieder eingeschlafen. Sie war völlig kraftlos.
Nach drei Tagen wachte sie auf. Para nahm sie mit zum Fluss, und badete mit ihr in diesem kalten und klaren Wasser. Théra spürte, wie das Wasser ihre Müdigkeit wegwusch. Es war wie eine Reinigung an Körper und Geist. Dann waren sie zurückgegangen, hatten noch zwei Tage geschlafen und standen dann auf. Théra fühlte sich wieder fit und voller Kraft.
Diesmal gingen Papa, Para und Théra gemeinsam zu dem kleinen Indiomädchen. Ein Wunder war geschehen. Sie hüpfte und lachte wieder. Es war, als wäre sie nie krank gewesen. Die Eltern warfen sich vor Dankbarkeit vor Para und Théra auf die Knie, aber Para hob sie auf und umarmte sie. Sie aßen gemeinsam, erzählten und sangen zusammen. Para bat die Eltern, niemandem davon zu erzählen.
Dennoch waberte dieses Ereignis wie ein Gerücht durch die Indiosiedlung. Man sprach nur hinter vorgehaltener Hand und Théra erlebte, wie die Indios ihr plötzlich hochachtungsvoll, ja voller Verehrung gegenübertraten.
In den nächsten Tagen und Wochen wollte Théra von Papa und Para viel über dieses Ereignis hören, an dem sie teilgenommen hatte, was sie mit ihren zweieinhalb Jahren aber noch nicht völlig verstand.
12.
Es gab noch ein anderes Ereignis, das für Thera in diesem Sommer bedeutend war. Sie stapfte manchmal alleine in Begleitung ihrer beiden Hunde durch die Ansiedlung. Manchmal besuchte sie auch ihre Mutter in der Ausgrabung. Das war ein sehr weiter Weg für ihre kurzen Beine, den sie nur bewältigen konnte, weil sie immer wieder ein Stück des Weges durch den Raum sprang.
Ihre kleine Schwester war inzwischen geboren worden, Mama ging wieder zu ihrer Arbeit in der Ausgrabung und Clara wurde stets mitgenommen.
Es gab rings um die Ausgrabung immer irgendwelche schwer bewaffneten Soldaten, welche genau kontrollierten, wer in die Ausgrabung durfte und wer nicht.
An diesem Tag waren einige neue Soldaten gekommen. Sie hatten Ausweise kontrolliert, aber sie kannten die Gesichter der Arbeiter noch nicht.
Als Théra mit ihren beiden Hunden angestapft kam, hatte sich ihr einer der neuen Soldaten in den Weg gestellt. Sie war gekleidet wie in Indiomädchen. Er hielt sie für die Tochter eines der Arbeiter. Sie hatte hier nichts zu suchen.
Es war an diesem Tag sehr heiß. Er hatte nichts mehr zu rauchen und er war schlecht gelaunt. Er hatte vor zwei Tagen erfahren, dass seine Frau ihn betrog und er durfte diese Ausgrabung nicht verlassen. Alles war Scheiße.
Als dann dieses Mädchen mit den Hunden vor ihm auftauchte, hatte er grob geantwortet, sie solle bloss abhauen und er hatte die Hand erhoben, um diese Gör wegzustoßen.
Mit der Reaktion des großen Hundes hatte er nicht gerechnet. Er sah trottelig aus, dieser große graue Hund. Er bewegte sich wie in Zeitlupe. Ein Drecksköter.
Als der Soldat die Hand hob, sprang der Hund dem Soldaten aus dem Stand direkt an die Kehle. Es war ein gewaltiger Satz. Das war so blitzschnell geschehen, dass keiner der anderen Soldaten eingreifen konnte.
Der Soldat wurde auf den Rücken geworfen, der Hund stand über ihm. Er spürte diesen heissen Atem und das fauchende Knurren. Jetzt bloss keine falsche Bewegung machen, dachte sich der Soldat. Er hörte, wie um ihn herum die Maschinenpistolen entsichert wurden. Er kannte dieses metallische Klick.
Dann rief dieses Mädchen mit einer hellen und klaren Stimme den Hund zurück. Der Soldat sprang auf, er griff nach seiner MP. Er würde diesen Drecksköter erschießen. Er kam nicht dazu. Einer der Soldaten griff ihm in dem Arm, so dass sich die Ladung Kugeln in den Himmel ergoss. „Bist du wahnsinnig“, wurde er angefahren. Das ist die Tochter von Alanque, der Leiterin der Ausgrabung.“
An diesem Tag ging Dennis zu dem Mann und hatte ein langes Gespräch mit ihm. Irgendwann hatte er genickt. „Geh für ein paar Wochen zurück zu deiner Frau. Sorge dafür, dass deine Ehe gerettet wird. Wenn du deine Frau mit hierher bringen willst, so werde ich mit eurem Oberstleutnant reden. Ich werde dafür sorgen, dass ihr irgendwo im Tal eine kleine Hütte bekommt. Villeicht solltest du mit deiner Frau ein Kind machen. Das wirkt manchmal wie ein Wunder.“
Dennis hielt sein Versprechen. Der Soldat wurde verwarnt, er wurde nicht degradiert, er hatte drei anstrengende Wochen, in denen er nach Hause gefahren war, mit seiner Frau sprach, weinte, schimpfte und ihr Geschenke machte. Dann hatte er mit Dennis telefoniert, und durfte mit seiner Frau zusammen eine der Holzhütten beziehen. Es dauerte tatsächlich nicht lange, da wurde seine Frau schwanger.
Dennis ging zu ihm und er nahm Théra und ihre Hunde mit. „Nicht der Hund“, hatte der Soldat gesagt und gemeint, er solle draussen vor der Hütte bleiben.
Dennis hatte den Kopf geschüttelt. „Théra und ihr Hund sind unzertrennlich. Er wird dir nichts tun, wenn du friedlich bist.“
Tatsächlich hatte sich der Hund still und wachsam hinter die Tür gelegt. Er beobachtete den Soldaten und Théra, und als er sicher war, dass nichts böses passieren würde, stand er auf, stellte sich neben den Soldaten, und legte sich dort schließlich mit einem Schnaufer auf den Boden. Théra hatte die Frau angesehen. Sie kletterte ihr auf den Schoss und legte ihr die Hände auf den Bauch. „Du bekommst ein Kind“, hatte sie gesagt. Das war längst bevor die Frau des Soldaten selbst davon wusste. Die Frau hatte unsicher gelacht und Dennis angeschaut. Dennis war zu dem Soldaten gegangen und hatte ihm die Hand geschüttelt.
„Théra weiß stets, was sie sagt“, meinte er. „Ihr werdet erleben, dass Théra eben die Wahrheit gesagt hat. Meinen Segen habt ihr.“
Es wurde an diesem Abend noch mehr gesprochen, aber das vergaß Théra bald.
13.
In diesem Sommer passierten noch einige bedeutende Dinge.
Die Ausgrabung hatte einen riesigen Erfolg. Oben auf dem Berg wurden Dinge gefunden, die viele fremde Menschen ins Tal lockten. Mama hatte viel zu tun.
In dieser Zeit kümmerten sich Para und Papa intensiv um Théra. Manchmal war Papa weg. Er musste ab und zu verreisen. Wohin er dann ging, erzählte er Théra nicht.
Théra sah, wie sich bei der Ausgrabung so etwas wie grosse Gebäude aus der Erde schälten. Viele Mauern und viele Steine. Papa und Para erklärten ihr den Zusammenhang. Jeder mit seinen eigenen Worten. Hier hatte einmal ihre Schwester gelebt, die zur Königin eines großen Reiches geworden war. Lange bevor Théra geboren wurde. Théra begriff, dass sie Teil einer Dynastie mit einer langen Tradition war. Die Kräfte, die sie hatte, sie, Papa und Para, waren ein Teil dieser Geschichte aus Sonnenkönigen.
Théra entwickelte in dieser Zeit viele Fragen.
Mama konnte einige dieser Fragen beantworten. Auf viele Fragen hatte sie keine Antwort. „Dennis und Para wissen darüber viel mehr als ich“, hatte sie Théra gesagt. „Ich grabe diese Dinge nur aus.“
14.
Auch in diesem Winter ging Papa wieder fort. Théra würde bald drei Jahre alt werden. Sie wollte jetzt wissen, warum Papa im Winter fortgeht und sie an ihrem Geburtstag alleine lässt.
Papa war ehrlich. Er erzählte Théra von einer anderen großen Stadt, weit weg. Er erzählte, dass er dort viele Freunde hat. Er erzählte, dass dort viel Musik gemacht wird. Eine ganz andere Musik, wie bei den Quechua, hatte er gesagt. Dann hatte Papa von Conny der Geigerin, von Armando, dem Panflötenspieler und von Fatima, der Sängerin erzählt.
Théra hatte sich erinnert. Das war lange her gewesen, doch dann stieg diese Musik in ihr wieder auf, die sie damals gehört hatte, als Conny, Armando und Fatima das Konzert in „der großen Muschel“ gegeben hatten, dem Konzertsaal des Hotels.
Sie begann plötzlich zu singen, und ihre beiden Hunde stimmten schauerlich schön in den Gesang ein. Papa hatte gelächelt. „Wenn du etwas größer bist, dann nehme ich dich einmal mit nach Berlin. Dann wirst du Conny und Fatima wiedersehen. Du wirst Musik hören, die du noch nie zuvor gehört hast. Ich werde aber erst mit Mama darüber reden. Sie wird traurig sein, wenn du sie im Winter verlässt.“
Dann erzählte Papa von Bübchen, von Moses (dem Koch), von dem kleinen Spanier und anderen Freunden. Sie kommen alle aus Berlin, hatte Papa gesagt. Berlin ist eine sehr große Stadt. Sie ist ganz anders als unsere kleine Stadt hier. Ich werde dich darauf vorbereiten müssen.
Théra hatte ihre Arme um Papa gelegt und war irgendwann eingeschlafen. Sie träumte von einer fernen Stadt und stellte sich vor, dass es dort viele solcher Holzhäuser gab wie die, in der sie mit Papa und Mama lebte.
In diesem Winter wurde Théra drei Jahre alt. Onkel Bübchen besorgte wieder einen Baum mit vielen Lichtern und Kugeln und es gab Geschenke für Théra.
Die beiden schönsten Geschenke waren zwei Bücher. Eines über Tiere und Pflanzen. Es hatte viele Bilder und es gab dort viele Tiere, die Théra noch nie gesehen hatte.
Das andere war ein Bilderbuch über Berlin. Bübchen hatte sich das extra aus Berlin schicken lassen. Papa hatte es für sie ausgesucht. In den Folgetagen mussten Bübchen, Moses und der kleine Spanier immer wieder von Berlin erzählen. Théra lernte, dass auch die Wachleute des Hotels darüber Bescheid wussten, und sie löcherte sie mit vielen Fragen.
Das andere Buch war anders. Über den Winter hatten die Indios ihre Schulungen verstärkt aufgenommen. Die vielen Kinder der neuen Siedlung nahmen jetzt an dieser Schule teil. Théra ging oft mit Para dorthin. Sie nahm das Buch mit. Sie sah sich mit den anderen Kindern die Bilder an, sie lernte viel über Tiere und Pflanzen, und sie lernte die Zeichen für Tiere und Pflanzen kennen.
Die Siedlung der Indios war inzwischen noch einmal gewachsen. Es gab nun ein großes Zentrum, in dem sich die Aymara und Quechua trafen. Es gab dort viele Läden. Das Zentrum war beheizt. Es gab viele Tische und Bänke. Sie waren immer noch roh zusammengezimmert, aber das störte niemanden. Es gab die typischen Gerichte der Indios und es wurde viel gelacht und gesungen. Immer wieder begannen die Indios Geschichten zu erzählen. Vieles über ihre Traditionen war in Vergessenheit geraten. Langsam bildete sich ein ganz neues Bewusstsein über eine sehr alte Kultur.
Théra hätte gern über ihre eigenen Erlebnisse erzählt, von Königinnen und der alten Stadt, aber Para hatte ihr das verboten. „Alles das, was deine Mutter ausgräbt und was sie über unser Volk herausfindet, darüber dürfen wir sprechen. Das andere bleibt unser Geheimnis. Denk immer daran. Wir wissen manches, was andere nicht wissen. Es muss unser Geheimnis bleiben.“ Théra hatte solche Worte von Papa und Para schon oft gehört. Es tat manchmal körperlich weh, nicht über all diese Dinge sprechen zu dürfen. Théra hielt sich aber daran. Sie sprach nur mit Para, Papa und Mama über diese Dinge, die ein Geheimnis ihrer Familie waren.
Ihre kleine Schwester Clara war nun ein halbes Jahr alt. Clara war äußerlich ganz anders als Théra. Théra hatte die dunklen Haare und die warmen braunen Augen ihrer Mutter. Clara hingegen war blond und hatte die leuchtendblauen Augen ihres Vaters. Nur der Körperbau der beiden Kinder war gleich und Théra spürte, dass auch Clara die gleiche Kraft in sich trug wie Papa, Para und wie Théra selbst.
Théra hatte noch etwas bemerkt. Bevor es Weihnachten wurde, war Mama wieder schwanger geworden. Théra hatte in den Bauch von Mama hineingehorcht. „Ich bekomme einen Bruder“, hatte sie mit Bestimmtheit gesagt.
15.
Ohne dass Théra das wusste, hatte sich in diesem Sommer etwas sehr wichtiges ereignet. Sie sah immer wieder, dass Papa mit einem fremden Mann sprach. Er kam ab und zu. Er hatte Wachleute dabei (Théra kannte den Unterschied zwischen Wachleuten und anderen Menschen) und er schien ein sehr wichtiger Mann zu sein.
In diesem Herbst hatten Dennis und der Ministerpräsident lange zusammengesessen. Dennis hatte über die Ausgrabung gesprochen und über die vielen Schichten aus Erde, die über dem ganzen Tal lagen. Erde, die vor vielen Jahrhunderten aus Asche entstanden war, die aus dem fernen Vulkan herabgerieselt war.
Er lag 120 Kilometer entfernt auf der Hochebene. Stets zeigte sich dort eine dünne Rauchsäule. Théra hatte sie schon oft gesehen.
Papa und Para waren - ohne dass Théra das wusste - schon oft in der Gestalt von Adlern dorthin geflogen. Sie hatten den Vulkan umkreist, und sie hatten auf dem Kraterrand gestanden und in den tiefen blauen See hinabgeblickt, in dem immer wieder Gasblasen aufstiegen.
An diesem Tag hatten Papa und der Ministerpräsident beschlossen, dass in dem Vulkan und an einigen Stellen außerhalb des Kraters Mess-Stellen errichtet werden, um die Aktiviät des schlafenden Vulkans ständig zu beobachten.
Der Vulkan ist schon zu lange still gewesen, hatte Dennis gewarnt. Irgendwann wird er wieder ausbrechen. „Wir wissen nicht, wann das geschehen wird. Wir wissen, wie viele Meter Asche damals herabgeregnet sind. Wir wissen inzwischen, wie viele Menschen von dem gewaltigen pyroplastischen Strom verbrannt worden sind. Es waren Zehntausende. Wir sollten gewappnet sein. Vulkane haben stets bestimmte Zyklen. Dieser Vulkan ist seit langem überfällig. Wir wollen unsere wertvolle Ausgrabung nicht noch einmal verlieren. Schließlich wohnen hier inzwischen viele Menschen. Sie und viele Ihrer politischen Freunde haben hier Häuser. Bauen wir ein Frühwarnsystem.“
Der Ministerpräsident hatte genickt. In den nächsten Wochen waren viele Experten befragt worden. Der Ministerpräsident hatte schließlich angeordnet, dass auf dem Berg und auch rundherum Frühwarnstationen errichtet wurden. Es gab dort bald sehr teure Messgeräte, und es gab dort ein festgebautes Haus aus Stein und Holz, in dem sich ständig ein oder zwei Vulkanologen aufhielten. Der Ministerpräsident hatte auch angeordnet, dass dieses Gebiet, das als Naturpark ausgezeichnet war, stets von mehreren Rangern bewacht wurde, die mit allen Indios Kontakt aufnahmen, die dort oben auf der Hochebene wohnten und Lamas züchteten. Straßen gab es hier oben nicht, aber Wildpfade und Trampelpfade der Lamaherden. Die Gefahr, dass Fremde hierauf kamen, war Gott sei Dank gering.
Der Ministerpräsident hatte Dennis später einmal gesagt: „Die Ausgrabung ist derzeit unser wichtigstes aussenpolitisches Aushängeschild. Wir müssen dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Sorgen Sie für die Sicherheit der Besucher in Ihrem Hotel. Ich sorge für die Sicherhheit der Region.“
Dennis hatte in diesem Herbst auch dafür gesorgt, dass dort neben der Solaranlage, die auf der Hochebene errichtet worden war, ein festes Haus gebaut wurde. Hier wurden Planen in ausreichender Zahl glagert, um die Solaranlage notfalls schnell abdecken zu können. Solche Planen gab es auch im Hotel, um die Solaranlage auf den Dächern zu schützen.
Théra hätte mit diesem Wissen damals nichts anfangen können. Sie wusste davon nichts. Später einmal sollte sie erfahren, wie weise die Vorraussicht von Papa und dem Ministerpräsidenten war.
16.
Als der Frühling kam, kam auch Papa wieder.
Théra hatte den Winter über gelernt, Verantwortung für ihre Schwester Clara zu übernehmen. Aber auch, wenn sie die Älteste war, so war sie doch immer noch Papas kleines Mädchen.
Als Dennis dann gekommen war, hatte Théra ihren Papa mit Beschlag belegt. Sie erzählte ihm von ihren Erlebnissen und sie bat auch Papa von seinen Erlebnissen in dieser fernen Stadt zu erzählen. Papa hielt Wort.
Immer wieder, wenn die Zeit dafür gut war, setzte er sich mit Théra zusammen in einen Liegestuhl, oder legte sich mit ihr auf eine Decke vor ihrem Holzhaus und er erzählte. Théra hatte viele Fragen. Sie lernte Berlin von seiner positiven Seite kennen, aber Papa erzählte auch, dass viele seiner Freunde im Verborgenen leben. Sie verstecken sich vor der Polizei, erzählte Papa.
Théra war in einer Welt aus Geborgenheit und Liebe aufgewachsen. Nur einmal hatte sie diesen Zusammenstoß mit dem Soldaten. Jetzt hörte sie Papa mit großen Ohren und Augen zu. Eine solche Welt war neu für sie.
17.
In diesem Sommer passierte noch mehr. Die Siedlung der Indios wurde fertig. Die Stadt entlang des Flusses wuchs und wuchs. Eine Brücke aus Stahlbeton war gebaut worden, welche die alte Holzbrücke ersetzte. Der Staudamm unten im Tal wuchs und wuchs, und schließlich wurde der See geflutet. Über den Staudamm führte eine Straße, die man als Fussgänger und mit Tieren begehen durfte. Man kam über diesen Staudamm viel schneller in die Ausgrabung hinüber.
Im Sommer wurde Théras kleiner Bruder Pesa geboren. Er war dunkelhaarig wie Mama und wie Théra, und auch er hatte diesen braunen warmen Augen seiner Mutter Alanque.
Théra lernte, dass sie Mama entlasten musste. Sie fühlte sich jetzt schon groß. Manchmal fegte sie mit Mama oder Papa das kleine Haus und sie machte Besorgungen. Mama lehrte sie mit Nadel und Faden umzugehen. Bei den Indios in der Siedlung lernte sie wie man aus der Wolle der Alpaccas Fäden sponn, Decken und warme Pullover webte. Sie lernte, manchmal auf Pesa aufzupassen. Mama nahm das Baby aber fast immer zur Arbeit mit.
Ihre Schwester war noch klein. Para kam oft mit in die Siedlung und trug Clara auf dem Arm. Sie wuselte überall unter den Indios umher und lachte sie alle an. Sie hatte inzwischen richtige Goldlocken bekommen und sie hatte dieselben energiegeladenen Hände wie ihre Schwester. In der Ausgrabung war entdeckt worden, dass zwei der Königinnen blondes Haar hatten. Die Indios wussten, dass Para, Dennis und Théra große Kräfte haben. Sie entdeckten, dass auch die kleine Clara sich genauso entwickelte. Sie konnte in die Menschen hineinhorchen. Sie galt den Indios bald als eine Art Wiedergeburt der Sonnengöttin, die dort in dem Sarkophag gefunden worden war. Die Indios glaubten an diese Dinge.
Schließlich hatten Para und Théra schon mehrfach Kinder der Indios auf wunderbare Weise geheilt. Es waren immer Krankheiten, bei denen das Wissen der Ärzte versagte. Immer wurden Para und Théra von einem geheimnisvollen Feuer umgeben, das manchmal statisch war, das sich manchmal aber auch wild bewegte. Manchmal sprühten Funken, manchmal legte sich dieses Feuer wie ein dichter Nebel über den Raum. Tiere, die in der Nähe waren, wurden still und geradezu andächtig. Sie stellten das Fressen ein. Sie legten sich hin, sie beobachteten das Geschehen, sie winselten manchmal leise. Die Indios wussten, dass sie darüber nicht mit den Weißen reden durften. Es blieb ein Geheimnis unter den Indios.