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Dennis winkte ab. „Wenn wir das auf den Markt bringen, dann gibt es einen gewaltigen Run und viele Fragen. So wie damals in den USA in den Zeiten des Goldrauschs. Das will ich nicht. Vielleicht finden wir einen Sammler. Sehr diskret. Vorerst sollte es genügen, die Goldklumpen zu verkaufen. Außerdem gibt es hier noch ein paar schöne Steine. Er zeigte auf die Achate, die Topase und die Smaragde, die er aus den Innentaschen der Weste zog. Auch das sollte etwas bringen.
„Das Gold ist vermutlich um die fünfzigtausend wert“, meinte „der Dicke“, „die Steine… weiß ich nicht. Aber das kann man herausfinden. Wir werden das vorerst als Eigentum der Stiftung deklarieren, weil du offiziell noch tot bist. Dann können wir vorsichtige Recherchen anstellen. Das Gold ist kein Problem. Du kannst es an die Deutsche Gold und Scheideanstalt verkaufen. Die zahlen den Marktpreis. Aber Dennis, alles was du zum Leben brauchst, wird dir die Stiftung geben. Du kennst uns. Freunde helfen Freunden. Ohne zu fragen.“
Dennis nickte dankbar. „Gut. Die Weste, das Schwert und das Messer werden nicht verkauft. Die Diamanten auch nicht. Jetzt noch nicht. Das Gold und die anderen Steine kannst du zu Geld machen. Ich weiß nicht, was passiert. Ich will vorbereitet sein. Außerdem brauche ich eine neue Identität. Einen Pass. Ich lebe hier, also ist ein Pass eines Eurolandes am besten. Französisch, und so was, spreche ich aber nicht. Kommt also wahrscheinlich nur Deutschland in Frage. Vielleicht ist irgendwer gerade verstorben, dessen Identität ich übernehmen kann. Sauber und nach außen hin korrekt. Er muss mir wenigstens entfernt ähnlich sehen. Außerdem gibt es da noch das Problem mit den „Men in Black“. Sie haben mich damals gesehen. Sie haben mein Gesicht gesehen. Sie werden sich vielleicht an mich erinnern. Ich muss mein Aussehen ändern.“
„Übrigens… was ist aus der Sache damals geworden?“
Laura wollte in Gegenwart von Conny nicht viel darüber erzählen. „Sie haben nach uns geforscht, aber sie haben uns nicht gefunden. Nur José haben sie gefasst. Er hat nicht geplaudert, aber der arme Kerl hat das nicht überlebt. Mehr kann ich dir jetzt nicht erzählen.“ Sie sah Conny an. „Das dient deiner Sicherheit.“ Aber Conny hatte schon begriffen.
„Das sind eure Geschäfte. Ich habe meine Geschäfte. Du kannst das Dennis später erzählen.“
Dennis fragte auch „den Dicken“, „bin ich hier sicher?“ „Der Dicke“ nickte. „Absolut. Wenn du willst, werde ich einige Kids aus meiner Gruppe postieren. Das ist noch sicherer als Connys Leibgarde. Ich seh schon. Du willst uns dieses Mal erhalten bleiben.“ Dann sah er Dennis lange an. Er sah zu Laura. „Ich werd mal nach Begleitschutz telefonieren. Ich werde die Sachen in unseren Safe legen.“ Er schaute Laura an „… und ich werd’ mich jetzt verkrümeln. Ihr zwei habt euch sicher viel zu erzählen. Ich selbst werde bald wissen, was ich wissen muss. Ich muss ja nicht alles wissen.” Er schaute zu Conny und Trifter. „Lassen wir die beiden alleine.“
So ganz war das Dennis nicht recht, aber irgendwann musste er Laura alles erzählen. Also nahm er den Vorstoß „des Dicken“, wie er war, als Sprungbrett. Als Laura ihm zunickte, zog er sich mit ihr in „sein“ Zimmer zurück. Sie kuschelten sich auf das Bett.
3.
Sie lagen lange nebeneinander. Sehr lange.
Dann legte Laura ihre Hand vorsichtig und zärtlich in Dennis Gesicht, und sah ihn schweigend an. „Ich hab’ dich nie vergessen“, sagte sie. Es war der Beginn eines Geständnisses. „Was wird jetzt?“
Auch Dennis sah Laura lange an. Er berührte ihre Schulter. Er berührte ihre Lippen leicht mit seinen. Sie waren warm. Er spürte, dass Laura ihn begehrte. Das alte Gefühl brach wieder auf. Es hatte lange geschlafen. Dennis hatte zwei Jahre intensiv gelebt. Mit allen Sinnen. Er hatte vier Kinder gezeugt. Er hatte Liebe und inbrünstige Leidenschaft erlebt. Das hier war anders. Es sprang aus ihm heraus wie ein lang unterdrückter Wunsch.
Es war ihm egal, dass Laura sich zu einer Schönheit entwickelt hatte. Es war die Vertrautheit, die ihn mit Macht packte. Es waren die vielen schönen und auch gefährlichen Situationen, die sie gemeinsam erlebt hatten. Es war die lange Abwesenheit und vielleicht auch das latente Verlangen, das Dennis seit damals nie verlassen hatte. Jetzt war es zurück. Er würde festhalten, was er liebte.
Es war, als würde Laura seine Gedanken erraten. Auch sie hatte in den vergangenen zwei Jahren Männer gehabt. All das zählte nicht mehr. Sie liebten sich mit einer Inbrunst, die alles überragte und alles wegspülte, was jemals vorher war.
Hinterher lagen sie erschöpft nebeneinander. Sie atmeten immer noch schwer. Ihre Körper glänzten vor Schweiß. Sie glühten. Sie rochen nach ihrer Liebe.
Es dauerte nicht lange, dann liebten sie sich erneut. Es war ein gewaltiges Feuer, das da entfacht worden war und das sie hineinriss in einen Tunnel der Begierde. Mittendrin dachte Dennis einmal. „Danke, Patrick, danke.“
Danach fing er an zu weinen. Laura deckte sie beide zu. Sie hielt Dennis fest. Dennis zitterte. Es war viel mehr als nur Begierde gewesen. Es war, wie eine Wiedergeburt.
4.
Sie waren so miteinander beschäftigt, dass sie alles um sich vergaßen.
Sie liebten sich zum dritten Mal hintereinander. Sie hörten Conny wie in weiter Ferne üben. Manche Passagen immer wieder und immer wieder. Stundenlang. All das war weit weg von Ihnen. Am Abend stupste Laura Dennis an. „Ich hab’ Hunger“ sagte sie. „Will’ste auch was?“
Sie gingen in die Küche. Sie fanden Conny, die sich gerade was zu essen machte.
Conny lachte. „Da haben sich wohl zwei gefunden?“ Dennis nickte mit dem Kopf. „Ich mag Laura, seit ich sie das erste Mal gesehn’ habe, damals in der U-Bahn. Da ist sie die Treppe runtergehüpft und… .“ Er sprach nicht weiter. Er fasste Laura um die Taille und drückte sie an sich. „Wir haben Hunger. Hast du was für uns?“
Dennis entschied er sich für ein karges Mahl. Gekochter Reis mit ganz wenig Salz. Mehrere Stücke Obst. Stilles Wasser.
Conny lachte: „Ganz was uns der Arzt verordnet hat, was?“
Dennis schüttelte den Kopf. „Dort, wo ich war, da hatten wir Hirse, Maisbrot, viel Obst, Trockenfrüchte, Trockenfleisch und Frischfleisch. Es gab viele scharfe Gewürze und viele Kräuter, deren Namen ich nur in indianisch kenne und die es nur im Urwald gibt. Es gab Blüten, die man essen konnte. Es gab sogar Baumrinde und Käfer, die wir gegessen haben. Alles ohne Zusatzstoffe, ungeschält und unbehandelt. Wenig Salz. Das war sehr kostbar. Aber es gab braunen Zucker und ab und zu etwas Honig. Es war ein komplett anderes Essen. Ich muss aufpassen, dass ich davon“, er zeigte auf das Essen „nicht krank werde. Dort unten war ich in zwei Jahren nicht ein einziges Mal krank.“
Laura hatte Lust auf Honig Pops mit Milch. Dann aß sie Weißbrot mit Schinken und trank Tee dazu. Sie nahm Gurke und Tomate. Sie hatte richtigen Hunger. Dennis lächelte. Er strich ihr zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht, die ihr im Eifer über die Augen gerutscht war.
„Übrigens“, meinte Conny, „wir Mädels haben heute wegen dir die Schule geschwänzt. Morgen früh muss ich wieder da sein. Ich steh kurz vor dem Abitur. Du weißt wohl nicht mehr, was Schule bedeutet?“
„Oh doch“, hatte Dennis geantwortet, „aber anders, als du das denkst. Dort wo ich war, habe ich einige Schulen gegründet. Wir haben eine Schriftsprache entwickelt. Es wurde Schreiben, lesen und Rechnen unterrichtet. Für Erwachsene. Ich selbst habe so was wie eure Schule schon lange nicht mehr gesehn. Es gab anderes, das wichtiger war. Es war alles anders. Aber du bringst mich auf einen Gedanken.“
„Ich bin offiziell tot. Ich kann mir auch nicht vorstellen, so eine offizielle Schule noch mal zu besuchen, mit all den Zwängen. Aber die Schule der Kids - wenn es sie noch gibt - die würde ich gern besuchen.“
„Das ist kein Problem“, hatte Laura geantwortet. Bübchen, Moses und die anderen werden aus dem Häuschen sein, wenn sie dich wiedersehn’.“
Laura blieb über Nacht. Das Bett war eng. Es war ihnen egal. Sie lagen beieinander.
In dieser Nacht erzählte Dennis leise von seiner Reise zu den Théluan. Er war völlig offen und ehrlich. Er erzählte von Polia und der Königin. Er erzählte von seinen Kindern, die er geliebt hatte. Er erzählte von den Anden, dem Urwald, den Festen und den Kämpfen mit Puma, Bär und den Kriegern der Karancula. Er erzählte von der Steppe und auch von Handwerkern, den Abwassersystemen, den Adobebauten, den Hochzeiten, dem tiefen Winter, von den Steinen und von dem Gold.
„Du musst eins verstehen“, hatte er am Anfang gesagt, „das was ich dir jetzt erzähle, kommt dir vielleicht vor wie ein Märchen. Alles ist wahr. Es war eine komplett andere Gesellschaft. Danach wirst du vielleicht verstehen, dass es schwer für mich ist, mich hier wieder einzuklinken. Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich tot bin. Im Untergrund, mit den Kids, werde ich schnell wieder Fuß fassen. Ich bin froh, dass es euch gibt.“ Er fügte hinzu: „Ich bin froh, dass es dich gibt.“
Laura hörte zu. Sie staunte. Sie streichelte die Narben in seinen Handflächen. Sie stellte ein paar mal Fragen. Sie ließ Dennis reden. Sie saugte Dennis Informationen auf und sie war dankbar, dass er ihr alles erzählte. Sie liebte ihn dafür, dass er seine Kinder geliebt hatte. Dennis hatte ihr erklärt: „Vielleicht ist das komisch für dich. Aber dort beginnen die Mädchen im Alter von 12 ihre Kinder zu kriegen. Sie haben in ihrem kurzen Leben 10, 12 und manchmal 15 Kinder. Einige sterben. Andere leben und erhalten die Art. Du kannst das nicht vergleichen mit heute. Alles ist reduziert auf eine Zeitspanne von etwa 30, 40 oder 50 Jahren Leben. Ich selbst wäre dort sicher nicht älter geworden.“
„Manomann“, sagte sie gegen Ende. Das, was du erlebst hast, erleben andere ihr ganzes Leben nicht. Du kannst dankbar sein“. Dennis hatte genickt. „Ja ich kann dankbar sein. Ich bin Patrick sehr dankbar.“ Dann erzählte Dennis das erste Mal in seinem Leben von Patrick. „Das bleibt unter uns“, warnte er Laura. „Ich kann einiges kontrollieren, aber nicht alles. Ich bin nicht der Gott, den ich da unten gespielt habe. Dort hat mir Patrick das Leben gerettet. Hier ist die Welt anders.“
Laura hatte genickt.
Es wurde eine lange Nacht der Bekenntnisse. Denn auch Laura erzählte von sich. Von der Stiftung, von Allan und Susi. Von den Kids und von Connys Erfolgen. Sie erzählte Dennis auch von ihren Liebhabern. „Anders als bei dir, haben die mir nie etwas bedeutet. Das gehörte dazu, aber ich bin durch dich verwöhnt worden. Du warst nicht zu ersetzen, auch wenn wir vorher noch nie… .“
5.
Am nächsten Morgen ging Laura in die Schule. Es fiel ihr schwer, nach allem, was sie in dieser Nacht von Dennis gehört hatte. Dennis war dieser Schule längst entwachsen. Sie fühlte, dass sie eine Gefangene dieses Systems war. Dennis hatte das Privileg gehabt, all diesen Zwängen zu entwischen. Er hatte frei wie ein Vogel gelebt. Die Zwänge, die sich dort stellten, hatte er nur durch seine und die Kraft seines Bruders überwunden, und, das war Laura in dieser Nacht klar geworden, durch die Liebe zu den anderen Menschen. Nicht nur zu Polia oder der Königin. Es war die gegenseitige Liebe, die Dennis schon früher stets versprüht hatte. Er wirkte ansteckend. Sie war glücklich. Dieser Dennis. Er war etwas Besonderes. Sie würde es festhalten, dieses Glück, solange es ihr vergönnt war.
Sie hatte Dennis vorgewarnt. „Heute Nachmittag habe ich zu tun. Die Stiftung hat viele Aufgaben. Ich kann mich nicht entziehen. Heute Abend bin ich wieder da.“
Auch Conny ging zur Schule. Als sie mittags kam, setzte sie sich erst mal hin, und büffelte englische und französische Vokabeln. Sie hatte Algebra und Rechenaufgaben. Dennis hatte ihr eine Weile zugeschaut und sich dann unsichtbar gemacht. Um halbvier kam Conny in Dennis Zimmer. Sie sah, dass Dennis ihr ein leeres Heft und verschiedene farbige Stifte geklaut hatte. Er zeichnete.
Sie setzte sich neben ihn und schaute ihm zu. Sie ließ sich erklären, was es war. Pyramiden, Lamas, Bär, Trachten, Masken und Krieger. Dennis war nicht der beste Zeichner, aber er hatte Talent. Er hatte das nie zuvor gemacht. Er kämpfte mit der Technik. Aber die Figuren und Gegenstände flossen klar und deutlich aus seiner Vorstellung auf das Papier.
Dann sagte Dennis: „Noch etwas. Die Musik. Hör mal zu… .“ Er erzählte von den Musikgruppen, von den Instrumenten, von schrillen, schrägen, lustigen, fröhlichen und kämpferischen Liedern. Er erzählte von den Festen und den Hochzeiten. Von Tanz und Orgien. Er merkte, dass er Conny faszinierte.
Dann hatte Dennis eine Idee. "Du hast doch eine Geige hier." Hol sie mal her. Dann begann er Conny leicht zu dirigieren. Spiel irgendein Stück. So jetzt versuch das mal fröhlicher. Noch fröhlicher. Steigere das bis zur Ekstase… und jetzt mach es traurig, wie bei einem Todesfall…
Sie wurden unterbrochen. Trifter ließ sich ankündigen.
Er hatte schnell gehandelt. „Das Gold ist weg“, sagte er. „Die Achate, die Topase und die Smaragde auch. Das waren wertvolle Steine. Alles zusammen gerechnet hat das 160.000 gebracht. Viel mehr, als ich vermutet hatte. Die Qualität ist einmalig. Die Händler waren begeistert. Sie haben gefragt, wo das her ist. Sie wollen mehr. Das Gold war reine 999er Qualität. Besser geht’s nicht. Ich habe für dich ein Konto angelegt. Auf meinen Namen. Hier hast du 5000. Das sollte fürs erste reichen. Außerdem habe ich dir eine Monatskarte gekauft.“
Er fuhr fort, „die andern Sachen hab ich den Safe gelegt. Ich weiß, wer solche Gutachten macht. Morgen geh ich dahin. Einen der Brillianten habe ich prüfen lassen. Der Gutachter war außer sich. Das ist ein ganz seltenes Stück. Er wusste, dass so etwas am Hofe der spanischen und portugiesischen Könige zu finden ist. Es gehört dort zum Kronschatz. Ich habe ihm gesagt, dass der Stein unverkäuflich ist, und ich habe ihm versichert, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Er wollte sich nicht festlegen, aber er hätte mir für den Kleinsten der Steine sofort 100.000 gegeben. Bar auf die Hand. Es gäbe dafür im Moment keinen Markt, aber wenn man diesen Stein ordentlich einführt, würde er mehr bringen als jeder lupenreine weiße Diamant. Er war sich sicher. Allerdings müsste man ihn umschleifen, hatte er gesagt.“
„Noch etwas: Die Sache mit den Papieren hab ich „dem Dicken“ überlassen. Er will ein Foto von dir. Das Ganze ist eine knifflige Sache. Es wird eine Weile dauern, wenn du die Existenz eines Verstorbenen annehmen willst. Ich soll dir ausrichten, nur falsche Papiere auf einen Phantasienamen sind unproblematisch, die kannst du in einer Woche haben. Das kostet inclusive Führerschein 15.000. Also, was sagst du?“
„Trifter“, sagte Dennis, „du bist der Beste. Ich möchte dir danken. Phantom-Papiere will ich jetzt nicht. Wenn du erlaubst, werde ich eine Weile untertauchen zu den U-Bahnkids. Zu Conny kann ich hoffentlich immer kommen, wenn sie nicht grade ein Konzert hat.“
Er sah, dass Conny nickte. „Noch etwas. Ich hab gestern mit Laura über die Schule gesprochen. Ich bin offiziell tot. Außerdem hab ich zu viel erlebt, um das noch einmal anzufangen. Aber ich möchte in die Schule der Kids gehen, wenn es die noch gibt. Ich kann einiges dazu beitragen, glaube ich.“
Trifter war hocherfreut. „Abgemacht. Aber bleib vorerst hier, solange Conny es dir erlaubt. Ich freue mich auf dich. Alle werden sich freuen.“ Er verabschiedete sich. Er hätte noch zu tun. Es gäbe noch zwei Abendseminare.
Conny erklärte Dennis, dass Trifter studierte. „Er lässt sich etwas Zeit. Er hat zu viele andere Aufgaben, aber es läuft ihm nichts weg. Trifter wird nie in die Verlegenheit kommen, um einen Job zu bitten. Er könnte jeden Job haben. Auch jetzt schon.“
Dennis lächelte. Er hatte nichts anderes erwartet.
Dann nahmen sie ihre Übungen wieder auf.
„So, sagte Dennis. „Das letzte Stück noch mal. Dann versuch es kämpferisch zu spielen, als wolltest du einer 5000 Mann starken Armee Mut zum Kampf einflößen.“ Er hörte zu. Er korrigierte. Er ließ manche Stücke noch mal und noch mal und noch mal spielen.
„Ich sehe, dass du begreifst. Deine Stücke da. Sie sind viel zu einseitig. Musik ist viel mehr als das. Deine Komponisten haben die Stücke für bestimmte Stimmungen geschrieben. Höfischer Tanz, kirchliche Rituale, bürgerliches Spektakel, so etwas. Vielleicht auch nur, um zu zeigen, was sie drauf haben. Ich habe gelernt, dass Musik Leben bedeutet. In all der Bandbreite. Es kann jede kleine und große Gruppe in bestimmte Richtungen beeinflussen. Du bist der Dirigent. Wenn dir das gelingt, dann bist du frei.“
„Wenn du willst, fahre ich mit dir nach Südamerika. Besorg mir auch Unterlagen über die Musik in andern Ländern. In Afrika, Asien, den Steppen Russlands und Sibiriens. Ich will mehr darüber wissen.“
All das hatte Conny längst auch gewusst, aber sie hatte dieses Klangerlebnis dennoch nie gefunden. Dennis zeigte ihr das Ganze in einer Klarheit und Deutlichkeit auf, die verblüffend einfach schien.
„Ich habe alle Konzerte bis zu meinem Abitur aufgeschoben. Aber lass uns jeden Tag üben, wenn du willst. Ich bin froh, wenn du mir zuhörst und mich korrigierst. Ich habe auch meinen Geigenlehrer. Er kommt manchmal. Du kennst ihn.“
Es war ein langer Nachmittag geworden. „Ich bin müde“, hatte Conny gesagt. Es waren viele neue Ideen. Ich muss das erst noch verarbeiten. Ich brauche meinen Nachtschlaf. Morgen ist wieder ein anstrengender Schultag. Lass uns etwas essen."
Noch in ihren Vorbereitungen kündigte sich Laura an. Sie war glücklich, die beiden Freunde zu sehen, aber auch sie war müde. Sie aßen etwas, dann sagte Dennis. „Ich muss raus hier. Ich weiß, dass ich keine Papiere habe, aber ich werde mir zu helfen wissen. Trifter hat mir eine Monatskarte gegeben. Ich kann überall hin. Wollen wir ein wenig laufen? Es ist noch lange hell. Vielleicht an den Müggelsee?” Laura war einverstanden. Vielleicht war es genau das, was sie jetzt auch brauchte. Sie nahmen einen Schlüssel vom Bord (Laura kannte den Platz) und sagten der Wache Bescheid. Dann verließen sie das Haus. Es wurde eine schöne Nacht.
Der Himmel war sternenklar - zumindest für Berliner Verhältnisse. „Du hättest einmal den Himmel da unten sehen sollen“, sagte Dennis. „Das hier über uns ist nur ein trüber Abklatsch. Dann zeigte er Laura einige Sternbilder. „Die Menschen da unten haben sich ganz nach Sternen und der Sonne gerichtet. Sie hatten Kalender, die über viele Jahre im Voraus für jeden Tag genau den Sonnenaufgang und Untergang festlegten. Wir brauchen dafür einen Chronometer und so ein Zeug. In diesen Sachen waren uns die Indios weit voraus.“
Dann hatte Dennis gesagt „Ich werde noch ein paar Tage bei Conny bleiben, aber ich werde hier verrückt. Ich bin es nicht gewohnt, eingesperrt zu sein. Ich muss etwas tun. Ich werde zu den Kids geh’n. Mal seh’n, ob die Aufgaben für mich haben. Du weißt, wo du mich finden kannst.“
Er ergänzte, „übrigens, wohnt Conny alleine in diesem riesigen Haus?“ Laura schüttelte den Kopf. „Im Westflügel gibt es eine zweite Wohnung. Dort wohnen Connys Eltern. Wir haben sie dir noch nicht vorgestellt, weil das vielleicht riskant ist. Wir wollen nichts unbedachtes tun. Conny geht manchmal rüber zu ihnen, aber sie lassen Conny völlig in Ruhe.“
Kapitel 2. Die schwierige Suche nach der Identität
1.
Am nächsten Vormittag dachte Dennis lange nach. Er war alleine. Er hatte Zeit. Die Sache mit seiner Identität ging ihm nicht aus dem Kopf. Es passte ihm nicht, dass er den Namen und die Rolle eines Fremden übernehmen sollte. Da war da diese Stiftung um die er sich kümmern wollte. Da waren diese Kids seiner alten Gruppe: Allan, Susi und Roman. Da war seine Mutter und da war Conny… Er würde den Freunden schlecht erklären können, dass er plötzlich einen andern Namen trägt, oder dass er ganz woanders geboren ist, dass seine Mutter und sein Vater auf einmal ganz andere gewesen sein sollen, also, dass er eigentlich gar nicht Dennis ist.
Auf diese Freunde wollte er aber in keinem Fall verzichten. Er schüttelte ärgerlich den Kopf. All das mit der angenommenen Identität eines andern kam ihm unehrlich und verlogen vor. Wie sollte das gehen, mit einer falschen Identität für seine Freunde oberhalb der Tunnel zu sorgen? Er wollte kein Leben im Untergrund.
Im Dunkel der Tunnel, im Verborgenen der Illegalität, da war das kein Problem. Aber dann könnte er auch offiziell tot bleiben und illegal weiterleben. Dann bräuchte er nicht einmal einen Pass. Das wäre sogar der beste Schutz gegen eine Entdeckung durch die „Men in Black“. Aber das würde Dennis nicht reichen. Er hatte Ziele. Wie sollte er mit einer falschen Identität Conny auf ihren Reisen begleiten und erklären, warum gerade er für Conny den Berater spielt? Die Direktorin, der Dirigent. Alle kannten ihn. Wenn er die Öffentlichkeit nicht scheuen wollte, so musste er seine eigene frühere Identität wiedererlangen.
Dennis behielt seine Gedanken zunächst für sich.
Als Conny kam, gab sie Dennis einige Bücher und einige CDs. Sie gab ihm Kopfhörer und einen kleinen Recorder. Sie selbst lernte zunächst für die Schule.
Dennis überflog die Bücher. Es ging über Kulturen und ihre Musik. Die CDs enthielten Flamenco, chinesische Oper und indonesische Gammelanmusik.
Dennis hörte genau zu. Ja. Einiges war urtümlich. Manches kam dem ganzen schon recht nah. Dennoch fehlte irgendwas. Er grübelte, aber er kam nicht drauf.
Irgendwann kam Conny. Sie sei fertig. Sie fragte nach Dennis Meinung. Dennis winkte zunächst ab.
„Gleich kommt mein Geigenlehrer“, sagte Conny. „Dann können wir das von gestern mal fortführen und mit ihm besprechen.“
Dennis kannte den Geigenlehrer bereits. Ein kleiner dunkelhaariger Mann in einer grauem Weste. Dennis hatte ihn nie anders gesehen, als in dieser grauen Weste, die er auch heute wieder trug. Der Name passte zu seinem Äußeren. Alois Punkbacher. Aber Alois war nicht der tumbe Bayer, den man hinter dem Äußeren vermuten konnte. Er konnte mal Geige spielen, wie kaum ein Zweiter, aber ein Unfall hatte seine beiden Hände gebrochen. Danach war es mit dem spielen vorbei. Alois Punkbacher war Geigenlehrer geworden.
Alois war erst überrascht, dann tief erschüttert und schließlich überglücklich, als er Dennis lebend vor sich sah. Er befühlte Dennis, um sich zu vergewissern, dass er wirklich vor ihm stand. Er umarmte Dennis. Ein paar Tränen liefen die Wangen herunter. Er wischte sie verschämt weg. Aber dann wurde er ganz der Lehrer. „Ich wäre heute sowieso gekommen, aber Laura hat etwas angedeutet. Was habt ihr beide da ausgeheckt?“
Laura und Dennis einigten sich kurz auf ein Stück, dann begann sie. Sie spielte besser als gestern. Sie hatte sich etwas eingeübt. Dennoch fehlte etwas.
„Deine Geige da - deine dritte Geige - hast du sie noch“, fragte Dennis. Er schickte Laura, um sie aus dem Safe zu holen.
Er hörte zu, wie sie die Geige stimmte. Dann begann sie mit dem ersten Stück.
Dennis schüttelte den Kopf. „Nein nein. Versuche das Stück lustig zu spielen. Mach das bitte noch mal.“
Conny versuchte es. Sie versuchte es noch mal und noch mal.
Alois sah, dass Conny unglücklich war. Diese Geige war immer noch ihr Feind. Aber er hatte etwas herausgehört. Etwas, was vielleicht nur er mit seiner langen Erfahrung als Geigenlehrer hören konnte. Er hatte bisher nur nie darauf geachtet.