- -
- 100%
- +
„Gib mal her“ bestimmte Alois. Dann stimmte er die Geige um. Alle Seiten klangen eine Nuance höher. Kaum merklich. Er gab die Geige an Conny zurück. Er nickte ihr aufmunternd zu.
Conny probierte es erneut. Sie sah, wie Dennis und Alois aufhorchten. Sie probierte es noch einmal. Es klang wirklich anders.
Sie probierte die ganze Passage aus zehn Minuten. Dann blieb sie still sitzen und lauschte den Tönen nach.
Sie gab Alois die Geige zurück und bat: „Stimm mir das mal nach unten. Gerade so einen Tick“.
Es dauerte einen Moment, dann hob Conny die Hand. „Das sollte genügen.“ Sie versuchte dasselbe Stück nun tragend und traurig zu spielen. Sie stellte sich vor, dass sie einen Trauerzug auf den Friedhof begleitet und alle zum weinen bringen will. Sie sah, dass Alois und Dennis beeindruckt waren.
„Gib noch mal her“, meinte Alois. Er stimmte die Geige erneut, aber diesmal in der normalen Tonlage, die sich nur geringfügig unterschied.
„Pass auf. Jetzt kommt etwas schwieriges. Versuch mal durch deine Grifftechnik genau diesen Bruchteil des Tones auszugleichen. In der Quint geh einfach eine Seite nach unten. Das sind völlig neue und ungeübte Grifffolgen, aber versuch’ es. Spiel erst fröhlich und geh dann in die trauernden und klagenden Klänge über.“
Conny versuchte es. Es war höllisch schwer. Sie musste umdenken, aber sie sah, wie Alois zustimmend nickte.
„Ich glaube, dass du eben gelernt hast deine dritte Geige zu spielen“, sagte er. „Du wirst dieses Instrument lieben. Vielleicht ist sie sogar besser als die Stradivari. Ist es möglich, dass die Geige ganz bewusst für die Veränderung solcher Stimmungslagen gebaut wurde???“
Conny schaute Alois lange an. „Kannst du eben mal Anton anrufen“, bat sie. „Er soll sofort kommen.“
Während Alois telefonierte, führte Conny Dennis in den Keller des Hauses. Dennis war platt. Er hatte noch nie ein Tonstudio von innen gesehen. Hier war alles da.
Laura schaltete das Licht und die Maschinen ein. Sie zeigte Dennis einige Hebel und Knöpfe. „Ich will das Klanggefühl hören“, sagte sie.
Anton kam mit hochrotem Kopf und tiefschnaufend an. „Fahrrad“, sagte er nur. Er war ein junger Mann, vielleicht 28.
„Das ist mein Toningenieur“, stellte Laura ihn vor. “Er heißt Anton, … und das ist Dennis“, sagte sie. Sie wandte sich an Alois und Anton. „Übrigens: Ihr habt Dennis heute nicht gesehn. Ihr wisst auch gar nicht, wer das ist. Ist das klar?“ Sie schauten verwundert, dann nickten sie.
Laura erklärte Anton, worum es geht: „Vielleicht habe ich eben gerade meine dritte Geige entdeckt. Das wird jetzt noch etwas unbeholfen klingen, aber versuche mit der Aufnahme genau die verschiedenen Stimmungen von überschwänglich bis todtraurig zu erfassen, die ich in ein und demselben Stück spiele.“
Conny ging durch die Glastür. Sie setzte die Kopfhörer auf, sie schaltete das Mikrofon ein. „Eins zwei drei“, sagte sie, klinkte ein kleines Mikrofon an die Geige und begann. Sie sah kurz zu Anton und als er nickte, legte sie los. Sie spielte immer dasselbe Stück, fand einen Übergang und spielte es erneut. Sie gab sich jede erdenkliche Mühe, den Tonfall und die Stimmung zu ändern. Es war nicht nur die Höhe der Töne.
Sie spielte manchmal ein Tick schneller, dann wieder einen Tick langsamer. Kaum merklich. Manchmal weicher, manchmal härter.
Dennis sah, dass es Conny viel Mühe bereitete. Sie schwitzte. Doch mit jedem Stück wurde es etwas einfacher. Dann spielte sie das Ganze noch einmal. Sie versuchte jetzt ihren ganzen Körper und all ihr Gefühl und ihr Können in die Stimmungslagen reinzupacken.
Danach war sie am Ende. Sie zitterte. Dennis ging zu ihr, nahm ihr die Kopfhörer ab und nahm sie in die Arme.
Alois kam, nahm ihr die Geige aus der Hand, stellte sie ab und gab Anton ein Zeichen. Anton verschwand, dann kam er mit einem Glas, mit Wasser und mit zwei verschiedenen Säften im Arm zurück.
Er stellte das vor Laura hin und verschwand erneut. Er kam mit drei weiteren Gläsern zurück. Er musste häufig Gast in diesem Hause sein, dachte Dennis.
Laura war völlig erledigt, aber sie erholte sich schnell. Sie trank etwas Saft und bot auch den Freunden an.
Dann sagte sie: „Lass mal hören, aber nur die letzten 30 Minuten.“ Sie gingen zurück zum Mischpult. Anton gab jedem einen Kopfhörer, während er zurückspulte. Dann begannen sie der Musik zu lauschen.
Sie hatten die Türglocke nicht gehört. Laura schlüpfte hinter ihnen herein. Alois gab ihr einen Kopfhörer und gab ihr das Zeichen, sich hinzusetzen.
Als die Musik zu Ende war blieb Conny minutenlang sitzen. Sie war tief in sich versunken. Dann nahm sie den Kopfhörer ab und sagte: „Das wird ein schweres Stück Arbeit. Fast jeder Griff ist anders.“
Alois atmete tief ein. Dann nahm er Connys Hand. “Eben”, sagte er, „hast du eine Zaubergeige geschenkt bekommen. Sei dem Schicksal dankbar dafür.“
Laura hatte gehört, dass irgendetwas anders klang, aber sie konnte sich noch keinen Reim daraus machen. Sie sah Dennis lächeln.
Conny sagte nur: „Ich werde eure Hilfe brauchen, um das umzusetzen. Technisch können mir Anton und Alois helfen. Von dir Dennis, will ich mehr über deine musikalischen Erlebnisse hören. Laura soll sich darum kümmern, ob es einen Markt dafür gibt. Nicht gleich. Das ist alles noch zu neu… und auch noch zu unsicher in meinem Spiel.“
Sie wandte sich an Laura: „Hör dir dieses Band noch mal an, zusammen mit Alois und Anton. Lass dir erklären, worum es geht. Dann komm wieder zu uns. Sie nahm Dennis mit. Dieses Mal setzte sie sich in den Salon des Hauses. „Zeig mir noch mal deine Zeichnungen“, bat sie.
Dennis holte seine Entwürfe. Laura sah sie lange an. „Erzähl mir mehr.“
Dennis ließ sich Zeit.
Als Laura, Alois und Anton hinaufkamen, gab Ihnen Laura die Zeichnungen und bedeutete ihnen, Dennis Erzählung einfach nur zuzuhören.
Dennis erzählte weiter: von der Musik der Théluan, von den Theaterspielen, von den Stimmungen und der Wirkung der Musik auf die Menschen.
Laura hatte Tränen in den Augen. „Mein Gott. Wie lange habe ich darauf gewartet… .“
Sie fühlte einen Quantensprung in ihrer Musik. Vielleicht noch nicht ganz. Sie hatte gerade den ersten Zipfel davon zu fassen gekriegt. Darauf hatte sie acht Jahre lang gewartet. Irgendwann hob sie den Kopf.
„Ihr habt heute nichts gehört“, sagte sie bestimmt. „Ihr habt nichts gesehen. Ich habe ganz normal geprobt. Und zu keinem ein Wort über Dennis.“ Sie sah Alois und Anton durchdringend an. Sie nahm ihnen das Versprechen ab.
Dann wollte sie mit Laura und Dennis alleine sein.
Nach einer ganzen Weile sagte sie: „Die Frage ist, was ich aus dieser neuen Erkenntnis für Schlussfolgerungen ziehe. Ich habe eben meine Dritte Geige entdeckt. Sie wird mir noch viele Schwierigkeiten bereiten. Das eben war weit entfernt von dem, was ich perfekt nenne. Aber ich habe eben eine Vorahnung bekommen, was Dennis mit der Allmacht der Musik angedeutet hat.“
„Ihr wisst, dass ich bereits jetzt mit den Stimmungen der Zuhörer sehr gut spielen kann, aber ich kann mir vorstellen, dass ich mit dieser Art der Musik einen Mann dazu bringen kann, seine Frau umzubringen, die er liebt, einen Krieg auslösen, oder Ehen stiften kann. Das hat Alois vorhin gemeint, als er diese Geige als Zaubergeige bezeichnet hat.“
Sie sah die Freunde an, „all das ist noch unkontrolliert. Neu. Außerdem ist mein Abitur jetzt das Wichtigste.“ Sie sah zu Dennis. „Im Sommer habe ich mehrere große Konzerte. Dann sollten wir reisen.“
Laura war verblüfft. Sie hatte die Musik gehört, Sie hatte Unterschiede gehört. Alois und Anton hatten versucht zu erklären. So hatte sie Conny noch nie reden hören.
Auch Dennis hatte lange zugehört. Dann begann er von seinen Überlegungen am Vormittag zu erzählen.
Conny und Laura sahen sich an. Sie schwiegen.
Dennis fügte hinzu: „Ich will mir die Sache noch ein paar Tage durch den Kopf gehen lassen. Wenn Trifter mit dem Ergebnis der Untersuchung kommt, will ich auch „den Dicken“ und euch beide sehen. Dann werde ich mich entscheiden.“
Conny war von der ganzen Sache ermüdet, obwohl sie innerlich aufgewühlt war. Es wäre jetzt schön, so einen Freund wie Dennis an ihrer Seite zu haben. Sie seufzte. Dann ließ sie die beiden alleine und ging ins Bett.
Sie hörte an diesem Abend noch lange Musik über Kopfhörer. Dann schlief sie ein. Als sie am Morgen aufwachte, hatte sie die Kopfhörer immer noch auf.
2.
Auch Dennis und Laura gingen ins Bett. „Ein ereignisreicher Tag, was“, fragte Laura. Dennis schwieg lange.
„Die Festung“, sagte Dennis nach einer Weile. „Ist das noch dieselbe?“
„Nein, wir haben damals das Quartier gewechselt. Wir haben die alte Festung nie mehr betreten. Willst du wissen, wie du dahin kommst?“
Dennis nickte. „Morgen, vor deiner Schule, kannst du mich dahin bringen?“
Laura stellte den Wecker. „Morgen ist Schultag der Kids. Da kommst du gerade recht. Vielleicht solltest du auch ein Handy haben. Ich hab’ dir eins besorgt und die wichtigsten Nummern eingespeichert. Es ist lange her. Erinnere dich. Du nennst am Telefon keine Namen.“
„Die Sache mit der Identität“, meinte Dennis, „das ist mir wirklich wichtig. Wenn ich zum Beispiel in der Stiftung auftauche, dann werden mich alle erkennen. Naja, ich nehme nicht an, dass du alle ausgewechselt hast.“ Als Laura den Kopf schüttelte, fügte er hinzu. „Ich kann das doch nicht alles aufgeben, jetzt wo ich wieder hier bin. Ich will dir nicht ins Handwerk pfuschen. Du leitest jetzt die Stiftung, aber ich kann mir vorstellen, dass ich dort weiter gebraucht werde.“
Laura gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hab nichts sagen wollen. Es ist schließlich deine Entscheidung. Aber so denke ich das auch. Das da eben (und sie meinte Conny damit) war genau das, was uns in den letzten beiden Jahren gefehlt hat. Ich nenne es die kreative Inspiration. Das, was du eben in Conny ausgelöst hast. So wie du damals die Geigen gefunden hast, so wie du Hakim oder den Chemiker entdeckt hast. Ich kenne niemanden, der diese Fähigkeiten hat, außer vielleicht Trifter und „den Dicken“. Aber die haben ihre Talente auf ganz anderen Gebieten. Du hast uns wirklich gefehlt. Ohne dich ist die Stiftung nicht mehr das gewesen, was sie einmal war. Wir sind größer geworden, wir haben Einfluss. Aber niemand hat jemals Talente so sicher entdeckt, wie du. Ich sehe, du schüttelst den Kopf. Ich sehe, dass du bescheiden geblieben bist. Auch das ist eine deiner liebenswerten Eigenschaften. Denk’ darüber nach.“
Weil Dennis nichts mehr dazu sagen wollte, löschte sie das Licht.
3.
Am nächsten Morgen waren sie vor Conny wach. Laura brachte Dennis in den neuen Bunker, dann beeilte sie sich, um pünktlich in ihre Schule zu kommen.
Das Wiedersehen glich einem Tumult. Dennis wurde mit Fragen bombardiert. Sie lachten. Sie waren ausgelassen. Moses fing an zu tanzen und es gab viele neue Mitglieder in der Gruppe der U-Bahnkids. Schließlich rief Bübchen „Alle mal Ruhe. Schluss jetzt. Kann ja keiner ein Wort verstehen. Dennis kommt nicht dazu etwas zu sagen, vor lauter Geplapper. Außerdem gibt’s hier viele Neue, die Dennis nur vom Hörensagen kennen.“ Dann stellte er Dennis alle Kids vor. Er mahnte: “Wenn es jemanden gibt, außer Trifter, Laura und dem Dicken, dem wir alle zu Dank verpflichtet sind, und den wir alle lieben, dann ist das Dennis.“ Er schnitt Dennis Einwand ab. „Halt die Klappe. Wir haben dir alle viel zu verdanken. Ich weiß, dass du das nicht gern hörst. Also, lass mich das einmal sagen. Ich sprech auch nie wieder drüber.“ Zu den Neuen gewandt, sagte Bübchen: „Wenn ihr jemanden braucht, der euch zuhört, dann wendet euch an Dennis.“
Jonas wollte auch etwas sagen. Er wurde von Dennis unterbrochen. „Das ist zuviel der Ehre“, sagte Dennis. „Ich war immer nur einer von euch und ihr wisst das. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr wart es, die mir den Weg gezeigt habt. Ich habe euch zu danken, nicht umgekehrt.“
Jonas machte eine Bewegung die ausdrückte, „seht ihr, das ist es, was Bübchen meinte. So ist er…“, aber er kam nicht dazu, das auszusprechen. Trifter kam gerade durch die Tür.
„Heute ist Schule“ sagte er. Zu Dennis gewandt, fragte er: „Schon einander vorgestellt?“ „Naja meinte Dennis. Ein paar Worte muss ich wohl noch sagen. Ich sehe da lauter Fragezeichen sitzen.“
Dann begann Dennis in groben Zügen zu erzählen, wo er gewesen war und dass es ihm nicht möglich war, Kontakt mit den Kids aufzunehmen. „Aber“, fügte er hinzu. „Wie ich angedeutet habe, habe ich dort unten einige Schulen gegründet. Alle diese Schulen waren euerm Schulkonzept nachempfunden. Damit sind wir auch schon bei unsrer Schule. Ich selbst habe zwei Jahre lang keine „normale“ Schule gesehn. Ich bin nicht traurig darum. Es gibt wichtigeres.“ Er hörte einiges Gelächter. „Aber…“, Dennis hob den Zeigefinger. „Schule ist nicht Schule. Unsere Schule der Kids habe ich genossen. Sie hat mir geholfen das Leben da unten besser zu verstehen. Ich möchte, wenn es geht, jetzt regelmäßig an eurer Schule teilnehmen und ich glaube, ich kann euch auch einiges erzählen. Die Welt ist viel größer, als dieses kleine Berlin.“
Trifter lachte und sagte, „gut gebrüllt, Löwe. Aber lasst uns jetzt beginnen. Es gibt noch einiges zum Thema Banken, Zahlungsverkehr, Rechtsgeschäfte zu lernen. Außerdem müssen wir uns dringend dem Thema Computer widmen. Fast alle von euch haben inzwischen ein Handy. Ihr wisst, dass ihr damit sehr vorsichtig sein müsst. Handys kann man orten. Dasselbe gilt für Computer. Sie haben eine IP Nummer. Über die kriegt man heraus, wer der andere ist und wo er sich gerade befindet. Also. Wenn ihr einen Computer benutzt, dann entweder offline oder in einem öffentlichen Raum, wie einer Bibliothek, einer Schule, einem Internetladen oder einer Uni.“
Er lächelte ein wenig. „In Schulen kann man einsteigen. Kostet nichts. Muss aber immer jemand Schmiere stehen. Denkt immer an gute Fluchtwege. Vergesst nicht: Fast alle von uns sind illegal. Wir dürfen uns nicht erwischen lassen. Im Zeitalter der Elektronik ist das viel schwieriger geworden als früher. Wir haben auf diesem Gebiet lange geschlafen. Wir dürfen uns nur sehr vorsichtig rantasten. Ach und übrigens. Auch Dennis ist inzwischen Illegal. Also bleibt es unter uns, dass er lebt. Klar?“
Das war der Auftakt für den Unterricht.
4.
Nach der Schule nahm Trifter Dennis auf die Seite. „Dir ist klar, dass das gefährlich ist, wenn du da rumgurkst?“
Dennis nickte. „Eingesperrt sein ist schlimmer als der Tod und vor dem fürchte ich mich nicht mehr.“
Er fuhr fort, „gibt es eigentlich eine Schulpflicht für mich? Ich bin ja jetzt über sechzehn. Außerdem will ich „den Dicken“ bald sehen. Sobald du etwas über meine Weste weißt.“
„Ich werd mich erkundigen“, sagte Trifter. „Sei vorsichtig. Die Weste ist in Arbeit. Das dauert ein paar Tage. „Den Dicken“ bring ich dann mit. Erreiche ich dich noch bei Conny?“ Diesmal nickte Dennis. „Willst du noch ein bisschen Wiedersehen feiern“, fragte Trifter. Dennis nickte wieder.
„Dann schick ich zwei Kids, um Kuchen, Schoko und Milch zu organisieren. Bist du einverstanden?“ Dennis nickte erneut und Trifter fügte hinzu. „Ich muss jetzt weg. Bleib vorsichtig, fahr erst heute abend. Benutz’ alles zu deiner Tarnung. Schlag Haken, mach dich unsichtbar. Ich will dich nicht noch mal verlieren. Ich brauche dich.“
Dennis hörte das nun schon zum zweiten Mal. Es schien wirklich nicht alles so zu laufen, wie es sollte.
Er blieb an diesem Nachmittag im Bunker. Die Schule wurde während des Kuchenessens einfach wieder aufgenommen, diesmal ohne Trifter. Dennis erzählte von Südamerika. Er erzählte von anderen Kulturen und Lebensweisen. Er wurde oft unterbrochen. Die Kids fanden das hoch spannend. Dennis erzählte auch von seinen eigenen Kindern. Er sah keinen Grund, das zu verheimlichen. Auch das fanden die Kids hochinteressant. „Der Tod, erzählte Dennis „hatte dort unten eine ganz andere Bedeutung. Sicher, jeder will Leben. Anders war das auch dort nicht. Aber wenn dir von deinen Kindern zwei, fünf oder acht wegsterben und vielleicht nur eins oder zwei überleben, dann bekommt ihr eine andere Meinung vom Leben. Der Tod ist allgegenwärtig. Die Menschen da unten haben gelernt, damit zu leben. Vor dem Tod darf man sich nicht fürchten.“
Das war für die Kids eine erschreckende Wahrheit. Es gab viele Fragen. „Alles kann ich euch nicht beantworten“, fügte Dennis hinzu. „Ihr wollt mehr wissen, doch ich weiß, dass ihr euch viele dieser Fragen nur selbst beantworten könnt. Jeder auf seine Weise. Denkt darüber nach. Sprecht darüber mit eurem Freund oder (er lächelte) mit eurer Freundin. Findet eure eigene Lösung. Vielleicht gibt es in den nächsten Wochen mal die Gelegenheit einen ganzen Vormittag über dieses Thema zu reden.“
Ohne Dennis Zutun bildeten sich Gruppen, die weiter darüber diskutierten. Er sah einige der Kids, die sich etwas zurückzogen und still in der Ecke saßen. Für ein paar von ihnen war das Aufregung genug. Sie wollten jetzt Action.
Dennis ließ sie gehen.
Es war eine ganz eigene Art von Schule, die gerade eben entstanden war. Die Schule des Lebens, wie Dennis die Schule der Kids heimlich nannte, war um ein neues Fach reicher geworden. Um das Fach „Lebensphilosophie“. Dennis war zufrieden. Es war ein guter Haufen. Die Alten und die Neuen. Er liebte diese Kids.
5.
Am Abend fuhr Dennis zu Conny. Er achtete strikt auf die Anweisungen. In einer dunklen Straße erlaubte er sich, den Straßenzug zu wechseln, indem er sich mit der Hilfe seines Bruders zwei Straßen weiter beamte. Diesmal ging alles ganz ohne Lichtschein ab.
Conny hatte nach dem Mittagessen gelernt und sich dann wieder ihrem Geigenspiel gewidmet. Sie wollte nicht Reden und auch Dennis hatte keine Lust. Er vertiefte sich in seinen Büchern und las auch den ganzen nächsten Vormittag weiter.
Als Conny eine kurze Pause machte, bat er sie: „Kennst du Susis Telefonnummer?“ Conny nickte. „Kannst du sie herbitten? Ich möchte sie sehen. Ich muss schließlich Stück für Stück mein alten Leben wieder aufnehmen.“
Conny sagte nur, es sei dringend. Susi wusste die Adresse.
Als es klingelte, führte sie einer der Bodyguards herein.
Dennis hatte Laura und Conny bei dem Wiedersehen beobachtet. Er hatte die Reaktion der Kids gesehen. Das hier hatte er nicht erwartet. Susi kippte aus den Latschen.
Dennis hob sie auf und trug sie auf die Couch. Er hielt sie in seinen Armen. Susi rang nach Luft und Fassung. Als sie wieder einigermaßen klar denken konnte, sagte sie: „Du hättest mich vorwarnen können. Das eben war ganz und gar nicht in meiner Absicht.“
Dennis lächelte. „Ging nicht, Susi. Glaub mir. Offiziell bin ich tot. Tote können nicht vorwarnen, und Susi…“, warnte er, „vorläufig bin ich weiter tot. Ich werde zu Allan und den andern selbst Kontakt aufnehmen, aber du versprichst mir, nicht zu reden, auch wenn’s schwer fällt.“
„Das wird schwer“, antwortete Susi, und sah Dennis lange an. Sie langte nach seinen Händen. Sie spürte die Narben in seinen Handflächen. Sie erschrak. Aber Dennis lächelte sie an. „Das ist nichts. Das musst du mir glauben. Ich habe zwei Jahre sehr glücklich gelebt. Weit weg. Das hier (er zeigte auf die Narben) ist ein Teil des Glücks, das ich erleben durfte.“
Dann erzählte er ein wenig von Südamerika und ließ auch Susi erzählen. Er wollte mehr wissen von Allan, Jochen und Roman, von der Talentschule und von ihrer alten Gruppe. Er sah, dass zwar alles lief und jeder seine Arbeit machte, aber er spürte auch in Susis Erzählung, dass die Freude und der Elan nicht mehr das waren, was einmal war. Susi bestätigte Lauras Erzählung. Der Organisation fehlte der kreative Kopf.
Der Nachmittag ging schnell rum. „Bitte vergiss nicht“, sagte Dennis zum Abschied. „Ich bin tot. Jedenfalls bis auf weiteres. Ich werde wieder zum Leben erweckt, aber noch nicht sofort.“
Als Conny sich mit Dennis zum Abendbrot traf, grinste sie. „Der Ritter und das Fräulein.“
Dennis knuffte sie in die Seite. „Du bist gemein.“ Laura musste lachen und sie steckte auch Dennis damit an.
Als Laura kam, fand sie zwei lachende Freunde. Sie ließ sich vom Lachen anstecken. Sie hatte gute Nachrichten. „Morgen ist’s soweit. Dann sind die Tests abgeschlossen. Trifter hat mir vorhin Bescheid gegeben. Morgen abend werden Trifter und „der Dicke“ hier sein. Dann ist Wochenende.“
Zu Laura sagte sie. „Ich würde gern mit dir und Dennis am Wochenende irgendwohin fahren, aber du erregst überall soviel Aufsehen, wo du auftauchst. Ich kann das nicht riskieren.“
Laura winkte ab. „Dann kann ich das mal nutzen, um euch loszuwerden. Ich muss noch ein bisschen lernen und auch üben.“ Die Freunde wussten, dass sie nicht rausgeschmissen werden. Sie verstanden den Scherz.
Am nächsten Morgen ging Dennis wieder in die Schule der Kids. Auch dieses Mal war er super vorsichtig.
6.
Dennis blühte in der Schule der Kids richtig auf. Es machte ihm Spaß. Ungezwungenes und freiwilliges Lernen hat mit der Regelschule nichts zu tun und läuft ganz anders ab. Die Kids lernten andere Dinge. Jeder hatte sein eigenes Lerntempo. Niemand wurde gezwungen. Sie lernten aus eigenem Interesse. Sie halfen sich gegenseitig. Sie konnten sehr konzentriert sein, aber sie konnten auch ungezügelt loslachen, wenn es etwas zu lachen gab.
Heute stand das Thema „Lesen“ auf dem Programm. Sie hatten einige leichte und schwere Texte vorbereitet. Einige der Kids konnten das gut, für andere war das tierisch anstrengend. Einer der Jungen, vielleicht acht Jahre alt, hatte sichtlich Mühe, die Zeichen zu entziffern. Dennis sah Trifter etwas auf ein Blatt Papier schreiben. Dann legte er Pauli das Blatt vor. „Lies das mal.“ Pauli stutzte. Dann las er vor, „nicht klauen. Drei neunundneunzig du Arschloch.“ Die Kids fingen an zu lachen. Sie steckten Pauli an, sie weinten Tränen. Pauli hatte das gelesen, fast ohne Stocken. Glatt vom Papier.
Selbst Trifter lachte Tränen. „Siehste, geht doch“, sagte er, und legte Pauli den andern Text noch mal vor. „Versuchs noch mal.“
Pauli nahm sich zusammen. Es ging. „Jouh“ johlte Bübchen. „Aus einem gescheiten Arsch kommt auch ein gescheiter Furz.“ Das hatte ein erneutes Lachen zur Folge, doch Trifter bat um Ruhe. „Nur nicht vulgär werden, oder habt ihr auch solche Texte?“ Die Kids johlten erneut, dann konzentrierten sie sich wieder auf das lesen.
In welcher Schule, dachte sich Dennis, wäre so was wie eben wohl möglich gewesen? Das war schon einmalig. Einmalig war vor allem die Rückbesinnung auf die Konzentration an der Sache. Sie wussten, warum sie lernten.
Es gab schwierige Texte. Dennis, der doch hervorragend zu reden wusste, stockte ab und zu. Er war nicht mehr in Übung. Vor allem, den Text so vorzulesen, dass jeder sofort verstand, worum es ging, war für ihn sehr schwierig geworden. Dennis hatte noch viel zu lernen. Er nahm sich vor, seine Bücher in Connys Haus laut zu lesen.
7.
Am Nachmittag war Dennis wieder super vorsichtig. Er wurde nicht verfolgt. Er traf Conny lernend vor und bat sie darum, den Text, an dem sie gerade saß, mit ihr abwechselnd laut zu lesen. So war es lustiger. Sie sprachen über den Text. Sie analysierten ihn. Das wiederum war Dennis Stärke. Er konnte viel über die handelnden Figuren und ihre Gefühle sagen, warum sie das sagten und nichts anderes. Warum sie freiwillig in den Tod gingen oder Gewissensbisse entwickelten. Das war Dennis Gebiet.