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Irgendwann zwischendrin sagte Conny: „Warum haben wir das nicht schon viel früher gemacht?“ Du sagst da Dinge, die ich mir erst mühsam erarbeiten muss. Das kommt bei dir mit einer Leichtigkeit, dass ich nur staunen kann. Willst du nicht an meiner Stelle das Abitur machen?“
Dennis grinste, „du weist nur zu gut, dass ich schlecht lese. Mein Wissen bezieht sich auf die Fähigkeit zur Analyse von solchen Dingen. Meine Stärke ist es, mit Menschen umzugehen. Schick mich mal in eine Chemie oder Physikprüfung. Ich weiß nicht mal, was das genau ist. Ich kann dir ein einfaches Klärwerk bauen, ich habe das da unten gemacht, und sehr erfolgreich. Warum das so geht und nicht anders, das kann ich dir nur mit meinen eigenen Worten erklären aber nicht wissenschaftlich.“
Conny hatte schon verstanden. Dennis war ein Genie, aber ohne jede wissenschaftliche Grundlage. Er bezog sein Wissen aus dem Bauch und aus dem Leben. Intuitiv. Aus der Beobachtung und aus der Analyse und aus einer Art innerer Ahnung. Sie wusste, dass Dennis neugierig und offen war. Er wollte lernen. Er war gierig nach Wissen. Sie war sich dennoch bewusst, dass Dennis seine ganz eigene Entwicklung hatte. Sie versetzte ihn in die Lage, so zu sein, wie er war.
Sie fühlte, dass eine Regelschule dieses unvergleichliche Talent sicher zum Versiegen gebracht hätte. Sie wusste, was Dennis über Zwang dachte. „Flieg“, dachte sie. „Bleib frei wie ein Vogel, und lass mich von dir Lernen, solange es geht“.
Dieses Wissen über Dennis durchflog sie wie ein Blitz, dann widmeten sie sich wieder dem Text.
„Dennis“, sagte sie nach einer Weile. „Willst du mir noch mal helfen? Es gibt da einen schwierigen Text. Schiller. Das ist Prüfungsthema. Ich hatte mir das für das Wochenende vorgenommen, aber wenn du… .“
Dennis nickte und Conny brach ihren Satz ab. Dann widmeten sie sich dem „Wallenstein“. Auch hier wollte Dennis wieder abwechselnd lesen, wie in einem Theaterstück. Conny sah, dass es Dennis anstrengte, was ihr selbst so leicht fiel. Als es dann an die Analyse ging, änderte Dennis seine Taktik. Er stellte Fragen. Er wies Conny mit wenigen Worten auf mögliche Zusammenhänge hin, er forderte sie auf, selbst nachzudenken und eigene Schlüsse zu ziehen. Sie waren noch mitten im Text, als es klingelte.
Dennis war kurz angebunden. „Wir sind mitten in der Arbeit. Kocht was schönes. Wenn’s fertig ist, dann ruft uns.“ Auch das war wieder typisch für Dennis. Sie beendeten den Text mit Ruhe. Conny gab Dennis einen Kuss. „Mann. Jetzt hab ich endlich verstanden, um was es da geht. Du hast mir sehr geholfen.“
„Dafür sind Freunde da“, sagte Dennis lapidar. Dann gingen sie in die Küche. Die Freunde waren gerade fertig. Es gab Lamm mit Reis, Salat und Gemüse. „Der Dicke“ wollte ein Bier. Trifter und Dennis begnügten sich mit Wasser. Laura und Conny nahmen, was grade da war, Berliner Schorle.
Nach dem Essen leckte sich „der Dicke“, der immer noch so dünn war wie eh und je, die Finger. „Kann ich nicht öfter kommen?“ Conny lachte. „Klar. Immer, wenn du willst.“
„Dass’n Angebot“, sagte „der Dicke“ und grinste, „und nun mal zu dir, Dennis. Bin ich froh, dass du wieder hier bist. Hab schon Gewissensbisse gehabt.“
Dennis antwortete rund heraus. „Es hat sich gelohnt. Ich bin mit neuen Erkenntnissen wiedergekommen. Wenn ihr mir das erlaubt, dann kann ich jetzt für Conny und die Stiftung viel mehr tun als damals. Es hat also auch sein Gutes. Und nun erzähl mal. Conny soll das jetzt auch mal hören. Conny kann nämlich das Maul halten. Wenn sie’s nicht hören will, soll sie rausgehen.“
„Der Dicke“ erzählte kurz. Dann kam er auf den Punkt. Das Problem ist deine Illegalität. Dein Aussehen könnten wir verändern. Aber so ein Pass ist nicht so leicht zu besorgen, wie du dir das vorgestellt hast.“
Dennis winkte ab. Er fragte Trifter: „Was ist mit der Schulpflicht?“ „Is’ vorbei, flötete Trifter. Du bist sechzehn. Du bist frei. Es gibt noch ein mögliches Problem mit der Lehrpflicht, aber das können wir regeln. Du kannst Lehrling bei der Stiftung werden. Das Einzige ist, dass wir deinen Herkunftsnachweis ordentlich dokumentieren. Wir brauchen also Papiere.“
Dennis nickte. „Hört sich gut an. Nun erzähl mal von meiner Weste.“
„Mann“, sagte Trifter, „das ist die größte Überraschung. Die haben eine Isotopenbestimmung gemacht. Das ist ein absolut sicheres Verfahren. Und nun halt’ dich fest. Die Weste, der Dolch und das Schwert sind aus dem Jahr 300 vor Christus. Du warst 2300 Jahre zurück in der Vergangenheit.“
„Die haben die Messung zweimal gemacht, weil sie das nicht glauben wollten. Der Erhaltungszustand spricht dagegen, haben sie gesagt. Wie ist das möglich? Kein bisschen Rost. Über den Stahl haben sie verwundert den Kopf geschüttelt. Sie wussten nicht, dass man damals einen so harten Stahl herstellen konnte. Die Weste, Mann, die haben Rotz und Wasser geheult. Ein 2300 Jahre alter Stoff, der so gut wie neu ist, mit Spuren von Schweiß, die erst ein paar Tage alt sind. Das Blut, dass sie gefunden haben ist allerdings wieder 2300 Jahre alt. Es stammt von verschiedenen Personen. Die waren aus dem Häuschen. Natürlich wollten die wissen, wo das her ist. Und dann noch der Stein. 1 Karat sind 0,2 Gramm. Sie wollten den Stein nicht ablösen und haben das Gewicht geschätzt. Sie kamen auf runde 30 Gramm. Das entspricht 150 Karat. So einen Stein, haben sie gesagt, gibt es nur noch einmal in der Welt. Er kommt aus Indien. Sie konnten nicht sagen, was der wert ist. Jede Schätzung geht da dran vorbei, haben sie gesagt. Das gesamte Schwert hat einen Wert, der in der Welt einmalig sein dürfte, wenn wir mal die Preise für Diamanten oder die Versteigerungspreise bei Christies für eine Preisschätzung heranziehen.“
„Das Ganze liegt längst im Safe. Nicht mehr in der Stiftung. Nein in einem Banksafe. Hinter einer dicken Panzertür. Kostet uns ein kleines Vermögen, ist aber hundertprozentig sicher.“
„Außerdem haben sie gesagt, diese Weste da sei indianisch. Genaugenommen aus Südamerika. Auch das konnten sie bestimmen. Nur verstanden sie nicht, warum das so alt ist. Die Inkas lebten vor höchstens 800 Jahren. Davon gibt es verhältnismäßig viele Funde. Man weiß, dass es in Ecuador schon 4000 vor Christus eine Hochkultur gab. Darüber weiß man fast nichts. Dann gab es etwa 850 bis 200 vor Christus noch eine Hochkultur, die sie Chavin de Huánar genannt haben (er las das von einem Zettel ab). Davon gibt es nur wenige Funde. Genaues weiß man nicht. Sie meinten, dass die Stücke wohl am ehesten aus dieser Kultur stammen könnten. Sie ist so alt wie diese Weste.
Dennis nickte. Dann weiß ich zumindest, wann ich dort war. Ich weiß ja, dass ich in den Anden war. Die Entfernungen dort kann ich nur in ungefähren Tagesmärschen beschreiben. Wenn ich einen Atlas hätte, könnte ich euch wenigstens in etwa zeigen, wo ich war. Conny lief schon raus und kam mit einem Atlas zurück.
„Moment. Amazonas ist wo? … wie misst man das hier in Kilometern?“ Conny zeigte es ihm. „Naja, nur so ungefähr. Wenn man von hier aus geht.“ Er zeigte dabei ins obere Drittel des Amazonasgebiets, „dann sind das etwa 1500 Kilometer in südwestlicher Richtung. Da gab es Berge, die schätze ich mal 2000 Meter hoch waren oder auch 3500. Vorgebirge. Wie zeigt man diese Entfernung auf dem Atlas?“
Trifter und Laura rechneten. „Naja“, vollendete Dennis den Satz, „jedenfalls zog sich das Reich von der Grenze von Panama bis in den Süden von Südamerika. Wo das endete, weiß ich nicht genau. Nur die Westküste - also westlich der Anden gehörte nicht dazu.“
„So riesig“, fragte Laura. Das ist ja fast der ganze Kontinent.“
Dennis nickte. Dann zeigte er auf die Karte. „Etwa von hier bis hier bin ich gekommen.“ Achselzuckend fügte er hinzu: „Ich bin viel gereist.“ Trifter sah Dennis ungläubig an. „Doch nicht etwa zu Fuß?“
Dennis lächelte, „ich hatte es bequemer. Ich hab mich tragen lassen. Aber die Indios sind höllisch schnell gewesen.“ Er erzählte von den Läufern, der Sänfte und den Kriegern. „Der Dicke“ war angehender Jurist. Von solchen Sachen hatte er keine Ahnung. Dass so ein Stein, wie Dennis ihn da hatte, besonders geschützt werden musste, das war ihm natürlich klar.
„Nun noch mal zu der andern Sache“, bat er Dennis um seine Stellungnahme.
Dennis erzählte, was er sich überlegt hatte. „Ich denke, es ist das Beste, wieder als Dennis aufzutauchen. Mein Aussehen kann ich verändern. „Der Dicke“ weiß wie. Meine Mutter kann sicher beschwören, dass ich Dennis bin. Sie wird noch irgendwo meine Geburtsurkunde haben. Vielleicht kann ich sagen, dass ich damals einfach ausgebüchst bin. Ich hatte die Nase voll. Ich wollte die Welt sehen. Naja. Sowas in der Art, und ich hatte keine Lust, mal einen Brief zu schreiben. Launen eines vierzehnjährigen halt. Dann könnte ich als Dennis wiederaufstehen. Man wird vielleicht einen Frachter oder einen Kapitän finden, der schwört, er habe mich im Schiffsraum mitgenommen. Ich habe meine Überfahrt abgearbeitet. Vielleicht bin ich auch als blinder Passagier mitgefahren. Lasst euch mal was einfallen.“
Es war minutenlang still. Dann sah Trifter den Dicken an. „Wir können schlecht sagen, wir hätten Dennis auf eine Forschungsreise geschickt. Wir müssen uns eine Geschichte für ihn ausdenken.“
Der angehende Jurist dachte lange nach. „Die Sache mit der Medikamentenmafia macht mir immer noch Sorgen. Wir sollten Dennis Wiedergeburt nicht an die große Glocke hängen. Vielleicht kann er offiziell in die Dienste von Conny treten. Als ungelernte Kraft. Mülleimer raustragen und so. Natürlich nur offiziell. Jedenfalls sollten wir kein öffentliches Freudenfeuer für Dennis anzünden. Das muss gut vorbereitet werden. Jeder muss auf seinem Posten sein. Vielleicht kann er uns auch eine Postkarte aus Buenos Aires schicken. Die ist ein paar Wochen unterwegs. Dann kann er in zwei Wochen im Hafen von Hamburg abgeholt werden. Sowas lässt sich leicht fälschen und kostet auch nicht viel.“
Er fuhr fort: „Dann kann seine Mutter beeiden, dass Dennis ihr Sohn ist und alles geht seinen bürokratischen Gang. Laura und Conny tun so, als sterben sie vor Freude, wenn sie ihn wiedersehen. Vielleicht sollten wir aber erst Connys Abitur abwarten, falls es wider Erwarten doch einen Rummel gibt. Dennis war schließlich eine ziemlich bekannte Persönlichkeit, ihr wisst ja selbst. In der Zwischenzeit kann Dennis etwas über das heutige Südamerika lernen. Alles, was er wissen muss. Es wird ihm nicht schaden. So wie ich dich kenne, Dennis, wird es nicht lange dauern, dann willst du noch mal dahin. Ich würde es nicht anders machen.“
Das war eine lange Rede und der Beginn eines noch längeren Abends. Wie gut, dass das Wochenende vor Ihnen lag. Laura und Conny hatten schulfrei. Die andere Arbeit konnte aufgeschoben werden.
Sie diskutierten lange. Schließlich brach „der Dicke“ das Gespräch ab. „Ich denke mal, heute werden wir nichts mehr beschließen. Nicht im Detail. So oder so ähnlich machen wir das. Trifter und ich werden uns die Einzelheiten überlegen. Wir werden das deichseln. Dennis wird Erdkunde und sowas büffeln. Die Landschaft kennt er ja, aber er weiß nichts über heutige Städte, über Länder, über politische Strukturen. Vielleicht kann Laura ihm dabei helfen. Laura kann ihre Arbeit in der Stiftung etwas vernachlässigen. Sie hat dort ein paar gute Leute sitzen, die sie in den nächsten Wochen, zusammen mit Trifter, vertreten können. Wichtig ist jetzt ein lückenloser Nachweis der Identität, auch wenn Dennis sich selbst spielt. Ich sage euch das als angehender Jurist. Naja. Und natürlich als euer Freund.“
„Wir brauchen mindestens zwei Wochen, bis wir alles geregelt haben. Ich denke die Postkarte sollte höchstens zwei Tage vor Dennis Eintreffen in Hamburg hier ankommen. Sonst wird nur unnötig blöde nachgefragt.“
Sie verabschiedeten sich. Die Sache war im Groben abgemacht.
So hatte Dennis in wenigen Stunden Aussicht auf eine alte und eine neue Identität bekommen. Er war froh. Er wollte sich nicht verstecken.
Die paar Wochen würde er lernen, so wie das „der Dicke“ gefordert hatte. Er sah Laura an. „Hilfst du mir?“ Er sah die Antwort in Lauras Gesicht. Er würde bald viel mehr wissen über diesen Kontinent.
„Ich habe einen Computer“, orakelte Conny. „Den könnt ihr benutzen, um im Internet zu recherchieren. Laura weiß, wie das geht. Bücher besorgen wir dir aus der Leihbücherei. Aber das können wir morgen besprechen. Ich will ins Bett.“
Auch Dennis und Laura zogen sich zurück.
„Ist es das was du wolltest“, fragte sie, als sie nebeneinander lagen.
„Ich glaube schon“, antwortete Dennis.
Als sie am nächsten Morgen aufwachten, streckte sich Dennis erwartungsfroh. „Heute freue ich mich auf das Frühstück. Brötchen, Kaffe, Käse, Speck, Tomate… all das.” Laura lief, um Brötchen zu holen. Dennis machte Kaffee, briet Speck und Eier und deckte den Tisch.
Als Conny herunterkam war alles fertig. „Ihr seid die besten“, lachte sie und goss sich Kaffee ein.
8.
Auch Dennis hatte heute richtig Hunger. Er hatte eine Perspektive. Sie war in greifbarer Nähe. Und er hatte eine konkrete Aufgabe. Er musste seine Legende glaubwürdig stricken.
Dennis hatte sich schon beim Zubereiten des Frühstücks so seine Gedanken gemacht. Er schob es zunächst auf, das auszusprechen. Jetzt hielt er eine lange Rede, immer wieder unterbrochen durch Essen und Trinken.
„Hört mir jetzt mal zu, und unterbrecht mich nicht. Heute ist der erste Tag für mich, wo ich all das vorbereiten muss, was jetzt vor mir liegt. Conny hat mich gestern mitlernen lassen. Das hat uns, glaube ich, beiden geholfen. Das, was heute vor mir liegt, wird auch Conny nützen, denn die Analyse ist Connys Schwachpunkt, hat sie gestern gesagt. Es geht nicht darum, jetzt irgendeinen Weg nachzuzeichnen. Es geht darum, den einen, absolut glaubwürdigen und nachvollziehbaren Weg zu erfinden.“
„Wir brauchen eine Analyse der verschiedenen Fakten, die Auswahl einer glaubwürdigen Reiseroute, und vor allem das Hineindenken in die Situation und die Menschen des heutigen Südamerika. Davon weiß ich nichts. Dafür brauche ich jetzt eure Hilfe. Den Atlas zu lesen, das habe ich vergessen. Von Schiffen hab ich keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie und wo ich diese Informationen möglichst schnell herbekomme. Es gibt viele Dinge, die ich ganz neu lernen muss. Conny, du bist die älteste. Du hast wahrscheinlich viele Kenntnisse durch deine Reisen. Hilfst du mir heute?“
Zu Laura gewandt sagte Dennis: „Dein Organisationstalent ist deine Stärke. Du hast viele Kontakte. Du sagst, du kannst mit dem Computer umgehen. All das brauche ich jetzt.“
Die beiden Mädchen nickten. Dann räumten sie den Küchentisch leer. Conny breitete den Atlas aus.
„Zunächst mal: Warum bin ich damals abgehauen, wie hab ich das gemacht und wohin bin ich gegangen? Hab ich Geld gehabt? Was hab ich sonst alles gebraucht?“
Sie überlegten. „Kannst du dich erinnern, dass du damals in der fünften oder sechsten Klasse so einen Durchhänger hattest“, fragte Laura. Das wusste Dennis nur zu gut. Es wurde ihm damals alles zuviel.
„Wenn dir vor zwei Jahren dasselbe passiert ist. Wenn dir alles, ich meine alles, über dem Kopf zusammengeschlagen ist, dann hättest du einen Grund für eine Auszeit gehabt. Einfach mal abhauen. Alles liegen lassen. Nichts wie weg. Vielleicht wolltest du nach zwei oder drei Wochen wiederkommen, aber dann hast du dir das anders überlegt.“
Dennis nickte. „So verantwortungslos bin ich nicht. Aber wer mich nicht genug kennt, der weiß das nicht. Das geht. Aber nun zur Route. Was hab ich gemacht?“
„Ich denke, du bist mit dem Schiff gefahren. Zollkontrollen und so was wolltest du nicht. Vielleicht bist als blinder Passagier auf ein Schiff und nur durch Zufall in Südamerika gelandet?“
Dennis nickte. „Wie lange dauert eine solche Passage? Welche Häfen bin ich angelaufen? Wie habe ich mich versteckt? Wie habe ich mir Essen organisiert? Dabei kann mir Laura später helfen. Aber das klingt gut. Ich muss weit weg von Europa gewesen sein. Vielleicht kann ich dann durch Zufall die Weste und die Dolche gefunden haben. Deshalb konnte ich auch nicht so einfach zurückkommen. Vielleicht bin ich ausgeraubt worden. Das können wir glaubwürdig stricken.“
„Gut“, sagte Laura. „Sehn wir uns mal den Atlas an. Da gibt’s auch Seiten mit Schiffsrouten. Wo könntest du hingefahren sein?“ Sie einigten sich auf die Ostküste. Dann schlug sie die Seite von Südamerika auf. „Das könnten Caracas sein, Georgetown, Panamaribo oder Cayenne. Vielleicht bist du dann den Amazonas hinaufgereist. In den Anden gelandet und dann irgendwo weiter bis Lima oder La Paz gekommen. Du hast eine Weile bei den Buschindianern am Amazonas gelebt und gute Taten vollbracht. So wie du das immer machst. In den Anden bist du zu Fuß gelaufen, bist mal krank geworden oder so. Das dauert schon seine Zeit. Lass uns mal ausrechnen. Das sind mindestens 3500 Km. Wenn du dann an der Westküste ein Schiff genommen hast und durch den Panama Kanal zurückgefahren bist, könntest du jetzt, rein rechnerisch, etwa in zwei, drei oder vier Wochen in Hamburg ankommen.“
„Das klingt plausibel“, sagte Dennis. „Ich muss dann aber mehr über die Städte, die politischen Strukturen und so weiter wissen.“ „Das ist kein Problem“, sagte Laura. “Das geben wir im Internet in die Suchmaschinen ein. Dann haben wir alles. Wir laden das auf unseren Rechner. Du kannst dann alles in Ruhe durchlesen. Wenn du mehr Wissen brauchst, auch das finden wir im Internet. Organisationen, Namen, Personen. Alles.“
Für Dennis waren das „Böhmische Dörfer“, aber Laura lachte, „das zeig ich dir.“
So einfach und glatt, wie das eben beschrieben wurde, war das in Wirklichkeit nicht. Sie hatten sich langsam an diese Lösung herangetastet und viele andere Möglichkeiten erwogen, und sie sprachen noch über viele Details.
Sie hatten vor Eifer das Mittagessen ganz vergessen und wurden von den vielen Überlegungen etwas schläfrig. Dann meinte Dennis, „darüber muss ich jetzt mal nachdenken.“
„Find ich auch“, sagte Conny. Kommt mal mit. Sie führte die Freunde in ihr Schlafzimmer. Es gab da ein riesiges Bett. „Ich glaub’, ich brauch’ euch jetzt.“ Sie warf sich hinein. Die Freunde folgten. Sie kuschelten sich zusammen. Sie sprachen noch ein wenig, dann fielen ihnen die Augen zu.
Dennis wurde als erster wieder wach. Er sah auf seiner Uhr, dass er anderthalb Stunden geschlafen hatte. Es war gegen sechs. Er hatte Kohldampf. Er löste sich leise aus der Umarmung, ging hinunter und fing an zu kochen. Irgendetwas gab es immer in Connys Haushalt.
Er war so vertieft, dass er Laura gar nicht hörte. Sie stellte sich hinter ihn, schlang die Arme um ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Dauert’s noch lang“, fragte sie. Dennis schüttelte den Kopf. „Willst du Conny dazu holen?“
Das war nicht nötig. Conny war aufgewacht und war dem Duft des Lammfleisches gefolgt, das Dennis in der Pfanne hatte.
„Mmm. Da bin ich ja gerade richtig. Hast du auch was für mich?“ Sie war ganz Kind.
Sie deckten den Tisch. „Wirklich gut“, sagte Conny mit vollem Mund. „Wo hast du das gelernt?“ Dennis lachte. „Auch ich hab ein paar verborgene Talente, aber nun mal ernst. Ich danke euch für den Tag. Darauf kann ich jetzt aufbauen. Für die Details brauche ich noch eine Weile. Kann ja immer sein, dass mal jemand etwas genau wissen will oder irgendwo nachfragt. Conny. Wann hast du deine nächsten Konzerte?“
„Direkt nach dem Abitur hab ich zwei Konzerte in Berlin und in Wien. Dann das Sommerkonzert auf der Wartburg, und im Herbst bin ich auf einer großen Tournee in den Städten Buenos Aires, Santiago de Chile, Lima, La Paz und Bogota. Im Winter hab ich dann wieder meine Weihnachtskonzerte, und im Frühjahr bin ich in Mailand, Madrid und in London. Im Sommer soll ich dann in China spielen. Darauf freu ich mich ganz besonders. Dann kommt wieder die Wartburg. Mehr Termine hab ich noch nicht, das Abitur geht vor.“
Dennis fand das hochinteressant. „Das passt ja prima. Dann kann ich mich erst mal hier in Berlin ein wenig um die Talentschule kümmern, und nach deinem Konzert auf der Wartburg können wir zusammen nach Südamerika fliegen. Die Zeit können wir für Recherchen in Sachen Musik nutzen. Dann kann ich im Winter noch mal nach Südamerika reisen. Diesmal aber in meiner eigenen Angelegenheit.“
„Mann, du legst ein Tempo vor“, sagte Laura. „Da wird mir ja schwindlig“. Conny lachte. „Anders kenn ich Dennis nicht. Du etwa?“
Dann wechselte sie das Thema. „Was haltet ihr von Frischluft? Vielleicht etwas Spreewald? Wir könnten mit dem Auto fahren und dann laufen.“ Die Freunde fanden, das sei eine gute Idee.
Es wurde ein schöner Abend.
„Morgen muss ich aber lernen“, meinte Conny. „Englisch und Französisch.“
Beim Laufen erzählte sie mehr. „In der Prüfung werden wir irgendwelche Texte kriegen. Vielleicht zum übersetzen oder für eine Analyse. Vielleicht auch einen Aufsatz zu einem bestimmten Thema. Genau weiß das keiner. Die Vokabeln müssen sitzen. Meine Mutter hört mich ab. Aber vielleicht können wir noch ein bisschen über Textanalyse sprechen. Diese Dichter und Philosophen da. Robbespiere, Shakespeare und wie sie alle heißen. Das ist echt schwierig. Auch wenn sie neuere Autoren nehmen, so wie Sartre oder Böll, dann geht’s immer um irgend etwas Hintergründiges.“
Dennis ließ sich das erklären. Er hörte genau zu. Dann überlegte er lange. „So wie du das sagst, geht es um Liebe, um Tod und um Moral. Darf ich jemanden Töten? Warum liebt A den B aber nicht umgekehrt, was ist die Legitimation der Herrschaft, lebt Gott?“ Conny nickte. „Ja genau so.“ Dennis überlegte weiter: „Deine Musik da. Was ist die Legitimation für deine Musik?“ Conny schaute ihn verblüfft an. „Wieso. Diese Musik braucht doch keine Rechtfertigung.“
Dennis schüttelte den Kopf.
„Du nimmst das zu selbstverständlich. Du hinterfragst die Musik nicht. Hast du mir nicht mal erzählt, das sei höfische Musik? Es gibt aber auch Romantiker. Bürgerliche Musik nennt man das wohl. Und es gibt ganz andere Richtungen. Denk mal an Schlager, Jazz oder Volksmusik. Jede Musik hat doch ihr eigenes Publikum. Schau doch mal, wer in deine Konzerte kommt. Sind das nicht Leute mit Geld, oder zumindest das, was man das Bildungsbürgertum nennt? Das sind doch nicht die Berliner U-Bahnkids oder die Arbeiter. Also bezieht doch jede Musik ihre Legitimation aus den Menschen, für die sie geschrieben ist. Egal, ob es einfache oder komplizierte Musik ist. Hast du nicht den Anspruch „Kunst“ zu machen? Ist das nicht höchste Perfektion? Und doch. Wenn ich an die Musik bei den Indios denke, das war vielleicht schräg, aber es war absolut perfekt. Es war ganz in die Herzen aller Menschen gespielt. Nicht nur in die Herzen einiger weniger.“
„Aua aua“, meinte Laura. Jetzt wird’s aber kompliziert. Wir haben nun mal ganz unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft. Unsere U-Bahnkids sind doch nicht die Politiker, sie sind nicht die Arbeiter, die Studenten, oder die Beamten der Ausländerpolizei. Wie willst du alle mit einer einzigen Musik ansprechen? Außerdem gibt es eine Definition von Kunst. Eine Kunsttheorie.“
Davon hatte Dennis keine Ahnung. Er sah das praktisch.
„Wenn wir das herausgefunden haben, dann haben wir gefunden, was ich mit Musik meine. Conny denk mal an deine Konzerte in Mailand, auf der Wartburg, auf dem Campingplatz oder vor den Ratten im Berliner Tunnel. Denk auch an deine Übungen vor zwei Tagen mit der dritten Geige. Vergleich das mal. So viele unterschiedliche Zuhörer und doch haben dir alle andächtig zugehört. Und dennoch: Es war noch nicht perfekt. Es hatte immer irgendwas gefehlt. Genau danach suchen wir. Vielleicht finden wir in Südamerika die Antwort auf unsere Fragen.