Da ist mehr, noch so viel mehr ...

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Der Tag kam, an dem Sigi mit seiner Clique aufbrach.
Ich war so traurig. Morgens standen wir vor den Garagen, wo der vereinbarte Treffpunkt mit allen anderen war. Sigi packte die Reisetasche in den Kofferraum seines Autos und überprüfte das auf dem Trailer angehängte Motorboot, ob alles gut verschnürt und verzurrt war. Langsam trudelten die Freunde der Reihe nach ein, voller Vorfreude und guter Laune, während meine Stimmung immer trauriger wurde. Unter lautem Gelächter stiegen sie in die Autos. Ich wollte mir den Abschiedsschmerz vor den anderen nicht anmerken lassen und kämpfte mit den Tränen. Ein brennender Kloß drückte sich in meinen Hals.
Sigi kam auf mich zu, umarmte mich und sah mir liebevoll in die Augen. Er vermittelte mir wieder eine tiefe Geborgenheit und gleichzeitig eine Sicherheit, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. Es würde alles gut gehen und die Zeit des Wiedersehens würde kommen. Schließlich musste er mich loslassen. Er stieg als letzter ein und startete sein Auto. Der Motor brummte und sie fuhren los. Drei Autos hintereinander.
Da stand ich nun hilflos und unglücklich und winkte ihnen nach, solange ich sie sehen konnte. Unmittelbar danach eilte ich zu meinem Auto. Ich wollte nur irgendwohin, wo mich keiner sah, damit ich meinen Tränen freien Lauf lassen konnte.
Es dauerte, bis ich mich endlich beruhigte, und von diesem Moment an hielt ich mich an dem Gedanken an meinen Plan fest. Eine große freudige Überraschung würde das werden.
Endlich war es soweit, der Tag meines Vorhabens, mit dem Zug nach Rijeka zu fahren und weiter auf die Insel Rab zu reisen, kam näher. Am Freitag brachte mich meine Mutter um Mitternacht zum Bahnhof. Ich stieg ein und setze mich in ein Abteil, in dem bereits eine junge Mutter mit ihrem etwa siebenjährigen Kind saß. Die Frau sprach mich an. Überdreht sprudelte mein geheimer Plan aus mir heraus. Die Frau hörte mir aufmerksam zu und bot mir an, mich vom Bahnhof in Rijeka zur Fähre bringen zu lassen. Sie würde von ihrem Mann abgeholt werden, und er könnte einen kleinen Umweg in Kauf nehmen für meine bevorstehende Überraschung. Glückselig saß ich ihr gegenüber. Wenn´s läuft, läuft´s, dachte ich und konnte mich kaum mehr ruhig halten vor lauter Vorfreude auf das baldige Wiedersehen und Zusammensein mit Sigi. Als der Zug in unseren Zielbahnhof eintraf, stiegen wir gemeinsam aus und gingen auf den Mann meiner Zugnachbarin zu. Die Frau erklärte ihm meinen Plan und brachten mich zur Fähre. Ich bestieg das Schiff und suchte mir an Deck einen schönen Platz. In tiefen Atemzügen sog ich diese wunderbare Luft ein. Den salzigen Duft des Meeres, die Prise, die sofort das Gefühl von Urlaub auslöste und zusätzlich die Freude verstärkte, so nah am Ziel zu sein. Das tat gut. Die Fähre legte ab und langsam merkte ich, wie mir die Müdigkeit in alle Glieder kroch.
Irgendwann rüttelte mich ein braun gebrannter Mann aus dem Schlaf, um mir mitzuteilen, dass wir gut angekommen seien. Da hätte ich beinahe das Aussteigen verpennt. Als Letzte verließ ich die Fähre.
Nun stand ich also auf der Insel Rab und fühlte mich trotzdem irgendwie verloren. Vom Ferienhaus der Clique wusste ich nur, dass es in der Nähe eines Hotels mit angesagter Disco lag. Am Informationsschalter der Fähre fragte ich, ob sie diese Unterkunft kennen. Die Dame am Schalter verneinte und verdrehte genervt die Augen. Vermutlich, weil viele Touristen vor mir schon »blöde« Fragen gestellt hatten. Da fiel mir ein, dass ich die Telefonnummer hatte. Ich sah mich nach einer öffentlichen Telefonzelle um, wechselte mein Geld in die richtige Währung und ging zum Telefonieren. Ich wählte die Nummer und eine automatische Ansage teilte mir mit, dass diese Nummer nicht existierte. Das konnte doch nicht wahr sein! Niedergeschlagen legte ich den Hörer auf die Gabel und verließ die Telefon-Kabine. Jetzt war ich so kurz vorm Ziel und merkte, dass ich unnötig Zeit verlor. Was mach ich, was mach ich, was mache ich?, hämmerten meine Gedanken wie auf einen Amboss. Eine Unruhe übermannte mich und ich ging ein paar Schritte auf und ab, um mich wieder zu beruhigen. Aber das funktionierte nicht. Die Aufregung war zu groß. Die Sonne zu heiß. Und ich inzwischen kurz vorm Verzweifeln.
Plötzlich trat ein junger Mann auf mich zu und fragte auf Deutsch: »Was ist denn dir passiert?«
»Ich will meinen Freund, der seit ein paar Tagen hier ist, überraschen. Jetzt weiß ich die genaue Adresse nicht, und die Telefonnummer, die ich habe, ist auch falsch. Keine Ahnung, was ich jetzt machen soll und wie ich ihn finden kann.«
»Hm«, sagte er, »hast du denn irgendeinen Anhaltspunkt, irgendetwas, was uns Aufschluss geben kann, wo dein Freund untergebracht ist? Hat er dir nicht erzählt, wie es dort aussieht oder ob etwas Besonderes in der Nähe ist?«
»Doch! Eine angesagte Disco neben einem Hotel.«
»Ha! Die kenn ich! Da war ich gestern mit meinen Freunden. Es gibt auch nur eine auf der Insel. Das ist einfach. Ich kann dich hinfahren. Ich hole nur schnell mein Auto vom Campingplatz unten am Meer. Warte hier, ich bin sofort wieder da.«
Jetzt stand ich hier und wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte vor Erleichterung. Die Tränen wegzwinkernd verharrte ich einen Augenblick und dachte kurz nach, ob ich denn zu einem Fremden einfach ins Auto steigen sollte. Nachdem ich mich jedoch schon so vertrauensvoll mit ihm unterhalten hatte, hörte ich auf mein Bauchgefühl, und als er vor mir anhielt, stieg ich ein. Während der Fahrt plauderten wir. In einer kleinen Gesprächspause grübelte ich, wie es gerade im richtigen Augenblick zu dieser Begegnung gekommen war. Deshalb fragte ich ihn: »Warum bist du denn überhaupt zur Anlegestelle gekommen?«
»Ich hatte plötzlich so ein starkes Gefühl, dass ich meine Eltern anrufen sollte, um mich wieder einmal zu melden. Ich wollte zur Telefonzelle. Als ich dich dann dort so hektisch auf- und abgehen sah, dachte ich, da stimmt was nicht, du könntest bestimmt Hilfe gebrauchen. Ehrlich gesagt hast du richtig verzweifelt ausgesehen.«
Dankbar lächelte ich ihn an. Hihi, das kann kein Zufall sein, da will wohl wirklich jemand, dass ich an mein Ziel komme.
Kurz darauf erreichten wir den Ort. Das Hotel und die Disco waren nicht zu übersehen. Geld für die Fahrt wollte der junge Mann nicht. Ein »Danke« reichte ihm und ich stieg aus.
Angekommen. Was hatte ich ein Glück: Diese netten und hilfsbereiten Menschen, denen ich begegnet war.
Nun war es an der Zeit, meine Freunde zu finden und vor allem: Sigi. Tanja hatte ich von meinem Plan erzählt. Sie hatte alle anderen überredet, an diesem Tag nicht mit dem Motorboot rauszufahren, sondern gemütlich am Hausstrand zu verweilen. Dort saßen sie beieinander und unterhielten sich. Sigi saß mit dem Rücken zu mir. Langsam schlich ich näher, von hinten pirschte ich mich an, hielt ihm die Augen zu und fragte: »Na, wer bin ich?«
Sofort sprang er auf und drehte sich zu mir um. Mit ungläubigem, aber freudestrahlendem Blick schloss er mich in die Arme. Er konnte gar nichts sagen. So verweilten wir eine Zeitlang. Die anderen waren ebenso überrascht und fragten sich, wo ich denn jetzt herkäme.
Tanja klatschte in die Hände und rief einfach nur: »Bravo! Geschafft, Überraschung gelungen!«
Alle jubelten. Sie beendeten den Strandtag und zeigten mir die Ferienwohnung. Jedes Paar hatte sein Zimmer und Sigi somit ein freies Bett für mich. Auf der großen Terrasse stand ein Grill bereit. Eingekauft hatten sie schon und so ging es an die Vorbereitungen für einen Grillabend. Ich wollte nur noch geschwind meine Eltern anrufen und Bescheid geben, dass ich endlich gut angekommen war. Sigi begleitete mich zum angrenzenden Hotel, in dessen Lobby eine öffentliche Telefonzelle stand. Nachdem ich den Anruf erledigt hatte, umarmte er mich und sagte: »Am liebsten würde ich dich gar nicht mehr loslassen. Das ist so eine tolle Überraschung, das hätte ich nie für möglich gehalten. Ich freue mich riesig.«
Fest umschlungen standen wir da. Meine Müdigkeit war verflogen. Nach ein paar Minuten machten wir uns auf den Weg zurück zu den anderen zum gemeinsamen Abendessen. Wenig später zogen wir uns zurück. Endlich wieder nur wir beide.
Doch leider verging die Zeit wie im Flug. Sandra war nun mit dem Fahrer nachgekommen und der Montag, an dem ich mit ihm zurückfuhr, rückte näher. Kurzerhand entschied Sigi, seinen Urlaub zu verkürzen und mit nach Hause zu fahren, damit wir beide noch ein paar Tage zusammen hatten, bevor ich meine dreiwöchige Reise nach Amerika antrat.
Es war mehr geschenkte Zeit miteinander, die wir ausgiebig genossen. Jede freie Minute verbrachten wir miteinander, bis der Tag meiner Abreise kam. Sigi brachte meine Kollegin Gabi und mich zum Flughafen. Wir gaben die Koffer ab und frühstückten noch zusammen. Die letzte Umarmung. Ich wollte Sigi nicht loslassen und er mich auch nicht. Meine Tränen musste ich runterschlucken, der Hals brannte.
Gabi räusperte sich und sagte: »Sorry Leute, aber wir müssen jetzt.«
Ich ließ ihn los, blickte mich ständig um, damit ich noch mal und noch mal winken konnte. Aber nach der Zollabfertigung verloren wir uns aus den Augen. Gabi hakte sich bei mir ein und führte mich langsam weiter. In dem Versuch, mich aufzumuntern, plapperte sie wie ein Wasserfall. So lange, bis der Flieger startete.
Nach der Mahlzeit und zwei Bordfilmen schlief ich ein. Diese Pause tat mir gut. Und danach fühlte ich mich besser.
In Los Angeles startete die zweiwöchige »internationale Busreise für junge Leute«. Wir durchfuhren den Westen und nächtigten jeden Tag in einer anderen Unterkunft. Wir sahen den Grand Canyon, die Wüste um Las Vegas, San Francisco. Und unsere Reisebegleiterin konnte alles wunderbar erklären.
Doch zwischendurch übermannte mich auch immer wieder die Sehnsucht und ich ließ keine Gelegenheit aus, nach Hause zu telefonieren. Das war allerdings nur mit Münzen möglich. Ich musste zuerst an Quartermünzen kommen. Dafür ging ich jedes Mal in ein Geschäft und bat um Quartermünzen für 10 Dollar. Das Kassenpersonal verneinte immer, weil sie ihr Wechselgeld nicht einfach herausgeben konnten. Als ich allerdings erklärte, woher ich kam, dass ich nach Deutschland telefonieren wollte, weil ich Sehnsucht hatte, griffen alle in die Kassen oder einen extra Tresor, um mir meine Dollarnoten in Quartermünzen zu wechseln. Dann suchte ich mir eine Übersee-Telefonzelle. Ich musste immer vier dieser Münzen einwerfen, die Verbindung aufbauen lassen und erst, wenn sich der Angerufene meldete, wurde ich vom Operator gefragt, ob ich das Gespräch annehmen wollte. Dafür musste ich möglichst viele weitere Quarter einwerfen. Währenddessen durfte Sigi keinen Ton sagen und beim ersten Mal befürchtete ich, dass er zwischenzeitlich auflegen würde. Das war spannend, aber dann konnte ich ihm das erklären und die Folgegespräche verliefen ohne weitere Aufregung, ob die Vermittlung klappen würde. Es waren immer nur wenige Minuten. Aber seine Stimme zu hören, tat mir unendlich gut und ich konnte hinterher gut gelaunt die Reise fortsetzen.
Zwei Wochen tingelten wir mit der Gruppe umher. Die dritte Woche verbrachten Gabi und ich in Santa Barbara. Wir fanden ein Hotel in Strandnähe. Ideal für entspannte letzte Tage bis zu unserer Abreise Richtung Heimat. Der Tag kam und voller freudiger Erwartung bestiegen wir das Flugzeug.
Wir landeten pünktlich in München. Die Zeit, bis unsere Koffer auf dem Förderband erschienen, zog sich in quälende Länge. Ich konnte es nun wirklich kaum noch aushalten, mich endlich in Sigis Armen zu sehen. Kurz vorm Ziel und doch so weit weg. Ungeduldig tippte ich ständig mit dem Fuß, bis Gabi mich darauf aufmerksam machte, dass es nerve. Okay, ich musste mich zusammennehmen und meine innere Unruhe bändigen. Ich atmete tief durch. Endlich sahen wir unsere Koffer. Wir schnappten sie uns und eilten ohne weitere Zwischenfälle durch den Zoll Richtung Ausgang. Da stand auch schon Gabis Mutter und winkte uns zu. Während der Autofahrt erzählte Gabi unentwegt von unserer Reise. Ich lächelte und genoss die Bilder, die ihre Schilderungen mir in Erinnerung riefen, mit der Idee, genau diese Erlebnisse bald mit Sigi teilen zu dürfen. Vor meinem Elternhaus luden sie mich ab. Etwas müde und gleichzeitig aufgeregt sperrte ich die Haustüre auf. Doch es war niemand da. Gut, es war ein Wochentag, alle arbeiteten, aber trotzdem hatte ich gehofft, dass irgendwer da sein würde. In der Küche stand ein Himbeerkuchen auf dem Tisch. Als Willkommensgruß. Ich blieb nicht lange daheim, denn ich hatte, wie man so schön sagt, Wespen im Popo. Mit dem Rad fuhr ich zu Oma und Opa. Dort berichtete ich von meinem Urlaub und lud sie für später zu Kaffee und Kuchen ein. Ich tauschte das Rad gegen das Auto meines Großvaters, damit ich zur Arbeitsstelle meiner Mutter fahren konnte. Opa brauchte das Auto heute nicht mehr und er wusste, dass ich mobil bleiben wollte. Sigi, nahm ich mir vor, auf jeden Fall heute noch zu treffen. Auf dem Weg zu meiner Mutter hielt ich in Rosenheim an einer Ampel an – und wen entdeckte ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite in seinem Wagen? Das war ja unglaublich. Was für ein Zufall. Sigi entdeckte auch mich, und ohne uns mit Handzeichen verständigen zu müssen, hielten wir nach der Überquerung der Kreuzung jeweils am Straßenrand an, rannten aufeinander zu und flogen uns regelrecht in die Arme. Tränen der Erleichterung und Freude rannen über meine Wangen, die Sehnsucht hatte ein Ende. Jetzt war alles gut. Sigi war für die Firma zu einem Kunden unterwegs und konnte sich die Zeit frei einteilen. So war er zu diesem Zeitpunkt losgefahren, weil er darin die größte Chance sah, mich zu Hause anzutreffen, um mich zu begrüßen. Natürlich verabredeten wir uns für den Abend. Ich stieg wieder ins Auto und fuhr weiter zur Arbeitsstelle meiner Mutter. Sie arbeitete damals in der Bibliothek eines Gymnasiums. Als ich an der Tür klopfte und die Klinke drückte, war sie allerdings verschlossen. Enttäuscht setzte ich mich auf die Treppe und wartete.
Plötzlich hörte ich Schritte im Treppenhaus. Meine Mutter bog um die Ecke. Jetzt wurde mir klar, dass sie die Bibliothek kurz zugesperrt hatte, um mich vom Sekretariat aus zu Hause anzurufen. Sie war kurzzeitig in Sorge gewesen, weil sie mich nicht erreichen konnte, erklärte sie. Umso schöner, dass wir nun wieder zusammen waren.
Am Abend kam dann endlich Sigi zu uns nach Hause. In meinem Zimmer erzählte ich ihm von meinen Reiseerlebnissen. Er hörte aufmerksam zu, während sein sanfter Blick auf mir ruhte. Dabei strich er mit einem Finger meinen Arm entlang und spielte mit einer meiner Haarsträhnen.
Nach einer Weile beendete ich meinen Reisebericht und legte mich in seinen Arm. Wir lagen schweigend auf meinem Bett und lauschten dem Herzschlag des anderen. Das war alles, was wir in dem Moment brauchten: Luft und Liebe und die Nähe zueinander.
Und dann sagte Sigi: »Lass uns doch zusammenziehen.«
Leben zu zweit
Unentwegt wälzten wir die Zeitungen und spürten Annoncen auf, die für uns interessant sein könnten. Wir nahmen Kontakt mit einem Vermieter auf, besichtigten die Wohnung, bekamen aber keine Zusage.
Eines Abends rief mein Onkel an. Er berichtete von einer Mieterin, die ausziehe, und fragte, ob ich nicht jemanden wüsste, der bei ihm einziehen möchte. Und ob ich jemanden wusste! Am besten sofort!
Voller Aufregung fuhr ich zu Sigi. »Wir haben eine Wohnung, wenn wir sie wollen!«, rief ich ihm entgegen. »In Aschau bei meiner Tante und meinem Onkel. Am Wochenende ist Besichtigung.«
Sigi sah mich verdutzt an. Dann fing er an zu lachen. »Gerade habe ich darüber nachgedacht, wie schrecklich eine Wohnungssuche sein kann. Und jetzt kommst du.«
So schnell kann es sich ändern. Na ja, ganz so schnell, wie ich hoffte, ging es nicht. Es waren noch ein paar Renovierungsarbeiten zu erledigen, die mein Onkel in Auftrag gab. Die Wände pinselten wir selber an und im Oktober 1989 wurde Aschau im Chiemgau unsere gemeinsame Heimat.
Unser Leben war sehr abwechslungsreich. Wir waren jung, hatten eine lustige Clique und unseren Spaß. So unbedarft und guter Laune, rundherum sorglos und ständig auf Achse. Doch bald wurde mir die Entfernung zur Arbeit von Aschau aus zu weit. Mit Sigi zusammen zu fahren passte zeitlich nicht. Er startete morgens noch früher als ich und konnte seinen Arbeitsplatz oft erst nach mir verlassen. Ich spürte, so war es nicht gut, und traf schweren Herzens die Entscheidung, mich um eine Arbeitsstelle in der näheren Umgebung zu kümmern. Ich bewarb mich im Nachbarort bei einem Spielwaren- und Kartenfabrikanten. Prompt wurde ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen.
Mit feuchten Händen saß ich dem Abteilungsleiter gegenüber. Das Gespräch verlief locker und meine Aufregung war schnell wie weggeblasen. Beim Verlassen der Firma hatte ich ein gutes Gefühl. Von meiner Seite her stand dem Arbeitsplatzwechsel nichts im Weg. Zu Hause erzählte ich Sigi voller Begeisterung von dem angenehmen Gespräch und dem sympathischen Vorgesetzten. »Ich hoffe sehr, sie nehmen mich, dann wird es leichter werden. Was meinst du?«
Sigi streichelte sanft über meinen Kopf. »Mach dir keine Gedanken, es kommt schon so, wie es sein soll.«
Ein paar Tage später meldete sich die Firma und sagte mir die Stelle zu. Also fuhr ich hin – zur Vertragsunterzeichnung.
Jetzt war es an der Zeit, bei meinem bisherigen Arbeitgeber zu kündigen. Und das stellte sich als gar keine leichte Aufgabe heraus, als ich merkte, wie ungern mich mein Chef gehen lassen wollte.
Neuer Arbeitsplatz
Das neue Team machte mir den Start leicht. Renate teilte sich mit mir ein Büro. Wir verstanden uns von der ersten Sekunde an. Schnell war ich eingearbeitet und bald schon gehörte ich zu den Spieletestern. Wir probierten mit den Entwicklern neue Ideen der Spieleautoren aus.
Besonders spannend fand ich die Wahrsage- und Tarot-Karten in unserem Sortiment. Sie erinnerten mich an einen Urlaub mit meinen Eltern in Kroatien. Damals war ich dreizehn gewesen und eine alte Frau hatte mir das Kartenlegen anhand von Rommeekarten erklärt. Ich war Feuer und Flamme. Damals. Wir übten und übten. Außerdem brachte sie mich dazu, sämtlichen Erwachsenen die Karten zu deuten. »Es geht um das Gefühl, das du bekommst und anschließend um die Umschreibung, also die richtigen Worte zu finden.« Bei unserer Abreise hatte mir die alte Dame wissend zugenickt, erinnerte ich mich wieder. Meine Neugierde war geweckt und ich erzählte Renate von meinem Interesse an diesen Karten.
»Lass dir ein Set kommen. Da ist doch nichts verloren. Du kannst es zur Auswahl bestellen und falls es dir nicht gefällt, gibst du es wieder zurück.«
Am nächsten Tag lag meine Lieferung im Büro. Es waren sechsunddreißig Karten mit verschiedenen Symbolen. Ein Anleitungsbuch lag bei, das die Zeichen erklärte und einige Legearten beschrieb. Das war ganz anders als damals mit den Rommeekarten. Ich klappte das Buch zu und sagte: »Na gut, da reicht die Mittagspause nicht, das alles zu begreifen. Ich nehme es mit nach Hause.«
»Jep!« Renate hielt den Daumen hoch. Ein paar Tage später fragte sie nach, wie weit ich mit den Karten sei.
»Ich übe schon an fiktiven Personen, die von mir Antworten erwarten«, erklärte ich kichernd.
»Dann bring die Karten doch mal mit und ich stelle mich als Testperson zur Verfügung. Das macht doch nur Sinn, wenn du Rückmeldungen bekommst«, sagte sie. Damit war unsere Beschäftigung während der Mittagspause am nächsten Tag schon gesichert.
»Zuerst mischst du die Karten und denkst entweder an dich und die Frage, die du gerne beantwortet haben möchtest, oder du versuchst an nichts zu denken, dann kommen Antworten auf ganz allgemeine Themen«, erklärte ich Renate.
Ich gab ihr die Karten und sie mischte mit ernster Miene.
»Wenn du soweit bist, legst du sie auf den Tisch und hebst den Stapel einmal ab. Anschließend übernehme ich.«
Sie folgte meinen Vorgaben. Es sah aus, als zitterten ihre Hände beim Mischen. Aber ich war selbst aufgeregt.
Endlich war sie soweit. Sie hob einen Stapel ab. Ich nahm die Karten auf und legte nach einer von mir ausgewählten Legetechnik alle aus. In vier Reihen war das Deck dann vor uns ausgebreitet. Ich suchte die Personenkarte. Für eine Frau ist es die Pik-Dame. Von ihr wird gedanklich ein Kreuz gezogen. Die Karten links, über, unter und rechts davon beschreiben die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Ein paar Minuten brauchte ich zur Orientierung. Wichtig ist, eigene Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, sagte ich mir innerlich vor, damit die »Sprache der Karten« durchkommt. Alle Symbole und ihre Bedeutung hatte ich im Grunde zu Hause auswendig gelernt. Das fiel mir überhaupt nicht schwer. Schließlich denke ich oft in Bildern und diese Symbole bestanden ja im Wesentlichen aus Zeichnungen. Die aneinander gereihten Abbildungen erzeugten nun eine Kette von Erläuterungen, die ich mir augenblicklich in meinem Geist aufsagte. Einzelne Wörter ergaben keinen Sinn für die Situation, in der sich mein Gegenüber offenbar befand und was aus den Karten zu deuten war. Deshalb stellte ich mir Fragen, angefangen mit: Was soll das Haus für meine Fragestellerin bedeuten? Geht es um ihr privates Umfeld oder um das Gebäude selber? Dabei sah ich mir die umliegenden Karten genauer an. Und plötzlich begann mein Kopfkino. Wie ein kleiner Film, den ich vor meinem inneren Auge ablaufen sah. Die Story wurde sehr lebendig. Ich konnte meine Aufregung nicht mehr verbergen. Die Hitze stieg mir in den Kopf und ich spürte eine innere Euphorie. Dann legte ich los. Schließlich bestand die Herausforderung nun darin, die richtigen Worte für die Bilder und Gefühle zu finden. Alles zu beschreiben, damit Renate etwas damit anfangen konnte. Erst sprudelte es aus mir heraus. Dann bremste ich mich wieder und hielt mich an, sensibel die richtigen Worte zu finden, Hinweise zu geben, mit denen sie etwas anfangen konnte. Immer wieder hörte ich in mich hinein und fragte, in welcher Lebensphase diese Frau steckte. Ich fokussierte mich auf die Frage: Was ist wichtig für den momentanen Lebensweg? Was soll sie wissen? Unmittelbar folgten weitere Geistesblitze, die aus mir herausschossen und nachvollziehbare Zusammenhänge ergaben. Ich zügelte jedoch meinen Redefluss und beschrieb die weitere Deutung ruhiger.
Ich sprach gerade über das Leben eines Menschen und plötzlich schaltete sich mein Verstand ein und tadelte mich. Das ist doch nicht Renate, von der du sprichst. Stimmt, so kannte ich meine Kollegin nicht. Mein Eindruck war jetzt, die Karten sprächen von einer mir völlig fremden Person. Ich sah von dem Kartendeck auf, schaute ihr in die Augen: »Keine Ahnung was das zu bedeuten hat, aber das bist ganz eindeutig nicht du.«
Das funktioniert so nicht, grübelte ich und fuhr fort: »Soll ich weitermachen? Es ist, weil es so aus mir heraussprudelt und ich noch so viel dazu zu sagen hätte. Vielleicht tun wir einfach so, als wärst du eine fremde Frau, deren Situation ich gerade vor mir habe. Bist du damit einverstanden?«
Mit einem Nicken gab sie mir die Erlaubnis und ich fuhr fort. Nach ungünstigen Vorkommnissen schloss ich ab: »Auch wenn das jetzt unlogisch klingt, aber eine Veränderung wird dafür sorgen, dass sich das Leben wieder leichter anfühlt und mit neuen Begegnungen ergeben sich neue Möglichkeiten. Sie werden besser, als du sie dir heute vorstellen kannst.« Ich lächelte erleichtert.
Geduldig hörte Renate zu. Ich sah sie an, sie erwiderte mein Lächeln etwas gequält, oder bildete ich mir das ein? Die Mittagspause war ohnehin zu Ende, keine Zeit für mehr. Wir öffneten kurz die Fenster. Schnell und konzentriert erledigten wir die anstehenden Aufgaben und am Abend verabschiedete ich mich in den Urlaub.
Drei Wochen später traf ich wieder im Büro ein. Renate wirkte verändert. Sie strahlte und erschien mir gelöster als zuvor. »Was ist denn mit dir los? Gibt es was Neues?«
»Ja.« Die Lachfältchen um ihre Mundwinkel vertieften sich. »Das muss ich dir in der Pause erzählen. Ist ne längere Geschichte.«
Was war nur während meines Urlaubs passiert? Hatte sie womöglich einen Heiratsantrag bekommen?
»Los, wir gehen in den Park, damit wir ungestört reden können, ich bin so neugierig.«
Der ganze Park war voll alter Eichen. Wir setzten uns auf eine Bank unter einer der größten. Was die Bäume alles erzählen könnten, dachte ich noch. Da fing Renate schon an: »Ich habe mein Leben grundlegend verändert, unmittelbar nachdem du die Karten gedeutet hast.«