Die Integrationsfestigkeit des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Kündigung von Arbeitsverhältnissen im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG

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b) Evangelische Kirche
Die evangelische Kirche hat ihre Loyalitätsanforderungen für den kirchlichen Dienst im Wege einer Richtlinie kodifiziert, für die eine Ermächtigung in Art. 9 der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland besteht. Die evangelische Loyalitätsrichtlinie bedarf zu ihrer unmittelbaren Wirksamkeit der landeskirchlichen Transformation, da es sich hierbei nicht um ein Kirchengesetz i.S.d. § 10a Abs. 2 der Grundordnung der evangelischen Kirchen Deutschland handelt.290 § 1 S. 2 der EKD-RL empfiehlt den Gliedkirchen und diakonischen Werken lediglich, ihre Regelungen auf Grundlage der Richtlinie zu treffen. Daher existiert für die evangelische Kirche in Deutschland dem Grunde nach keine einheitliche Regelung von Loyalitätsobliegenheiten.291
aa) Grundlagen des kirchlichen Dienstes
Der kirchliche Dienst in der evangelischen Kirche ist gem. § 2 Abs. 1 EKD-RL auf die Bezeugung des Evangeliums „in Wort und Tat“ gerichtet. Dieser Auftrag ist der Ausgangspunkt für die Ausformung von Loyalitätsanforderungen für die Beauftragten.
bb) Verstöße gegen Loyalitätsobliegenheiten die zu einer Kündigung berechtigen
(1) Bis zur Novellierung
Die Kodifizierung der Sanktionsmöglichkeiten bei Verletzung der in § 4 EKD-RL normierten Loyalitätsanforderungen ist an den Art. 5 GrOkathK a.F. angelehnt. § 5 EKD-RL a.F. differenzierte allerdings anders als die GrokathK nicht hinsichtlich der Konfession der Mitarbeiter im kirchlichen Dienst.292
Gem. § 5 Abs. 1 S. 2 EKD-RL a.F. war allerdings nur die außerordentliche Kündigung ultima ratio. Die ordentliche Kündigung erschien demgegenüber als „anderes“ bzw. „vorletztes Mittel“.293 Hinsichtlich der besonders schwerwiegenden Verstöße fasste sich die evangelische Kirche deutlich kürzer als die katholische und bediente sich eines weitgehend unbestimmten Tatbestands. Bei einer außerordentlichen Kündigung gem. § 5 Abs. 1 S. 2 EKD-RL a.F. musste ferner eine Interessenabwägung vorgenommen werden. Absolute Kündigungsgründe kannte die EKD-RL damit bereits vor ihrer Reformierung nicht.
Der Austritt aus der evangelischen Kirche rechtfertigte den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung (§ 5 Abs. 2 Var. 2 EKD-RL a.F.), die allenfalls durch einen Wiedereintritt verhindert werden konnte.294 Daneben kam eine außerordentliche Kündigung bei grober „Missachtung der evangelischen Kirche“ und damit verbundener „Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeit des kirchlichen Dienstes“ in Betracht (§ 5 Abs. 2 Var. 2 EKD-RL a.F.). Zwar mochte eine Beeinträchtigung der kirchlichen Glaubwürdigkeit durch nachweisebare negative Auswirkungen für die evangelische Kirche objektivierbar gewesen sein295, jedoch war der Tatbestand im Übrigen kaum greifbar und führte zu Rechtsunsicherheiten.296
Die Ehe ist aus evangelischer Sicht kein Sakrament.297 Die zivilrechtlich wirksame Wiederheirat konnte nicht ohne Weiteres unter die Norm subsumiert werden, da die evangelische Kirche die Wiederheirat von Geschiedenen unter bestimmten Bedingungen anerkennt.298 Die Wiederheirat wird bspw. in § 7 Kirchengesetz über die Ordnung der Trauung in der Evangelischen Kirche von Westfalen299 nicht als absolutes Hindernis einer erneuten Eheschließung gewertet.300 Auch hinsichtlich der eingetragenen Lebenspartnerschaft sowie der gleichgeschlechtlichen Ehe nimmt die evangelische Kirche mitunter eine wesentlich liberalere Haltung ein als die katholische Kirche.301 Einzelne Landeskirchen stellten die gleichgeschlechtliche Ehe homosexueller Paare der Trauung von Mann und Frau sogar bereits rechtlich als auch theologisch gleich.302 Demgemäß dürfte das Eingehen einer solchen Verbindung mithin nicht in allen Landeskirchen als pflichtwidriges Verhalten eingestuft werden können.
Soweit in § 5 Abs. 1 S. 1 EKD-RL bestimmt ist, dass der Anstellungsträger durch Beratung und Gespräch auf die Beseitigung des Anforderungsmangels des Mitarbeiters hinwirken „soll“, ist fraglich, ob es sich hierbei um eine zwingende Verfahrensvorschrift handelt, die sogar die Unwirksamkeit der getroffenen Maßnahme bewirken könnte.303 Wegen der „Soll“-Formulierung vertritt die Literatur überwiegend die Ansicht, das Unterlassen von Beratung und Gespräch habe keine Auswirkung auf die Rechtmäßigkeit der Maßnahme.304 Dafür spricht, dass die evangelische Kirche diese Formulierung in Kenntnis der katholischen Normierung wählte, die in der GrOkathK von 1993 das Wort „muß“ verwendete. Allerdings wird wegen der mit der Vorschrift verbundenen Rechtsunsicherheit die Durchführung eines Beratungsgesprächs vor dem Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung angeraten.305
(2) Auswirkungen der Novellierung vom 9. Dezember 2016
Auch nach der Novellierung ist die außerordentliche Kündigung als ultima ratio nur nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls möglich.
In dem überarbeiteten § 5 Abs. 2 EKD-RL wird der Kirchenaustritt als Kündigungsgrund restriktiver formuliert und insbesondere der Austritt zwecks Eintritts in eine andere Kirche der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland als Kündigungsgrund ausgenommen. Die Regelung erweist sich insoweit gegenüber der GrOkathK als großzügiger.
Die Überarbeitung des unbestimmten Tatbestands der groben Missachtung der evangelischen Kirche bringt wenig Klarheit mit sich. Mitarbeiter müssen wegen Verstoßes gegen die Pflichten aus § 4 EKD-RL unter Abwägung der Interessen im Einzelfall ebenfalls mit einer außerordentlichen Kündigung gem. § 5 Abs. 1 EKD-RL rechnen. Die zu berücksichtigenden Gesichtspunkte benennt die Regelung allerdings, anders als Art. 5 Abs. 3 GrOkathK, nicht.
Die Neufassung der Loyalitätsrichtlinie der EKD stellt unter § 5 Abs. 2 S. 3 EKD-RL schließlich die grobe Missachtung der evangelischen Kirche als Spezialfall der Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeit des kirchlichen Dienstes heraus.
3. Zusammenfassung und Stellungnahme
Durch die Aufstellung von Loyalitätsanforderungen machten die Kirchen von ihrem verfassungsmäßigem Recht zur Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten Gebrauch.306 Die in der GrOkathK und der EKD-RL kodifizierten Loyalitätsanforderungen fördern die Erreichung der Ziele der kirchlichen Dienstgemeinschaft (Verkündung, Liturgie und Caritas/Diakonie), indem sie sicherstellen, dass die mit dem kirchlichen Sendungsauftrag betrauten Personen die Glaubwürdigkeit der Mission nicht gefährden. Anders als in der EKD-RL wird in der GrOkathK bei den Rechtsfolgen von Verstößen gegen die kirchlichen Loyalitätsobliegenheiten hinsichtlich der Konfession der Mitarbeiter differenziert.
Das katholische Eherecht hat einen großen Einfluss auf die arbeitsrechtliche Beziehung zwischen Kirche und Dienstnehmer. Da dem „Eheband“ die Bedeutung eines heiligen Sakraments zugesprochen wird, können Verstöße gegen die kanonischen Eheregelungen arbeitsrechtliche Disziplinarmaßnahmen und sogar eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses nach sich ziehen. Durch die Reform der GrOkathK wurden die Anforderungen einer auf diesen Grund gestützten Kündigung insofern erhöht, als dass für leitende Angestellte und Erzieher bzw. Erzieherinnen nicht mehr ohne Weiteres die für den Kündigungsausspruch erforderliche Gefährdungslage für die kirchliche Glaubwürdigkeit angenommen werden kann. Die dem Fall IR zugrunde liegende Kündigung hätte damit nach der Reform nicht mehr auf den streitgegenständlichen Sachverhalt der Wiederheirat gestützt werden können.307 Es bleibt allerdings dabei, dass die GrOkathK hinsichtlich der Wirksamkeit der Eheschließung nach der Konfession ihrer Mitarbeiter differenziert. Lediglich katholische Mitarbeiter sind dem Grunde nach an das katholische Eherecht gebunden, wobei die Rechtsfolgen je nach Einbindung in den kirchlichen Sendungsauftrag variieren.
Die zivilrechtlich wirksame Wiederheirat berechtigte aus Sicht der evangelischen Kirche hingegen bereits vor Reform der EKD-RL nicht ohne Weiteres zu einer Kündigung, da die evangelische Kirche die Wiederheirat von Geschiedenen unter bestimmten Bedingungen anerkennt.308 Ferner sah die EKD-RL stets eine Interessenabwägung vor (vgl. § 5 Abs. 1 S. 2 EKD-RL a.F.). Eine konfessionelle Differenzierung fand ebenfalls nicht statt.
Das mehrheitliche Beibehalten des „status quo“309 nach Reformierung der Loyalitätsanforderungen beider Kirchen erfährt teilweise Kritik.310 Gleichwohl würden sich die Kirchen durch den vollständigen Verzicht auf ihre Loyalitätsanforderungen (z.B. aufgrund der Lage des Arbeitsmarktes) dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetzen.311 Dieser Kritikpunkt wird allerdings fragwürdig, wenn die Kirchen durch zu enggefasste Anforderungsprofile Gefahr liefen, ihre selbstaufgestellten Regelungen unangewendet zu lassen, um eine Stelle besetzen zu können. Es rückt in diesem Zusammenhang die Frage in den Fokus, inwieweit die Kirchen angesichts knapper personeller Ressourcen aufgrund von Angebot und Nachfrage den von ihr selbst aufgestellten Regelungen gerecht werden können. Bereits jetzt arbeiten viele nicht-konfessionelle Mitarbeiter für kirchliche Einrichtungen, weil schlichtweg nicht genügend getaufte Bewerber für die erforderlichen Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.312 Hierdurch könnten die Kirchen gehalten sein, Verhaltensweisen zu ignorieren, die dem Papier nach ein Einschreiten erfordern, eine Sanktion aber aus Personalnot oder anderen wirtschaftlichen Faktoren untunlich erscheint.313
Können die Loyalitätsanforderungen unter diesen Umständen noch für die staatlichen Gerichte bindend festlegen, was zur Erfüllung des Sendungsauftrag zwingend erforderlich ist? Eine Antwort hierauf kann nur unter Berücksichtigung des Telos der jeweiligen Regelung gefunden werden. Denn die konsequente Einhaltung der Loyalitätsanforderungen dient der Sicherung kirchlicher Glaubwürdigkeit.314 Wenn die Kirchen durch ihre tatsächliche Personalpraxis diese Zielsetzung konterkarieren, entwerten sie ihre selbstaufgestellten Regeln. Und wenn sie aufgrund der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt gezwungen sein sollten, Regelungen unangewendet zu lassen, sind diese Regelungen den wirtschaftlichen Erfordernissen anzupassen.315 Insoweit mag für die Zukunft der Loyalitätsobliegenheiten gelten, was Bischof Overbeck unter Verweis auf ein Lied von Wolf Biermann wegen der Herausforderungen des Dritten Weges einmal so treffend ausdrückte: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“316.
IV. Die Leitentscheidungen des BVerfG zur Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Kündigung von Arbeitsverhältnissen
In dieser Arbeit wurde herausgearbeitet, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kirche gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV den „Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ unterliegt.317 Diese Schranken wurden für den Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts vom BVerfG zunächst in der Leitentscheidung Stern318 im Jahr 1985 definiert und in der Chefarzt319-Entscheidung im Jahr 2014 präzisiert. Auf beide Entscheidungen wird zwecks Bestimmung der Schranke des Selbstbestimmungsrechts kirchlicher Arbeitgeber bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen im Folgenden näher eingegangen.
1. Rechtliche Situation bis 1985320
Das BAG hatte spätestens mit der Caritassekretärin-Entscheidung vom 14. Oktober 1980321 seine Rechtsprechung dahingehend gefestigt, dass in die Bewertung der Gefährdung der kirchlichen Glaubwürdigkeit durch das Verhalten eines kirchlichen Mitarbeiters stets die Nähe der Tätigkeit zu dem „spezifisch kirchlichen Auftrag“ der Kirche einbezogen werden müsse.322 Entscheidend sei die besondere Identifikation des Mitarbeiters mit der Kirche.323 Die Glaubens- und Sittenlehre der Kirche könne daher nicht allein wegen des Zusammenschlusses als Dienstgemeinschaft zur Erfüllung kirchlicher Aufgaben einheitlich angewendet werden.324
Bis zur Entscheidung des BVerfG im Jahr 1985 erkannte das BAG also die bindende Wirkung der dem Selbstverwaltungsrecht entspringenden Ausgestaltung kirchlicher Loyalitätsanforderungen nur hinsichtlich solcher Mitarbeiter an, die nach gerichtlicher Wertung den Verkündungsauftrag der Kirche erfüllten.325 Insofern behandelte das BAG die Kirchen wie gewöhnliche Tendenzbetriebe, da bei solchen stets die Nähe der Tätigkeit zur Unternehmenstendenz den Ausschlag dafür gibt, welche Anforderungen an den Mitarbeiter gestellt werden können.326 Diese Behandlung widersprach jedoch der Wesensnatur der Kirche, die sich von einem Tendenzbetrieb qualitativ unterscheidet und daher einer entsprechend anderen Behandlung bedarf.327 Konsequenterweise korrigierte das BVerfG die Rechtsprechung des BAG und stärkte die verfassungsrechtliche Sonderstellung der Kirchen in zwei Leitentscheidungen, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen.
2. Die Stern-Entscheidung des BVerfG
a) Hintergrund
Anlass für die erstmalige Befassung des BVerfG mit der Frage der Prüfungskompetenz von Arbeitsgerichten bei Kündigungen wegen Verstößen gegen kirchliche Loyalitätsobliegenheiten war u.a.328 ein Aufruf von 58 Personen, darunter mehrheitlich Ärzte, im Oktober 1979 in der Rubrik Leserbriefe der Wochenzeitschrift „Stern“. Unter dem Titel „Ärzte gegen Ärztefunktionäre“ argumentierte ein in einem katholischen Klinikum in Essen beschäftigter Assistenzarzt unter Angabe von Namen und Beschäftigungsort für die Abtreibungsmöglichkeit unfreiwillig schwanger gewordener Frauen und für die von der katholischen Kirche abgelehnte Regelung des § 218 StGB.329 Hieraufhin sprach ihm die Trägerin des Krankenhauses zunächst unter Berufung auf den § 16 Abs. 1 der AVR Caritas eine ordentliche Kündigung aus.330 Derselbe Arzt gab etwa einen Monat nach Ausspruch der Kündigung ein Fernsehinterview im Dritten Fernsehprogramm des WDR, in dem er seine im „Stern“-Magazin veröffentlichten Ansichten bekräftigte.331 Daraufhin wurde ihm noch einmal außerordentlich und hilfsweise ordentlich eine Kündigung ausgesprochen.332 Über alle drei Instanzen klagte der Assistenzarzt erfolgreich auf Feststellung der Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen.
Das BAG befand die vorinstanzliche Interessenabwägung gem. § 1 Abs. 2 KSchG sowie § 626 Abs. 1 BGB für beanstandungsfrei, da das LAG insbesondere berücksichtigt habe, dass der Leserbrief nicht unmittelbar gegen das den Kläger beschäftigende Krankenhaus adressiert gewesen sei, sondern an den Gesetzgeber.333 Auch seien die Äußerungen im Fernsehinterview maßvoll gehalten und im Kontext der ausgesprochenen Kündigung nachvollziehbar gewesen.334
b) Die Gründe des Stern-Urteils
Das BVerfG gab der gegen das Revisionsurteil des BAG von der kirchlichen Trägerin der Dienststelle erhobenen Verfassungsbeschwerde statt und stellte eine Verletzung des verfassungsgesetzlich geschützten Selbstbestimmungsrechts der Beschwerdeführerin fest.335
Zunächst bekräftigte das BVerfG das abgeleitete verfassungsrechtliche Selbstbestimmungsrecht aller der Kirche zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform, sofern sie nach kirchlichem Selbstverständnis den Sendungsauftrag der Kirche miterfüllen.336
Die karitativen bzw. erzieherischen Einrichtungen der Kirche ordnete das Gericht als deren „eigene Angelegenheiten“ i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV ein.337 Der Abschluss von Arbeitsverträgen sei insofern eine dem kirchlichen Selbstverständnis obliegende rechtliche Vorsorge für die Wahrnehmung kirchlicher Dienste.338 Soweit sich die Kirchen der Privatautonomie bedienen, seien die dem staatlichen Arbeitsrecht kraft Rechtswahl unterfallenden Verträge arbeitsgerichtlich zu überprüfen, wobei die Eigenart des kirchlichen Propriums respektiert werden müsse.339
Das verfassungsrechtlich verankerte Selbstbestimmungsrecht eröffne den Kirchen die Möglichkeit, zum Schutze ihrer Glaubwürdigkeit verbindliche Loyalitätsanforderungen für ihre Mitarbeiter auszuformen und deren Beachtung abzuverlangen.340 Diese Anforderungen hätten allerdings insofern eine Grenze, als dass das Arbeitsverhältnis „[…] keine säkulare Ersatzform für kirchliche Ordensgemeinschaften und Gesellschaften apostolischen Lebens […]“ sein könne.341 Welche Verpflichtungen für das Arbeitsverhältnis bedeutsam sind, richte sich nach den kirchlichen Maßstäben.342
Die §§ 1 KSchG, 626 BGB seien „Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV, ohne der Freiheit der Kirche in jedem Fall vorzugehen.343 Der Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck müsse vielmehr durch eine Güterabwägung Rechnung getragen werden, die dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche besonderes Gewicht beizumessen habe.344 Die vom kirchlichen Selbstverständnis her gebotenen Loyalitätsanforderungen seien aus verfassungsrechtlichen Gründen in der individualarbeitsrechtlichen Rechtsanwendung zu berücksichtigen und in ihrer Tragweite festzustellen.345
Die für die Gerichte verbindliche Entscheidung darüber, was die kirchliche Glaubwürdigkeit erfordert, was „spezifisch kirchliche Aufgaben“ seien, was „Nähe“ bedeute, was die „wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre“ seien, in welchen Abstufungen sie die Mitarbeiter verpflichteten und was einen schweren Verstoß hiergegen darstelle, treffe allein die Kirche nach ihrem Selbstverständnis.346 Die Bindungswirkung des kirchlichen Selbstverständnisses für die weltlichen Fachgerichte sei allein begrenzt durch die Grundprinzipien der Rechtordnung, nämlich dem allgemein Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), den „guten Sitten“ i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB sowie dem „ordre-public“-Vorbehalt (Art. 30 EGBGB a.F.347).348 Jenseits dieser Grenze beschränke sich die Aufgabe der Fachgerichte darauf, den festzustellenden Sachverhalt unter die von der Kirche vorgegebenen Loyalitätsobliegenheiten zu subsumieren.349
Das BVerfG gab den Arbeitsgerichten damit eine „zweistufige“ Prüfung vor:350 Auf der ersten Stufe sei zu prüfen, ob in dem jeweiligen Fall nach dem Selbstverständnis der verfassten Kirche eine „arbeitsrechtlich abgesicherte“ Loyalitätspflicht besteht, inwiefern eine Loyalitätspflichtverletzung des kirchlichen Arbeitnehmers vorliege und schließlich, wie schwer diese Loyalitätspflichtverletzung nach kirchlichem Selbstverständnis wiege.351 Auf einer zweiten Stufe hätten sodann die Gerichte unter Anwendung der kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften der §§ 1 KSchG, 626 BGB zu klären, ob die Loyalitätsobliegenheitsverletzung eine Kündigung sachlich rechtfertige.352 Die Gewichtung der Obliegenheitsverletzung durch das Revisionsgericht im Rahmen der gem. §§ 1 KSchG, 626 BGB erforderlichen Interessenabwägung habe nach Ansicht des BVerfG das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV verletzt, weil das BAG der Schwere der Loyalitätsverletzung im Sinne des Selbstverständnisses der verfassten Kirche nicht ausreichend Rechnung getragen habe.353
3. Die Chefarzt-Entscheidung
a) Hintergrund
Erneut war es das außerdienstliche Verhalten eines nordrhein-westfälischen Mediziners, das dem 2. Senat des BVerfG Gelegenheit gab, sich mit der arbeitsgerichtlichen Prüfungskompetenz in Bezug auf kündigungsrelevante Loyalitätsobliegenheiten zu befassen:
Seit dem Jahre 2000 war der Katholik „JQ“ als Chefarzt in einem unter Aufsicht des Erzbistums Köln stehenden Krankenhaus beschäftigt, das durch eine dem Bistum unterstehenden Kapitalgesellschaft („IR“) betrieben wurde. JQ ließ sich während des laufenden Beschäftigungsverhältnisses Anfang 2008 von seiner Ehefrau zivilrechtlich scheiden. Die nach kanonischem Recht geschlossene Ehe wurde kirchenrechtlich allerdings nicht für nichtig erklärt. Nachdem JQ einige Zeit mit einer neuen Lebensgefährtin zusammengelebt hatte, was seinem Arbeitgeber bekannt war, heiratete er diese schließlich Mitte des Jahres 2008 standesamtlich. Als die Arbeitgeberin IR hiervon Anfang 2009 erfuhr, kündigte sie JQ daraufhin ordentlich das Arbeitsverhältnis. Die gegen diese Kündigung gerichtete Klage von JQ war in allen drei arbeitsgerichtlichen Instanzen erfolgreich.354 Das BAG wies die Revision der Arbeitgeberin IR mit Urteil vom 8. September 2011355 zurück und führte aus: Auch wenn der Loyalitätsverstoß der Wiederheirat dem Grunde nach eine Kündigung rechtfertige356, überwögen vorliegend die Grundrechte und Interessen des gekündigten Arbeitnehmers.357 Im Rahmen der Interessenabwägung stellte das Gericht fest, dass die bisherige Handhabung des kirchlichen Dienstgebers gegen die Notwendigkeit der Durchsetzung des sittlichen Loyalitätsanspruchs spreche.358 Erstens beschäftige das Krankenhaus auch nichtkatholische Chefärzte, sodass sie auf das Lebenszeugnis der katholischen Mitarbeiter weniger angewiesen sei.359 Zweitens habe sie mehrere wiederverheiratete Chefärzte in der Vergangenheit beschäftigt.360 Drittens habe die Dienststelle die nichteheliche Lebensgemeinschaft, die der Heirat vorangegangen war, gekannt und toleriert361, und viertens spreche für den Arzt der Schutz aus Art. 8 und Art. 12 EMRK sowie der Umstand, dass die Eheschließung nicht in feindlicher Gesinnung oder erkennbarer Ablehnung der Sittenlehre der Kirche erfolgt sei.362
b) Die Gründe des Chefarzt-Urteils
Das auf das Revisionsurteil hin angerufene BVerfG stellte fest, dass die Arbeitsgerichte erneut die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Kirche verkannt und verletzt hätten. Das Gericht bestätigte in einer deutlich umfangreicheren Begründung die Wertungen des Stern-Urteils und präzisierte die zweistufige Prüfung:
Auf der ersten Stufe habe das Arbeitsgericht eine „Plausibilitätskontrolle“ vorzunehmen und zu prüfen, „[…] ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrages [teilhabe], ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes [sei] und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis […]“ zukomme.363 Sodann folge auf der zweiten Stufe eine Gesamtabwägung im Sinne der Schranke der „für alle geltenden Gesetze“, bei der „im Lichte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ die sich widersprechenden Rechtspositionen in einen Ausgleich zu bringen seien.364 Auf Seiten der Arbeitgeberin seien dies ihre kirchlichen Belange und die korporative Religionsfreiheit, auf Seiten des Arbeitnehmers dessen Grundrechte (Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG365) sowie dessen sonstige, einfachgesetzlich normierten Schutzrechte.366
Soweit nach der Stern-Entscheidung noch offen und streitig gewesen war, ob die Gerichte bei ihrer Abwägung entgegenstehende Arbeitnehmergrundrechte zu berücksichtigen hätten367, beantwortete das BVerfG die Frage durch die Nennung einzelner Arbeitnehmergrundrechte, die mit der kirchlichen Position in einen schonenden Ausgleich zu bringen seien.368 Arbeitsgerichtliche Regelungen müssten, soweit sich die Kirche ihrer bediene, „[…] im Lichte der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung zugunsten der kirchlichen Selbstbestimmung […]“ ausgelegt werden, selbst wenn es sich um zwingende Regelungen handle. Dem Selbstverständnis der Kirche sei insoweit ein „besonderes Gewicht“ beizumessen.369
Bei der Überprüfung von arbeitsrechtlich relevanten Loyalitätsobliegenheiten hätten die Arbeitsgerichte den „organischen Zusammenhang“ der Statusrechte aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV und dem Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu beachten und umzusetzen.370 Dem kirchlichen Arbeitgeber obliege es, plausibel dazulegen, inwieweit eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit aufgrund der gemeinsamen Glaubensüberzeugung oder Dogmatik verlangt werden müsse, wobei das Gericht ggf. ein kirchenrechtliches Sachverständigengutachten einzuholen habe.371 Die so gewonnene Wertung habe das Gericht im Rahmen der Grenzen der Rechtsordnung seiner Entscheidung zugrunde zu legen, ohne eine eigene Einschätzung hinsichtlich der Gefährdung der Glaubwürdigkeit durch einen Verstoß oder hinsichtlich der Nähe der Arbeitnehmerfunktion zum kirchlichen Sendungsauftrag vorzunehmen.372 Der eigenständigen Überprüfung des Tätigkeitsbezugs einer nach Konfession der Mitarbeiter differenzierenden Loyalitätsanforderung durch die Arbeitsgerichte erteilte das BVerfG eine klare Absage:








