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Als könnten die in den Sommerhimmel gezeichneten vertrauten Wege genauso gut ins Gefängnis wie in vertrauten Schlaf führen. 92
Ich entdeckte in mir süße Unterdrücker-Träume. Zumindest merkte ich, dass ich einzig und allein so lange auf Seiten der Schuldigen, der Angeklagten stand, als ihr Vergehen mir nicht zum Nachteil gereichte. Ihre Schuld verlieh mir Beredsamkeit, weil nicht ich ihr Opfer war.
Fand ich mich selbst bedroht, so wurde ich nicht nur meinerseits zum Richter, sondern darüber hinaus zum jähzornigen Gebieter, der ohne Ansehen der Gesetze danach verlangte, den Delinquenten niederzuschlagen und in die Knie zu zwingen. Nach solch einer Feststellung, Verehrtester, ist es recht schwierig, weiterhin ernsthaft zu glauben, man sei zur Gerechtigkeit berufen. 93
Doch von dem Augenblick an, da das Christentum am Ende seines Triumphs die Kritik der Vernunft wurde, wurde in gleichem Maß, wie die Göttlichkeit Christi geleugnet wurde, der Schmerz aufs Neue zum Los der Menschen. Der betrogene Christus ist nur ein Unschuldiger mehr, den die Vertreter des Gottes Abrahams in öffentlicher Schaustellung hingerichtet haben. Der Abgrund, der den Herrn vom Sklaven trennt, öffnet sich von Neuem, und die Revolte brüllt wieder vor dem versteinerten Gesicht eines eifersüchtigen Gottes. 94
Ich wusste nicht mehr, wie mir war.
Gott war eine Lüge.
Die Religion war Betrug.
Das Christentum war Verrat an den Ideen Christi.
Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass ich vor Kurzem noch Papst hatte werden wollen, um »die Welt zu retten«.
Die heiligen Hallen Roms, die vorher so beschützend und Geborgenheit vermittelnd auf mich gewirkt hatten, waren nun bedrohlich, klein machend, Ablenkungsmanöver. Wie konnte mein angebeteter Vater, der mich so sanft und Vertrauen erweckend in den Vatikan eingeführt hatte, das nicht erkennen? Meine Großmutter, die auf Knien nach Lourdes gekrochen war, weil sie glaubte, dass Gott dann ihre Krebskrankheit heilen werde – natürlich war das alles nur Blendung.
Tagelang konnte ich mit niemandem über das reden, was diese Lektüre in meinem Denken ausgelöst hatte.
Ich verstand es selbst nicht.
Es gab nichts mehr, an dem ich mich festhalten konnte.
Landgeräusche stiegen zu mir herauf. Gerüche nach Nacht, Erde und Salz erfrischten meine Schläfen. Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich wie eine Flut. In dem Moment und an der Grenze der Nacht haben Sirenen geheult. Sie kündigten Abreisen in eine Welt an, die mir jetzt für immer gleichgültig war. 95
Ich empfand Abscheu davor, wieder in die Kirche zu gehen.96
Ich fiel in ein tiefes schwarzes, bodenloses Loch.
Aber dass alles sinnlos sein sollte, war ich nicht bereit hinzunehmen.
Mit einem Mitschüler, Dominik, dem Sohn des Schauspielers Robert Graf97, den ich bewunderte und den Dominik, ähnlich wie ich meinen Vater, früh verloren hatte, gründete ich mit drei weiteren eine Theatergruppe. Regelmäßig gingen wir ins Residenztheater oder in die Münchner Kammerspiele. Wir bereiteten uns auf die Stücke vor, indem wir sie zusammen lasen und darüber sprachen – hinterher gingen wir noch etwas trinken und machten Kritik.
Nach einer Vorstellung, in der die Schauspielerin Kathrin Ackermann98 mitgespielt hatte, die eine Nachbarin von uns war und oft meine Eltern besuchte, gingen wir zum Bühneneingang und baten darum, in die Garderoben gelassen zu werden, um Autogramme zu bekommen. Dank Dominik als Sohn von Robert Graf gelang uns das spielend und die schöne Kathrin Ackermann war überrascht, mich dort zu sehen. Ich lobte ihr Spiel über den Daumen und schmeichelte ihr in den höchsten Tönen – sie lächelte amüsiert und merkte genau, dass ich in sie verknallt war.
Aber die ernüchternde Realität hinter den Kulissen, die Schauspieler ohne Kostüm und Maske, die abgewetzten engen Gänge, die muffigen Garderoben, die wie Zellen wirkten, das zynische, hochnäsige Gerede der aufgedreht müden Akteure, das Sein hinter dem Schein bestätigte mich einmal mehr, dass dies nicht meine Welt war.
Man musste das alles anders machen. Dominik und ich schrieben ein eigenes Stück! Er inszenierte, aber wir wollten alle mitreden, was er wiederum nicht gut fand.
»Eine Inszenierung muss eine erkennbare Handschrift haben«, dozierte er, die Arme auf dem Rücken verschränkt, nervös im Wohnzimmer der Villa seiner Eltern auf- und ablaufend, »wenn da jeder mitmischt, gibt es nur langweiligen Brei.«
»Aber das ist doch dann genau das Gleiche wie in den Kammerspielen«, gab ich zu bedenken, »wir wollen doch mal was Neues probieren.«
»Aber wir diskutieren doch alles bis zum Gehtnichtmehr!«, rief Dominik verzweifelt. »Wer soll denn entscheiden, was am Ende gilt?!«
Es wurde uns schnell klar, dass wir niemals auf einen Nenner kommen würden, obwohl wir nur fünf Leute waren. Wir zerstritten uns nicht – wir resignierten. Die Gruppe löste sich nicht auf – sie zerfiel.99
Professor Haber100 machte im Bayrischen Rundfunk wissenschaftliche Sendungen für Kinder und Jugendliche. Eine der wenigen Sendungen, die wir Kinder sehen durften, zumal meine Mutter ihn kannte. Von ihm lernte ich, dass die Sonne eines Tages verglühen und dann die Menschheit aussterben werde.
Ich konnte es nicht glauben, aber alle, ganz gleich ob Chemie- oder Religionslehrer, bestätigten das.
Also doch alles sinnlos?
Auf jeden Fall war klar, wozu die Menschen die Lüge vom Paradies brauchten, wenn eh alles ungerecht war und dann auch noch so zu Ende gehen sollte.
In der nächsten Sendung erklärte Professor Haber die Bedeutung und Funktion von Wasser101. Er lächelte stets ein wenig, sprach deutlich und langsam:
»Wasser ist Leben. Ein Mensch kann einige Wochen ohne Essen leben, aber nur einige Tage ohne Wasser. Der Mensch selbst besteht zu siebzig Prozent aus Wasser.«
Er zeigte Grafiken, Tabellen und Statistiken, einfach, überschaubar, klar verständlich.
Wasser, vor allem Trinkwasser, war überhaupt nicht das Selbstverständlichste auf der Welt, für das ich es gehalten hatte.
Dass Trinkwasser aus dem Wasserhahn kam, war »eine der größten und wichtigsten Errungenschaften der Menschheit«, erklärte Professor Haber freundlich lächelnd, eindringlich und glaubhaft.
»Täglich sterben unzählige Menschen auf der Welt«, fuhr der Fernsehprofessor auf dem Schwarz-Weiß-Bildschirm fort, »weil sie nur vergiftetes Trinkwasser zur Verfügung haben!«
Ja, aber warum wurden dann nicht überall woanders Wasserleitungen gelegt? Wenn man es schon erfunden hatte, musste es doch nur gebaut werden!? Man konnte doch sogar schon in den Weltraum fliegen?!
Aber diese Fragen beantwortete Professor Haber nicht.
Stattdessen ermahnte er uns alle am Schluss der Sendung:
»Seid froh und dankbar, dass ihr in einem Land leben dürft, in dem es sauberes Trinkwasser für jeden Bürger in Hülle und Fülle gibt – guten Abend, ihr Lieben!«
Die Sendung hatte mich aufgewühlt. Niemand war da, mit dem ich darüber reden konnte. Also ging ich alleine neben den S-Bahnschienen spazieren.
Es war doch alles ganz einfach! Alle mussten Wasser haben – das wäre das Paradies auf Erden! Der Rest ginge von alleine! Dafür musste man kämpfen – nicht aufs Paradies warten!
1965
Der Circus Krone hatte seinen Hauptsitz in München, ein sozusagen steinernes Zirkuszelt, das als Winterquartier diente. Es lag im Zentrum der Stadt in der Nähe des Hauptbahnhofs und im Sommer fanden dort kulturelle und politische Veranstaltungen statt. Dreitausend Menschen passten hinein, das hieß, was dort stattfand, war Stadtgespräch.
Für den Mai waren dort die Rolling Stones angekündigt. Ihr neuestes Lied »I can’t get no satisfaction« war gerade herausgekommen und in aller Munde beziehungsweise in aller Ohren. Ich fand den Song gut, vor allem aber seine Botschaft sprach mir aus tiefstem Herzen: Alles, wirklich alles, was diese Welt zu bieten hatte, war unbefriedigend.
Fips bevorzugte die Richtung der »Protestsongs«, also Musiker wie Bob Dylan, der mit »Blowin’ in the wind« das Leben eher philosophisch in Frage stellte oder Donovan, der mit seinem Song »Universal soldier« direkt die Politik beziehungsweise die Politiker angriff – ich fand die zu schmalzig. Ebby, der sowieso der Lässigste war und über allem stand, weil er schon Zigaretten rauchte, stimmte mir in dieser Beziehung zu, fand aber wiederum die Stones zu primitiv und bevorzugte die Beatles, die ich meinerseits als angepasst verurteilte.
Julia legte sich in dieser Hinsicht nicht fest, fand aber die Idee attraktiv, zusammen mit mir zu den Stones zu gehen. Also bearbeiteten wir unsere Eltern so lange, bis sie das Geld für die Eintittskarten herausrückten, die für unsere Verhältnisse unvorstellbar teuer waren. Ich fuhr extra in die Innenstadt, um am Schalter des Circus Krone die Karte zu erstehen.
Endlich war es so weit. Wir hatten einen seitlichen Logenplatz der rund um die Bühne gebauten, steil ansteigenden Sitzreihen, sodass wir die Bands zwar nur im Profil sehen konnten, dafür aber ganz aus der Nähe. Unsere Geduld wurde unendlich strapaziert – der Aufbau und die Einstellung der Verstärker wollte und wollte kein Ende nehmen.
Schließlich kam ein junger Mann in einer Arbeits-Latzhose auf die Bühne und das Publikum jubelte auf. Es war aber keiner von den Stones, sondern Eric Burdon – wie Julia wusste – von einer der Vorbands, den Animals, deren Name mir sympathisch war und mich an Hötzl erinnerte. Es wurde sofort deutlich, dass er mehr Ahnung von der ganzen Technik hatte als all die Schlamper, die bis dahin unsere Zeit gestohlen hatten – er nahm die ganze Sache in die Hand und zehn Minuten später begann tatsächlich die erste Gruppe zu spielen.
Bis dahin hatte ich nur davon gehört, dass es bei derartigen Konzerten ungebührlich laut und undiszipliniert zugehen solle, worüber sich die Spießer aller Welt mit Schaum vor dem Mund aufregten. Mehr noch bei den Beatles, aber auch bei den Stones, fielen angeblich vor allem Mädchen und junge Frauen vor Begeisterung reihenweise in Ohnmacht – so wild war es in Wirklichkeit nun auch wieder nicht, aber das Geschrei doch ziemlich laut; da wir so nah an der Bühne saßen, konnten wir noch alles gut hören. Ich selbst war mir zu fein, aufzuspringen und rumzugrölen, Julia sowieso.
Als die Animals spielten, die letzte Gruppe vor der Pause, nach der die Stones kamen, spürte ich freilich doch ein gewisses Zucken und Bedürfnis, meiner Begeisterung lautstark Ausdruck zu geben, riss mich aber zusammen, um mich vor Julia nicht zu blamieren. Doch während der qualvoll lange erwartete Augenblick tatsächlich Wirklichkeit wurde und erst Charlie Watts durch den Vorhang aus den Garderoben schlüpfte und sich stoischen Blickes hinter sein Schlagzeug zwängte, dann der Blondschopf Brian Jones lächelnd zu seiner Gitarre federte, die neben seinem Mikrofonständer auf ihn wartete, brauste ein derartiger Jubel auf, dass es mich nicht mehr auf dem Sitz hielt und ich wie alle anderen auch aufspringen musste! Und als zuletzt Mick Jagger lässig auf die Bühne schlenderte, brach ein Tosen und Toben aus, wie ich es mein Lebtag noch nicht erfahren hatte – ich vergaß alles, was ich mir vorgenommen hatte, verlor jegliche Kontrolle über mich, fuchtelte wild mit meinen Armen in der Luft herum und schrie mir die Kehle heiser, völlig außer Rand und Band.
Auch die sonst so zurückhaltende Julia kannte nichts und niemanden mehr, schrie, hüpfte und tanzte zur Musik und strahlte mich glücklich an. Zum Glück saßen wir so nah an der Bühne, dass wir überhaupt noch ein wenig von der Musik hören konnten – der Jubel war im unmittelbaren Sinne des Wortes Ohren betäubend. Aber als dann der alles übertreffende Höhepunkt, dem gegenüber das Vorherige nur laues Vorspiel schien, Wirklichkeit geworden war, nämlich als Mick Jagger »I can’t get no« anstimmte, steigerte sich, so unvorstellbar es sein mochte, der Krach- und Jubel-Pegel ein weiteres Mal und wir konnten tatsächlich, trotz unserer Nähe zum Podium, fast nichts mehr hören – nur sehen, wie Mick Jagger sich wie eine Schlange um den Mikrofonständer wand und das Mikro zu verschlingen schien.
Nur langsam kehrten nach dem Ende ein ruhigerer Herzschlag und der Verstand wieder. Ich sah Rot-Kreuz-Helfer mit Bahren sich durch das hinausströmende Publikum zwängen. Ein wenig fühlte ich mich wie früher, als ich noch in die Messe gegangen war und hinterher erleichtert und geläutert herauskam.
Von nun an besuchte ich jedes Konzert, für das ich eine Karte bekam oder das ich mir leisten konnte. Als es bei den German Bonds einmal nicht klappte, versuchte ich, durch das Klofenster einzusteigen, vom Fieber der nach draußen dringenden Musik und dem Jubel der Zuschauer beflügelt, aber ich blieb stecken und kam nur noch schwer wieder heraus. Doch die Befriedigung war nie wieder so groß wie nach »I can’t get no satisfaction«.
Dafür ergatterte ich mir bei einem Konzert der Beach Boys, die zwar langweilige und kitschige Musik machten, aber Angelika, meiner Schulkameradin, gefielen, meinen ersten Kuss – ganz hinten in der letzten Reihe der Empore, während die Beach Boys »good, good, good vibrations« schmalzten.
In diesem Sommer gingen wir, also Fips, Ebby und ich, nach der Schule bei gutem Wetter immer erst ins Eiscafé Rialto und dann an den Eisbach, der am Rande des Englischen Gartens entlangfloss. Wir hatten eine vom Weg kaum einsehbare Stelle gefunden, an der wir ungestört sitzen, quatschen oder auch baden konnten. Fips und ich aßen Eis, Ebby rauchte.
Ebby konnte kreisrunde Kringel aus Zigarettenrauch ausblasen. Er hatte gerade, den Kopf weit zurückgelehnt, drei perfekte ausgetoßen, da sagte er: »Dieses ganze Demokratiegesäusel von Weinzierl, Hötzl und Konsorten schmeckt mir nicht.«
Fips kicherte: »Lass sie doch, sie können nicht anders!«
»Ebby hat recht«, entgegnete ich, »das waren doch nur ein paar Hanseln, die sich da auf der Agora wichtig gemacht hatten, Faulenzer und Ausbeuter, die von der Knochenarbeit ihrer Sklaven lebten, was hat das mit ›Herrschaft des Volkes‹ zu tun? Gehörten die Sklaven nicht zum Volk? Sind doch auch Menschen?!«
Fips beugte sich über den Bach, tauchte seine vom Eis klebrigen Hände ein, spülte sie und wusch sich Mund und Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf: »Du immer gleich!«
»Immerhin ham sie’s erfunden«, gab Ebby zu bedenken und sandte drei weitere Kringel aus.
»Aller Anfang ist schwer«, sagte Fips und knabberte an seinen Fingernägeln.
Der Bach rauschte wild.
»Verlogen ist es trotzdem irgendwie«, fand Ebby, »andererseits.«
»Es stimmt einfach nicht«, beharrte ich, »wenn nicht alle davon was haben.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden«, meinte Fips.
»Wie lange wollen wir denn noch warten?«, rief ich, »ist doch heute nicht anders als damals, allenfalls äußerlich und pro forma. Wie viele Menschen bestimmen denn wirklich die Politik?« Ich schüttelte den Kopf: »Und in den meisten anderen Ländern erst recht schon gleich gar nicht!«
»Du wirst noch platzten mit deiner Ungeduld«, sagte Fips kichernd und watete ein paar Schritte in den Eisbach.
Ebby lachte meckernd und drückte seine Zigarette aus.
»›Die Politiker sind die Diener des Volkes‹«, schimpfte ich. »Guck sie dir doch an, Strauß und Konsorten, ein einziger Selbstbedienungsladen. Sie bedienen sich am Volk, das ist alles.«
Ebby streckte sich: »Alles ist einerseits, andererseits, es gibt schon auch Ausnahmen, Wehner102 zum Beispiel!«
»Okay«, wandte ich ein, »unser Bürgermeister103 meinetwegen, fährt morgens mit der Straßenbahn ins Rathaus und nicht mit dem Dienstmercedes, arbeitet dabei sogar schon in seinen Akten, das ist ein Diener des Volkes.«
»Ausnahmen bestätigen die Regel«, kicherte Fips.
»Danke«, sagte ich und watete ins Flüsschen.
An einem sonnigen Sonntagmittag klingelte es an der Haustür. Wir waren gerade erst aufgestanden, weil in der Nacht zuvor eine rauschende Party zum Geburtstag meiner Mutter stattgefunden hatte; überall standen prächtige Blumensträuße, die von den Reflexionen der durch die vollverglaste Wohnzimmerfront einfallenden Sonnenstrahlen rot-gelb-blau-violett-grün glitzerten – als ob ein Regenbogenartiger Schimmer das ganze Haus erstrahlen ließ. Meine Mutter zog sich schnell einen Morgenmantel an und versuchte, ihre zerstrubbelten Haare einigermaßen zurechtzuschieben, während ich die Treppe herunter hastete, sodass wir zusammen öffneten.
Vor der Tür stand ein Kollege104 meiner Mutter vom Bayrischen Rundfunk, wo sie inzwischen freiberuflich arbeitete, einen riesigen Blumenstrauß in der Hand. Ein blond-blauäugiger Hüne, der Inbegriff des Vollblutariers, dem eine goldene Locke affektiert auf seine Stirn fiel, sein Markenzeichen. Er war schon öfters zum Kaffeetrinken dagewesen, verehrte meine Mutter, was nicht unbedingt von ihr erwidert wurde, redete – leicht lispelnd – so gewählt wie gestelzt und hatte stets etwas schmachtend Leidendes an sich.
»Verehrteste!«, begrüßte er meine Mutter, »welch ein Glückstag für uns alle, dass Sie außerordentliche Frau geboren wurden!« – und überreichte ihr den Blumenstrauß.
»Ach, das ist ja reizend von Ihnen«, bedankte sich meine Mutter, ihre Verlegenheit nur mühsam verbergend, »kommen Sie doch rein!« Sie trat etwas zurück und wies mit ihrer freien Hand in den Gang.
Da entdeckte er, dass das ganze Haus voller Blumen war, also eine Party stattgefunden hatte – zu der er nicht eingeladen gewesen war.
Sein Blick vereiste.
Ich rannte kichernd die Treppe hoch, um Sabine zu berichten. Wir amüsierten uns köstlich über diesen »blasierten Germanen« und kosteten mit Schadenfreude die peinliche Situation für meine Mutter105 aus, obwohl sie ja recht gehabt hatte, ihn nicht einzuladen.
Dabei war er nicht der Einzige, über den wir uns gerne lustig machten.
Eines unserer Lieblingsopfer, über die wir uns heimlich mokierten, war Ulrich Sonnemann106. Der war zwar wirklich sehr nett und hatte auch immer ein Späßchen für uns Kinder auf Lager – und ein wohlgesetztes Kompliment für meine heranblühende Sabine! –, aber er war Philosophieprofessor und trug das wie einen Rettungsring-großen Heiligenschein mit und um sich herum.
Die jährliche Sommerparty fand immer im Garten statt, das Buffet war in der Doppelgarage aufgebaut, am Schwimmbad war der Filterdurchlauf angestellt, was hieß, dass aus einem Rohr mit vielen kleinen Löchern am unteren Ende des Pools Wasser wie ein kleiner Springbrunnen sprühte, das abgesaugt und durch den Filter gereinigt wieder herausgesprüht wurde; zu später Stunde sprangen die Gäste mehr oder weniger bekleidet dort hinein.
Sonnemann stand nachmittags zu Beginn der Party neben dem rauschenden Wasser, die Pfeife in der Hand und dozierte – wegen des lauten Rauschens mussten seine Zuhörer sich nah zum ihm hinbeugen.
»Das macht der extra«, sagte ich zu Sabine, »damit sie sich quasi vor ihn hinknien müssen!« Sabine prustete. Seit er ihre Schönheit hochgelobt hatte, lästerte sie sparsamer.
Aber später am Abend, als es schon dunkel war und die Gäste sich in kleinen Gruppen unter der Holzveranda, im chinesischen Holzhäuschen hinter dem Haus oder um den tiefergelegten Grillplatz neben dem Schwimmbad versammelt hatten, kam sie plötzlich kichernd in mein Zimmer, wo ich es vorzog, die neue Schallplatte der Beatles zu hören, und sagte: »Das musst du sehen!« Gespannt folgte ich ihr. Wir schlichen über die Außentreppe vor der Küche herunter in den Garten bis zur Schiebetür, die zur Veranda führte. Leise öffnete Sabine einen Spalt und wir lugten hindurch:
In der hinteren Ecke der Veranda saß Pfeife schmauchend der Professor107, das Licht der über ihm hängenden japanischen Papierlampe blinkte aus den Gläsern seiner übergroßen schwarzen Hornbrille, und verkündete milde lächelnd der Weisheit letzten Schluss. Andächtig und ergriffen lauschend saß ein Kreis von Gästen um ihn herum, ernsten Blickes seine funkelnden Geistesblitze bedenkend. Die Heiligkeit dieses Moments triefte mit bedeutungsschweren Tropfen aus allen Poren.
Sabine zog vorsichtig die Tür zu, damit Sonnemann und seine Jünger unser Kichern nicht hören konnten.
1966
Unser neuer Religionslehrer verkörperte das Gegenteil dessen, was ich bisher als Religionslehrer kennengelernt hatte: Er war nicht dünn, sondern dick, er war nicht schwarz, sondern bunt gekleidet, er war nicht ernst und gefasst vergeistigt über den Wolken schwebend, sondern handfest, humorvoll und lebenslustig.
Eine Diskussion darüber, dass Gott ein Trugbild war, ließ er allerdings nicht aufkommen: »Gott macht das Leben lebenswert«, verkündete er fröhlich, »er gibt uns die Freude und den Spaß!« Ich fand, dass er es sich damit etwas zu einfach machte, schließlich gab es genügend Menschen, denen das Leben aus guten Gründen überhaupt keinen Spaß machte, aber es war mir zu anstrengend, das zu diskutieren – er war wie eine Gummiwand, zwar weich und lustig wie auf dem Spielplatz früher, aber undurchdringlich.
Als er freilich in einer Stunde mal wieder damit anfing, dass die Werte »Gerechtigkeit«, »Mitmenschlichkeit« und »Liebe zur Kreatur als solcher« von Gott unabänderlich gesetzt seien, platzte mir der Kragen: »Warum sehen wir dann nirgends etwas davon?«, fragte ich. »Die Ungerechtigkeit auf der Erde wird doch eher immer größer als kleiner! Wenn alle Menschen Nutznießer der Schätze der Erde sind: Warum gibt es dann den Unterschied zwischen Arm und Reich?«
Er lächelte verschmitzt. »Gute Frage!«, lobte er mich. »Damit kommen wir nämlich zum Kern der Sache!«
Da war sie wieder, die Gummiwand.
»Das zu verwirklichen«, fuhr er fröhlich fort, »ist doch nicht Sache Gottes, sondern« – und nun kam die einstudierte Kunstpause, die er immer einlegte, bevor etwas Bedeutendes kam – »unsere Sache!«
Er lehnte sich zurück und wartete die Wirkung dieser – wie er wohl meinte – überraschenden Erklärung ab.
»Das ist es doch«, erläuterte er, »was das Leben so reich und vielfältig, so erfüllend macht: Wir haben eine Aufgabe!« Er strahlte uns an: »Das ist doch der Sinn des Lebens, nach dem alle suchen, die Gott noch nicht erkannt haben« – er wurde richtig gemütlich feurig – »dass wir immer und überall dafür kämpfen müssen, dass Gerechtigkeit tatsächlich und endlich für alle Wirklichkeit wird!«
»Und wie geht das Kämpfen?«, fragte ich.
»Bei uns selbst müssen wir anfangen«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen, bevor irgendeine weitere Frage aufkam, »bei uns und in unserem unmittelbaren Umfeld, mehr geht sowieso nicht, und, das ist das Schwerste, daran besteht kein Zweifel, wir müssen Geduld haben, Geduld, Geduld und wieder Geduld.« Er holte kurz Luft und setzte sofort wieder zum Sprechen an, bevor ich meine nächste Frage loswerden konnte: »Das ist es doch, wofür wir Gott so unendlich dankbar sein dürfen: dass wir gar nicht nachzudenken brauchen, was unsere Arbeit hier auf Erden ist, sondern jederzeit und überall wissen, was wir zu tun haben: den Willen Gottes in die Tat umzusetzen und Gerechtigkeit unter den Menschen endlich – da geb ich dir recht, Wackernagel – lebendige Tatsache werden zu lassen.«
Damit erübrigte sich meine nächste Frage, nämlich, was denn die hungernden Kinder in China davon hätten, wenn ich hier in Deutschland, wo jeder Bettler im Vergleich zu ihnen reich war, in meinem Umkreis für etwas mehr Gerechtigkeit sorgte oder, wie man es uns als Kindern immer gesagt hatte, meinen Teller aufaß, weil sie nichts auf dem Teller hatten:
»… gar nicht nachzudenken brauchen!« – darum ging es bei dem Glauben.
Denn wenn man nachdachte, fiel man in das tiefe schwarze Loch.
Einer der Freunde meiner Alten war Leiter des »Theater der Jugend« in Schwabing. Er hieß Wolfgang Jobst, hatte lange graue Haare und trug stets eine speckige Lederweste. »Du kannst doch bestimmt gut spielen«, sprach er mich eines Tages an, als ich von er Schule kam und er mit meiner Mutter im Garten saß, »bei der Mutter!«
Ich zuckte mit den Achseln. Sabine wollte brennend Schauspielerin werden – ich auf keinen Fall. »Immer das Gleiche«, antwortete ich.
»Ich brauch noch einen Jungen in deinem Alter für mein neues Stück«, kam er daraufhin direkt zur Sache, »hast du keine Lust? Kannst Geld verdienen!«