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Es waren flüchtige, kurze Begegnungen, an denen sie beide ihren Spaß hatten. Sie freuten sich, wenn sie sich sahen. Doch weil Heidi stark auf das Schreiben ihrer Staatsexamensarbeit und die entscheidenden Abschlussprüfungen fokussiert war, lehnte sie jegliches Schwofen im Studentenkeller ab. „Ich bin doch nicht zum Saufen nach Jena gekommen“, erklärte sie Wolfgang kategorisch, als er nicht verstehen konnte, dass sie keine Zeit für ihn und ausschweifende Abende im Studentenkeller fand.
Trotzdem schien Heidis Haltung auf Wolfgang abzufärben. Er stürzte sich in sein Studium, wie man es bisher von ihm nicht gekannt hatte.
Sein Zimmer sah aus wie eine Räuberhöhle. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Textbücher, Fachliteratur über „Deutsche Klassik“ und eigene Texte. Das Referat über Schillers „Fiesko“ nahm er sehr ernst, und er wälzte viel Sekundärliteratur. Wenn er nicht gerade die Dramen Schillers beackerte, schrieb er an seinem Stück „Der Gast oder Der Versuch zu leben“.
Es sollte autobiografische Züge tragen und die drei Frauenrollen schrieb er Biene, Doris und Edda auf den Leib. Auch schien es, als sei das Stück eine Art Therapie, um die Auseinandersetzungen mit seinem Vater, sein bisheriges Versagen und seine unglückliche Liebe zu Edda bewältigen zu können.
Die Veränderungen, die in Wolfgang vor sich gingen, waren offensichtlich. Er machte kein Hehl mehr daraus, dass er eine Vorliebe für vollbusige Frauen mit breiten Hüften hatte. Er schwärmte für Renoirs „Diana, die Jägerin“. Da von ihr keine billige Kopie zu bekommen war, begnügte er sich mit der „Badenden“ von Auguste Renoir und hängte sich das Bild direkt über sein Bett. Seine Vermieterin konnte ruhig sehen, auf welchen Typ Frau er stand.
An einem Abend, als Heidi untröstlich war, weil sie in Psychologie nur eine Drei bekommen hatte, sagte Wolfgang, der sie im Wohnheim besuchte: „Lass uns einen Spaziergang durch die Gärten unten am Hang machen.“
Sie gingen durch üppig blühende Gärten, die schwer nach Flieder dufteten, und Wolfgang überraschte Heidi mit einem Gedicht. Es hieß „Bleibe“ und war ihr gewidmet. Sie war verlegen und glücklich zugleich, als sie las: „Der Dornenstrauch in mir hat eine Knospe, / die keinen Frühling braucht, um aufzublühen. / Nur eines, eigentlich nur dieses: dich. / Und einen Preis hat dieses Blühen: BLEIBE.“
Sie umarmte ihn, und er spürte, wie erregt sie war.
„Und ich“, sagte sie, „möchte alt werden mit dir.“
Dass sie vom Altwerden sprach, obwohl sie erst 21 Jahre alt war, verwunderte Wolfgang, und er dachte: Sie ist eben eine ungewöhnliche Frau. Schwer zu durchschauen.
Ihre Beziehung wurde immer fester und so war es kein Wunder, dass Heidi ihn zu einer Feier im kleinen Kreis einlud, auf der die bestandenen Examensprüfungen begossen werden sollten.
Als Wolfgang das Gartenlokal im Seidelpark betrat, brauchte ihm niemand zu sagen, wo Heidi, Beate und Anne saßen. Er hörte sie schon von weitem lautstark schnattern, und als er vor dem rustikalen Sechser-Tisch stand, sagte Heidi: „Da bist du ja endlich.“
Bernd, der mit Beate liiert war, sagte: „Somit wäre unsere Männerrunde komplett.“ Und Jochen, ein Sportstudent, sagte: „Ich gehöre zu Anne.“
„Alles klar“, sagte Wolfgang und setzte sich zu Heidi, die schon mächtig in Stimmung war. „Jetzt sind wir dem Staatsexamen schon ein ganzes Stück näher gekommen“, sagte sie. „Drei von fünf Prüfungen haben wir schon geschafft.“
„Mit Bravour geschafft“, ergänzte Beate, die sich vor jeder Prüfung vor Aufregung erbrechen musste.
Obwohl an diesem Abend viel getrunken wurde, musste keiner kotzen.
Und als man gegen Mitternacht aufbrach, hatte jeder von ihnen zwölf Rhöntropfen, etliche Biere und eine halbe Flasche Gamza-Rotwein intus.
Heidi hatte mehr getrunken als sonst, sie war ausgelassener als sonst, und sie war nicht so zugeknöpft wie sonst. Vor der Tür des Gartenlokals schien Heidi zu spüren, wie warm die Nacht war. Der Vollmond stand hell am Himmel, und sie sagte übermütig: „Wir sollten im Schleichersee baden gehen.“
„Jetzt?“
„Jetzt“, sagte Heidi.
Sie stürzten sich nackt in den Schleichersee, bis der ABV mit seinem großen Schäferhund am Strand erschien und das Badevergnügen bei Nacht unterband. Wahrscheinlich hatte ihn jemand, der neidisch auf die ausgelassenen Nacktbader war, informiert. Der Vollmond schien durch die majestätisch großen Bäume. „Kommt raus!“, rief er. „Es ist streng verboten, hier zu baden!“
Wolfgang hatte Angst vor dem Schäferhund und nur zögernd folgte er Heidi, die, im flachen Wasser angekommen, mutig auf das Ufer zuschritt. Der ABV hatte nur Augen für Heidi, Beate und Anne. Zu Wolfgang, Bernd und Jochen sagte er süffisant: „Dann noch viel Spaß.“ Und drohend fügte er hinzu: „Und verhaltet euch ruhig auf dem Heimweg. Sonst gibt’s Ärger!“
Heidi, die sich mit ihrem Unterrock und ihrem Schlüpfer notdürftig abgetrocknet hatte, war völlig nackt unter ihrem dünnen Sommerkleid, als sie durchs nächtliche Jena liefen, und Wolfgang konnte sehen, wie das Kleid auf ihren nassen Hüften klebte.
Als sie Richtung Stadt auf den Paradiesbahnhof zuliefen, sagte Wolfgang: „Ich muss jetzt links weg.“
„Ich auch“, sagte Heidi zur Überraschung aller. „Ich will doch endlich sehen, wo Wolfgang haust.“
Im Dunkeln betraten sie Wolfgangs Kellerwohnung und Heidi sagte:
„Licht brauchen wir nicht zu machen. Der Mond ist hell genug.“
„Aber zur Orientierung ist es vielleicht nicht schlecht, wenn ich mal kurz das Licht anmache“, sagte Wolfgang.
„Orientierung kann nicht schaden“, Heidi klang ziemlich beschwipst.
„Orientierung ist immer gut.“
Als sie „Die Badende“ über Wolfgangs Bett sah, sagte sie: „Da bin ich ja in bester Gesellschaft“ und fing an, sich auszuziehen. Als sie nackt in der Stube stand und ihr Kleid über den Stuhl vorm Schreibtisch legte, musste Wolfgang, der in der Tür zur Küche stand, daran denken, wie er die dicke Frau Fendrich nackt unter der Dusche gesehen hatte.
Er löschte das Licht, zog sich aus und legte sich zu Heidi auf das weiche Federbett. Später sagte Heidi, die entspannt und erschöpft neben ihm lag: „Sind wir nicht geschaffen füreinander?“
„Ich denke schon.“ Wolfgang war mit seinen Gedanken bereits beim ersten gemeinsamen Ostsee-Urlaub. Drei Wochen zusammen in einem Zelt, dachte er. Was Schöneres kann es doch gar nicht geben.
7. Kapitel
Wenige Tage vor dem gemeinsamen Ostseeurlaub rief Heidi an. Sie könne nicht mit zum Zelten fahren, ihre Mutter liege mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus und müsse operiert werden. „In dieser Zeit muss ich mich um den Haushalt kümmern“, sagte Heidi. Ihr Vater und ihr Großvater müssten von ihr bekocht werden. Wenn Wolfgang sich entschließen könnte, nach Arnsbach zu kommen, wäre sie sehr froh, meinte Heidi.
Einen Tag vor Heidis Geburtstag fuhr Wolfgang mit dem 14-Uhr-30-Zug von Erfurt in Richtung Meiningen und stieg nach einer Stunde Bahnfahrt in Zella-Mehlis um. Dann ging es mit einer Dampflokomotive auf einer einspurigen Nebenstrecke bis zur ersten Haltestelle in Birkenhall, und von da aus musste Wolfgang drei Kilometer zu Fuß zurücklegen, bis er das Stillmarksche Haus am Rande von Arnsbach erreicht hatte.
Nichtsahnend trat er durch das Hoftor, das sperrangelweit offen stand. Kaum hatte er den Hof betreten, rannten ihm drei kläffende Dackel entgegen. Angst durchzuckte ihn. Er stand wie angewurzelt und hielt den Atem an, als einer der Dackel an ihm hochzuspringen versuchte.
In diesem Moment ertönte ein Pfiff. Ein Mann um die vierzig kam um die Hausecke herum. Die Dackel rannten zu ihm „Hunde, die bellen, beißen nicht“, sagte er und lachte, als er sah, wie vorsichtig Wolfgang auf ihn und die Hunde zukam.
August Stillmark hatte ein rundes Gesicht und auffallend große, wasserblaue Augen. Seine Kinnpartie schimmerte rosig und glatt wie bei einem Kind. Seine dunkelblonden Haare lagen streng gescheitelt altmodisch nach hinten gekämmt. Er war mittelgroß und etwas übergewichtig.
„Du also bist Heidis neuer Freund“, sagte er. Anscheinend hatte er keine Ahnung, dass seine Tochter wild entschlossen war, diesen schlaksigen Kerl mit dem blässlichen Vogelgesicht und den schulterlangen Haaren zu heiraten.
Heidi kam aus dem Haus, fiel Wolfgang um den Hals, und schien sich riesig zu freuen, dass er gekommen war. Sie nahm ihm den Campingbeutel ab und sagte: „Komm rein!“
Sie führte ihn in eine kleine Kammer, in der nur ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch und ein alter Holzstuhl standen. Es war die frühere Wurstkammer, und Heidi meinte, als sie Wolfgangs missmutigen Blick sah: „Für ein paar Tage geht es schon mal. Und viel wirst du sowieso nicht in diesem Zimmer sein.“
Wenig später rief Heidi durchs Haus: „Opa, wir kommen kurz mal hoch zu dir“. Ihr Großvater saß in einem bequemen Sessel seitlich vorm Fenster. Um sich besser unterhalten zu können, wechselte der alte Mann vom Sessel auf das schmale, kurze Sofa. Am Küchentisch sitzend, hatte er nun Heidi und Wolfgang besser im Blick, die ihm gegenüber auf den alten, weiß gestrichenen Stühlen Platz nahmen.
Louis Stillmark war 80 Jahre alt und sah aus, wie man sich einen Großvater vorstellt, der weißhaarig und weise und immer milde gestimmt seiner geliebten Enkelin Geschichten von früher erzählt.
„Ich kann kaum glauben, dass es, auf den Tag genau, 22 Jahre her sind, dass Karoline und ich deine Mutter, die hoch schwanger war, ins Krankenhaus nach Birkenhall gebracht haben“, sagte er. „Als deine Mutter die ersten Wehen bekam, zogen wir uns in aller Eile an und brachten sie zu Fuß ins Krankenhaus. Denn im Dorf gab es keine Hebamme, nicht mal eine Gemeindeschwester. Und ein Auto war weit und breit nicht verfügbar“, erinnerte er sich. „Wir schlichen also los, hinterm Haus ins Feld, am Waldrand entlang und am Mühlenteich vorbei, wo die Russen ein Zelt stehen hatten. Es war zwar gefährlich. Aber es war der kürzeste Weg, den wir kannten. Unterwegs sprachen wir kaum ein Wort und schafften es in einer guten halben Stunde bis zum Krankenhaus. Mit einer kleinen Tasche gaben wir Lisbeth beim Pförtner ab und eilten, so schnell wir konnten, teils im Dauerlauf, teils schleichender Weise, um nicht aufzufallen, nach Hause. Am nächsten Tag dann wurdest du im Birkenhaller Krankenhaus geboren.“
„Und morgen feiere ich meinen 22. Geburtstag auf der Schneidmühle“, meinte Heidi. Das sei mit Lisa, ihrer Patentante, so abgemacht.
Nach dem Abendbrot sagte Heidi, dass sie sich jetzt ums Mittagessen für morgen kümmern müsse und Wolfgang, der ihr beim Kochen nicht unnütz im Weg herumstehen wollte, wechselte von der Küche in die Wohnstube. Er sah sofort, dass hier ein Musiker und Hundenarr zu Hause sein musste. An der linken Wand, von der Tür aus gesehen, stand ein aufgeklapptes Klavier, und auf dem Wohnzimmerschrank gleich rechts lag, zwischen einem wuchernden Asparagus-Stock und einem Rauhaardackel aus weißglasiertem Porzellan, eine löwenzahngelbe Trompete.
Heidis Vater saß auf dem Sofa. Auf dem Wohnzimmertisch vor ihm türmten sich Ausstellungskataloge und Zuchtbücher. „Setz dich doch“, August Stillmark deutete auf einen Stuhl. „Ich will herausfinden, woher die Junghündin abstammt, die mein Schul- und Dackelfreund Hartfried gekauft hat.“
Der Stammbaum sei entscheidend für die Zucht, sagte August Stillmark zu Wolfgang, der es sich im Polsterstuhl ihm gegenüber bequem gemacht hatte. August Stillmark sprach über das Ausleseprinzip bei Teckel-Welpen und bei Wolfgang, der null Ahnung von Hunden hatte, kam der Gedanke an Herrenrasse und Euthanasie auf. Er fand es ungeheuerlich, dass Welpen mit einem Kehlstrich getötet und Teckel mit Epilepsie ausgemerzt wurden.
Als Wolfgang und August Stillmark wenig später ein Bier miteinander tranken und sich über den Tisch zuprosteten, sagte August Stillmark: „Aus Erfurt also bist du.“
„Ja“, antwortete Wolfgang.
„In Erfurt habe ich meinen ersten Dackel erfolgreich ausgestellt.“ 1941, als Zwanzigjähriger habe er zum ersten Mal an einer Ausstellung für Teckel teilgenommen, und seit gut zwanzig Jahren züchte er erfolgreich Dackel, sagte August Stillmark und fing an, seine bisher größten Erfolge aufzuzählen. Dabei betrachtete er ein Bild, das über dem Wohnzimmerschrank hing. Auf dem DIN-A4-großen Foto war „Bärbel v. d. Loibe“ zu sehen, eine rote Langhaarhündin, mit der August Stillmark bei der Hauptzuchtschau im Jahre 1955 den Siegertitel geholt hatte. „Sie lief in der Gebrauchshundeklasse Hündinnen V1“, sagte August Stillmark. Es sei eine Wucht gewesen, wie sie sich gezeigt habe.
Allerdings war die Aufnahme, an der er sich so sehr ergötzte, Tage nach der Ausstellung im Atelier des Stadtfotografen gemacht worden. „Bärbel v. d. Loibe“ stand auf einem kleinen, mit weißer Seide überzogenem Podest und schien das grelle Licht der Fotolampen zu genießen. August Stillmark beschrieb die rote Langhaarhündin, als handele es sich um eine Frau. „Sie hatte auffallend dunkle, ovale Augen, eine schön verlaufende Brustlinie, einen sehr guten Rücken und vorbildliches Haar“, schwärmte er.
Auch Heidi könne die Schönheit eines Dackels beurteilen, sagte er und erzählte voller Stolz, dass sie als Oberschülerin eine Abhandlung über Hunde geschrieben habe. „Ich habe mir diese Arbeit gut aufgehoben“, er gab seinen Sofaplatz für kurze Zeit auf und kramte im oberen Fach des Wohnzimmerschranks, dessen Aufsatz aus einem schmalen Holzteil und einem breiten Glasteil bestand.
August Stillmark wurde fündig und reichte Wolfgang Heidis Arbeit, die den Titel „Der Hund, ein treuer Freund des Menschen“ trug. Als Fünfzehnjährige hatte Heidi diese reich bebilderte Abhandlung angefertigt, und dass sie nur eine Zwei bekommen hatte, ärgerte August Stillmark noch immer. Dem Lehrer, der die Arbeit bewertet hatte, sprach er jeden Sachverstand ab. Heidi verstehe was von Hunden. Sie könne gut mit ihnen umgehen, meinte er.
Als Wolfgang den Schnellhefter aufschlug, fiel ihm eine Postkarte entgegen, die als Lesezeichen diente. Auf der Vorderseite war der Deutsche Doggenrüde „Ajax von Wieland“ abgebildet, der mit den Worten „Kapitaler Deckrüde mit bester Vererbung, mehrfach mit Vorzüglich und ersten Preisen prämiert“ angepriesen wurde.
Auf der Rückseite stand: „Herrn Kapellmeister August Stillmark, Teckelzucht-Anstalt, Arnsbach.“
„Die ist sicherlich an dich gerichtet“, sagte Wolfgang und schob August Stillmark die Karte über den Tisch. „Von meinem besten Freund Oehring“, sagte der. „Obwohl er Dackel züchtete, hielt er sich einen gefleckten Deutschen Doggenrüden.“
Oehring sei immer zu Späßen aufgelegt gewesen und hätte immer schrullig-lustige Karten geschrieben, die nur Eingeweihte verstehen konnten, erzählte Stillmark und gab den Postkarten-Text zum Besten: „Werter Freund Stillmark! Ich suche einen jungen Langhaar- oder Rauhaarteckel-Rüden mit Zettel, gesund & in Ordnung. Falls Du mir einen Tipp geben kannst, wo ich die Dinge finden kann, dann gib bitte Hals & ich erscheine zur Besichtigung & Abnahme.“
Wolfgang verstand nur Bahnhof. Aber August Stillmark wusste, was gemeint war. „Auf gut Deutsch heißt das: Er sucht einen jungen Teckelrüden, der Stammbaum hat, staupe- und tollwutgeimpft ist, Wesen hat und eine vielversprechende Form besitzt. Sobald ich einen solchen Hund gefunden habe, soll ich ihm Bescheid geben, und er kommt, um sich den Teckel anzusehen und zu kaufen.“
Wolfgang erinnerte sich an Nelly und Fricka, Hunde vom blinden Fendrich, die ihm als Kind furchtbare Angst eingeflößt hatten. Er tippte auf das Bild eines Schäferhundes, der rehbraun war, und sagte: „So sah Hasso aus.“ Hasso, der dem alten Scholl in der Unterstadt gehört habe, sei beim Wildern im Wald erwischt und vom Förster erschossen worden, erzählte er.
„Den Kerl, der meinen Hund erschießt, würde ich umbringen“, sagte August Stillmark und verließ seinen Sofaplatz. Er legte die Ausstellungskataloge und Zuchtbücher zurück in den Wohnzimmerschrank, griff nach seiner Trompete und spielte den ersten Satz des Hummel-Konzerts an. Dann sagte er: „Ich habe in Erfurt zwei Jahre lang das Thüringische Landeskonservatorium besucht und 1950 erfolgreich abgeschlossen.“
Als August Stillmark sich für das externe Musikstudium in Erfurt entschieden hatte, war er noch Betriebsschlosser auf der Schneidmühle in Silberberg gewesen. Tagsüber schärfte er Sägen und an manchem Wochenende besserte er seinen Lohn auf, indem er in Kirmeskapellen spielte. Oskar Anschütz verstand zwar, dass August Stillmark sich etwas durchs Musikmachen dazu verdiente, aber völlig unverständlich war ihm, dass sein Schwiegersohn Woche für Woche zum Trompetenunterricht nach Erfurt fuhr.
August Stillmark jedoch nahm die beschwerlichen Bahnfahrten nach Erfurt zwei Jahre lang an jedem Wochenende in Kauf, weil er hauptberuflich Musik machen wollte. Er war 29 Jahre alt und sein Lebenstraum war es, erster Solotrompeter in einem Theaterorchester zu werden.
Oskar Anschütz hatte nichts für die Pläne seines Schwiegersohnes übrig. Er brauchte einen Mann, der fest zupacken konnte und immer verfügbar war, wenn auf der Schneidmühle außer der Reihe Arbeiten zu verrichten waren. Selbst im Stall gab es immer etwas zu tun, und für das ständige Trompetespielen seines Schwiegersohnes, der sich Abend für Abend für den Wochenendkurs am Konservatorium präparierte, hatte er kein Verständnis.
„Nicht zum Aushalten war das“, sagte August Stillmark. Und so sei ihm die Entscheidung, ins elterliche Haus nach Arnsbach zu ziehen, nicht schwergefallen. 1949 sei das gewesen, „Butzkes, eine Umsiedlerfamilie aus Schlesien, gingen zu Verwandten nach Hessen, und die Mansardenwohnung wurde frei. Meine Mutter war zwei Jahre zuvor gestorben, und mein Vater war ganz allein im Haus.“
Gleich nach dem Umzug habe er beim Alten in der Schneidmühle gekündigt und die Stelle als erster Trompeter im Schau- und Tanzorchester Birkenhall angenommen, erzählte August Stillmark. Denn von Kindesbeinen an sei es sein Wunsch gewesen, hauptberuflich Musik zu machen. „Als ich zehn Jahre alt war, nahm ich Privatunterricht im Fach Violine beim Großvater meiner Stiefschwester“, sagte August Stillmark. „Während meiner Lehrzeit ließ ich mich im Fach Trompete unterrichten, und als Lehrausbilder habe ich sogar einen Schülerchor geleitet.“
„Ich habe nie ein Instrument gelernt, und ich habe nie im Schulchor mitgesungen“, sagte Wolfgang. Und er gestand, dass er total unmusikalisch sei. August Stillmark wollte das nicht glauben. „Jeder ist musikalisch“, sagte er und begann sofort, Wolfgangs Rhythmusgefühl zu prüfen.
Auf dem Sofa sitzend, nahm er die Position eines Schlagzeugers ein. Mit seinen ausgestreckten Zeigefingern trommelte er Takte auf die Tischplatte. Wolfgang gelang es kein einziges Mal, den vorgegebenen Rhythmus nachzuklopfen.
Das aber hielt August Stillmark nicht davon ab, Wolfgang einem weiteren Test zu unterziehen. Er stellte sich vors Klavier und schlug einzelne Töne an, die Wolfgang nachsingen sollte. Aber Wolfgang traf keinen der angeschlagenen Töne richtig. Er merkte nicht einmal, wenn er einen halben oder ganzen Ton daneben lag.
Für August Stillmark, der ein absolutes musikalisches Gehör besaß, war das nicht zu begreifen. Aber er ließ nicht locker.
Als er gerade dabei war, Wolfgang zu zeigen, wie er die Trompete ansetzen und halten müsse, um einen vernünftigen Ton aus ihr herauszukriegen, schob Heidi ihren Kopf durch die spaltbreit geöffnete Wohnstubentür und bewahrte Wolfgang vor einer weiteren Blamage.
„Das Mittagessen für morgen ist fertig“, sagte sie. „Es gibt Hühnerfrikassee. Wenn du Lust hast, kannst du schon mal davon probieren.“
August Stillmark hatte immer Lust, wenn es ums Essen ging, und so stand er Augenblicke später vorm Gasherd in der Küche und löffelte aus einem großen Topf das heiße Frikassee. Am genüsslichen Schlürfen hörte man, dass es ihm schmeckte.
Bevor August Stillmark am nächsten Morgen das Haus verließ, über die Wiese hinterm Haus ging und der PGH im Feld zustrebte, legte er ein Briefkuvert mit 50 Mark auf den Küchentisch und blies, im Korridor stehend, „Happy birthday to you“.
Wolfgang, den der frühmorgendliche Auftritt aus dem Schlaf gerissen hatte, hörte, wie Heidi von der Balustrade der oberen Etage herab sagte: „Schönen Dank für das Ständchen.“ August Stillmark rief von unten zurück: „Viel Spaß auf der Schneidmühle.“
8. Kapitel
Die Toreinfahrt zur Schneidmühle in Silberberg war doppelt so breit wie die vorbeiführende Hauptstraße, und über der gesamten Toreinfahrt prangte ein gewaltiges Firmenschild aus Holz, das wie ein Riesen-Transparent wirkte. In großen, schwarzen Lettern war zu lesen. „Emil Anschütz, Sägewerk & Zimmerei“.
Wie ein großes L lagen die Gebäude der Schneidmühle vor ihnen. Die Firma Anschütz, die einst 21 Leute beschäftigt hatte, war in den Jahrzehnten ihres Bestehens zu einem Kleinbetrieb geschrumpft und nannte sich jetzt „Metallwaren Emil Anschütz.“
Exzenter lärmten in der kleinen Werkstatt unter der ehemaligen Kutscherwohnung, in der Pfennigabsätze gefertigt und Kofferscharniere gestanzt wurden.
Von der fünfköpfigen Belegschaft arbeiteten drei in der Produktion: Onkel Fritz, Onkel Rolf und Tante Herta. Lisa, Heidis Patentante, war im Kontor beschäftigt und half in der Werkstatt nur mit, wenn Not am Mann war. Oskar, Heidis Großvater, schaute nur ab und an in die Werkstatt. Ansonsten kümmerte er sich nicht um den Metallbetrieb, in dem zwei seiner Töchter und die beiden Schwiegersöhne arbeiteten.
Als Heidi und Wolfgang an der kleinen Werkstatt vorbeigingen, die sich gleich links an einer der Giebelseiten befand, blieb Heidi stehen und sagte: „Falls jemand aus der Verwandtschaft einen Ferienjob oder kurzfristig Arbeit brauchte, war immer ein Exzenter frei.“
Sie standen vor einem niedrigen Fenster. Sie habe oft in den Ferien hier gearbeitet, Heidi zeigte in die kleine, dunkle Werkstatt und versuchte, sich durch lautes Klopfen ans Fenster bemerkbar zu machen. Aber der Lärm in der Werkstatt war so groß, dass niemand davon etwas mitbekam.
Beim flüchtigen Blick durchs Fenster nahm Wolfgang schemenhaft zwei Männer und eine Frau wahr. Der mit der Latzhose, der an der Bohrmaschine stehe, sei Onkel Fritz, und Onkel Rolf sei der mit dem blauen Kittel, der gerade Draht zerschneide, und Tante Herta sitze mit dem Rücken zu ihnen an einem Exzenter, erklärte Heidi. „Aber die lernst du ja alle noch heute Nachmittag kennen. Spätestens heute Abend.“
Tante Lisa, die auf Heidi und Wolfgang gewartet hatte, nahm sie an der Haustür in Empfang. Sie war eine füllige, vollbusige Frau, die eine gewisse Warmherzigkeit ausstrahlte. Ihr Blick jedoch wirkte etwas kalt, was ihren grün-grauen Augen geschuldet war. Sie trug eine weiße, kurzärmlige Sommerbluse, die ziemlich tief ausgeschnitten war, und ihr cremefarbener Rock, der handbreit über ihren dicken Knien endete, spannte etwas über ihrem Unterbauch.
Lisa war 37 Jahre alt, und ihr vierjähriger Sohn, eines von drei Kindern, hing ihr im wahrsten Sinne des Wortes am Rockzipfel. Scheu und verschämt gab er Heidi und Wolfgang die Hand. Dann hüpfte er ausgelassen durch den dunklen Flur vor ihnen her.
Als Wolfgang und Heidi die große Bauernküche betraten, unterbrach Minna Anschütz ihr Hantieren am Herd.
Heidis Großmutter war klein und zierlich. Ihre grauen Haare, die glatt nach hinten gekämmt waren, wurden durch einen Knoten zusammengehalten. Weil es ihr streng konservativ eingestellter Mann so wollte, trug sie auch an diesem heißen Augusttag eine Alltagstracht, zu der ein langer, schwarzer Rock gehörte.
Minna freute sich über Heidis Besuch, drückte sie fest an sich und gratulierte ihr zum Geburtstag. Dann erkundigte sie sich sofort danach, wie es der Großen gehe. Heidis Mutter Lisbeth, die Älteste ihrer Töchter, war für sie die Große, obwohl sie die Kleinste war, und die jüngste Tochter war für sie die Kleine, obwohl sie die Größte war.
Wolfgang setzte sich unbeachtet auf einen Stuhl in der Ecke.
Heidi sagte, dass ihre Mutter vielleicht schon am nächsten Montag aus dem Krankenhaus entlassen würde.
Minna war erleichtert darüber und setzte die Kartoffeln auf. „Und was macht dein Vater so?“
„Fast jedes Wochenende tritt er auf irgendeinem Sommerfest auf“, sagte Heidi. „Heute Morgen hat er für mich ‚Happy birthday‘ gespielt.“