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Als John aufsah, merkte er, dass er schon wieder kurz vor Marcos Haus angekommen war, die Gedanken an seine Frau und seinen Sohn hatten ihn völlig die Zeit vergessen lassen.
Als John durch das Gartentor gehen wollte, hörte er, wie ein Streifenwagen mit hoher Geschwindigkeit die Straße entlanggerauscht kam und mit quietschenden Reifen vor dem Haus anhielt. Ein junger Polizist sprang aus dem Wagen und ging auf John zu.
„Entschuldigen Sie, sind Sie John Brockmann?“
„Ja“, antwortete John, „was kann ich für Sie tun?“
„Sie können einsteigen und mich auf das Revier begleiten. Wir haben Neuigkeiten!“
John stieg in den Wagen ein und rief noch schnell Marco an, um ihm Bescheid zu geben.
Auf dem Revier herrschte hektisches Treiben. Überall klingelten Telefone. Beamte rannten hin und her, es wimmelte wie in einem Bienenstock. John wurde von dem Polizisten in einen weiß getünchten Raum mit einem Tisch und vier Stühlen begleitet, in der Wand an der Stirnseite war der typische einseitige Spiegel eingelassen. An jeder Ecke der Decke war eine Kamera montiert, und der rote Punkt signalisierte John, dass aufgezeichnet wurde.
Als die Tür sich öffnete, kam ein uniformierter Polizist herein und stellte seinen Kaffeebecher vor ihm auf den Tisch.
„John Brockmann?“, fragte er. „Inspector Tenner von der Mordkommission.“
Bei John zog sich sofort der Magen zusammen. Mordkommission, hatte er das richtig gehört?
„Wir müssen ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen, wir haben heute Morgen in einem verlassenen Haus in Queens die Leichen einer Frau und eines Kindes aufgefunden. Wir vermuten, dass es sich um Ihre Frau und Ihr Kind handelt.“
Der Raum begann sich um John zu drehen. Alles verschwamm um ihn herum.
„Mister Brockmann? Haben Sie verstanden, was ich gerade gesagt habe?“
„Ja, ja“, antwortete John fahrig.
„Ich muss Sie das jetzt fragen, John, hatten Sie Streit, oder können Sie sich erklären, was hier vorgefallen ist?“
John verstand die Frage nicht. Als er langsam wieder zu sich kam und die Tragweite der Frage verstand, stiegen Wut und Entsetzen in ihm auf.
„Sie, Sie glauben tatsächlich, dass ich etwas damit zu tun habe? Ich habe meine Frau und meinen Sohn geliebt. Sie waren alles, was ich noch auf dieser Welt hatte, und sie waren der Inhalt meines Lebens, der Grund, warum ich am Leben bin! Um auf Ihre Frage zu antworten: Nein, wir hatten keinen Streit! Es gab allerdings schon einige sehr eigenartige Dinge, die in letzter Zeit vorgefallen sind.“ Die Tränen begannen John die Wangen hinabzulaufen, er konnte sie einfach nicht länger unterdrücken. Stockend und immer wieder von Aussetzern begleitet, wenn die Bilder von seiner Familie in ihm hochkamen, erzählte er detailliert, was sich mit dem Italiener zugetragen hatte, den er nur als Gianluca kannte, und was seither geschehen war.
Inspector Tenner machte sich Notizen und nickte immer wieder mit dem Kopf.
„Okay, John, eine unglaubliche Geschichte, für die Sie leider keinen einzigen Beweis haben. Was wir allerdings haben, ist eine Bestätigung der Versicherungsgesellschaft, dass die Prämie der Lebensversicherung Ihrer Frau vor Kurzem erhöht wurde. Die Indizien sind eindeutig. Ihr Konto ist überzogen, Sie haben Schulden, und plötzlich so etwas. Ehrlich, Mann, das passt zu gut zusammen.“
Die Information, dass sein Konto überzogen sein sollte, war gänzlich neu für John. Er verdiente gut, und über Geld machten sie sich schon seit Jahren keine Gedanken mehr. Die Lebensversicherung von Emma hatten sie vor zwölf Jahren nach ihrer Hochzeit gemeinsam abgeschlossen, um Felix abzusichern für den Fall, dass einmal etwas passieren sollte. Nichts von all dem, was Tenner ihm erzählte, ergab für John einen Sinn. Seine Trauer wurde von Wut weggespült, er fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier.
„Wie geht es jetzt weiter?“, wollte er von Tenner wissen.
„Sie kommen morgen nach der Autopsie noch einmal vorbei. Sagen wir, gegen acht Uhr früh. Wir brauchen Sie, um die Frau und den Jungen zu identifizieren.“
John war müde und fühlte sich schwach auf den Beinen.
„Gut, dann bis morgen, Inspector Tenner.“
Er stand auf und verließ das Revier auf schnellstem Weg.
John beschloss, zu Fuß zu Marco zurückzugehen, er musste seinen Kopf freibekommen, er musste nachdenken, auch wenn er gerade das Gefühl hatte, nicht bis drei zählen zu können. Je länger John lief, desto mehr spürte er in sich einen Zorn aufsteigen, den er so in seinem ganzen Leben noch nie gespürt hatte. Aber der Zorn schärfte seinen Verstand, und mit einem Mal war ihm klar, was er als Nächstes zu tun hatte.
GESCHÄFTE, NEW YORK, ANFANG 2015
Ronald saß in seinem Büro im 44. Stock des Grump Towers. Das Büro war so eingerichtet, wie er es sich gewünscht hatte. Vielleicht ein wenig protzig, aber ihm gefiel es. Es war ein riesiger Raum, damit die Kameras für seine Show genügend Platz hatten.
Hier wurde unter normalen Umständen nicht gedreht, aber einige Szenen hatten ihn bei Arbeitsmeetings gezeigt, und er liebte es, dass alle Welt sah, wie und wo er arbeitete. Etliche Geschäftsabschlüsse ließen sich darauf zurückführen, dass Partner sich in diesem Filmset sehr wohlfühlten und sich als Teil der Show verstanden.
Wehmütig dachte er an die ersten Folgen seiner TV-Show. Wieder einmal so eine glückliche Fügung. Ronald war rechtlich gesehen bankrott. Er hatte über 350 Millionen Dollar Schulden allein bei der Finanzbehörde, die Schulden bei seinen Geschäftspartnern nicht mitgerechnet, die summierten sich leicht auf das Doppelte.
Aber er hatte dieses untrügliche Gefühl im Bauch, das nur wahre Hasardeure und wirklich erfolgreiche Geschäftsmänner haben: Da war viel mehr drin als nur eine Gage.
Er hatte die Show in eine wahre Geldmaschine umgewandelt; das eigentliche Konzept sah vor, dass er nach einer Staffel aussteigen würde und der nächste Prominente übernahm, aber er sah das Potenzial und schuf etwas wirklich Großes.
Pro Jahr kam er mit der Show leicht auf 50 Millionen Dollar Gewinn, nicht nur als Produzent und Moderator. Er machte eine Marketing-Show aus seiner Sendung, zeigte Produkte von Waschmittel bis Pizza und kassierte dabei mit ab. Nebenbei wurde er immer berühmter, sodass die Werbefirmen Schlange standen, um Krawatten, Hemden, ja sogar Unterwäsche mit seinem Namen zu verkaufen. Manche Ideen waren weit hergeholt und funktionierten trotzdem prächtig. Steaks mit seinem Namen wurden verkauft, Wasserflaschen und allerlei anderes Zeug wurden mit dem Grump-Logo versehen, und es verkaufte sich. Es war eine glückliche Zeit, nur einige Probleme oder, besser gesagt, Ärgernisse blieben.
Den Respekt, den er sich vom „alten Geldadel“ versprochen hatte, bekam er nicht. Nicht einmal, nachdem er gegen alle Widerstände den Grump Tower hochgezogen hatte. Eine wahre Heldentat, die niemand außer ihm geschafft hätte.
Zuerst erwarb er gegen eine 50-prozentige Beteiligung an dem Bauprojekt von einer Versicherungsfirma das Grundstück. Als Nächstes ließ er das alte Kaufhaus abreißen, kaufte dem benachbarten Tiffany die Rechte ab, in die Höhe bauen zu dürfen. Offiziell war es untersagt, Hochhäuser zu bauen, aber durch den Kniff, alte, bestehende Rechte zu nutzen, umging er die Regeln. Hauptsächlich wurden jede Menge illegaler Arbeiter auf seiner Baustelle beschäftigt, das drückte die Kosten, und diese irrsinnigen Arbeitszeitregeln konnten vernachlässigt werden. Man behauptete, dass er über die einzige Baustelle in New York verfügte, auf der Tag und Nacht gearbeitet wurde.
Er verbündete sich mit allen im Zement- und Baugeschäft tätigen Mafiafamilien; ohne deren Beteiligung entstand in New York kein Gebäude. Er konnte nicht verstehen, was man gegen diese Leute haben konnte. Klare Regeln, das Geschäft ging immer vor, und man hielt sich an Absprachen. Mehr, als man von jedem Politiker aus diesem verlogenen Washington jemals bekommen würde.
Seine Idee, Boni in Anspruch zu nehmen für Gebäude mit gemischter Nutzung für Läden, Wohnungen und Büros, war brillant, damit konnte er noch weiter in die Höhe bauen, und als er dann auch noch ein öffentlich zugängliches Atrium plante, erlaubte ihm die Stadt sogar, noch höher zu bauen. Leider bekam er nicht seine gewünschte Anzahl von 63 Stockwerken, aber die 58 genehmigten waren weit mehr, als er sich erhofft hatte, mit jedem weiteren Stockwerk vervielfachte sich sein Gewinn.
Aber wurden diese Leistungen anerkannt? Nein!
Er wäre zu laut, zu glamourös, zu oft im Fernsehen, sein Geld würde stinken, weil er mit der Mafia zusammenarbeitete, was sich natürlich nicht beweisen ließ. Alles Nonsens. Er hatte aus dem, was sein Vater ihm hinterlassen hatte, ein Imperium aufgebaut. Eine Marke, er war die Marke.
Casinos, Golfplätze, Hotels – alles das trug seinen Namen. Er hatte es geschafft, zu den ganz Großen im amerikanischen Geschäft aufzusteigen. Er allein.
Ein Problem blieb: Das Geld durch die Fernsehshow war nicht genug. Die Zahlungen an die Mafia, die Pleite seines Casinos in Atlantic City, die Schulden und Beteiligungen bei Geschäftspartnern und diese verflixte Steuer, all das ließ sich mit den Einkünften aus einer Show nicht begleichen. Was er aber bei alldem gelernt hatte: Bauen bringt Geld, Eigentümer von Grundstücken zu sein, bringt richtig Geld und dazu noch Macht. Und diese beiden Dinge liebte Ronald mehr, als er jemals überhaupt einen Menschen lieben könnte. Es war nicht vergleichbar mit dieser platten Liebe zu anderen Menschen, die vergänglich ist und erneuert werden muss. Geld und Macht blieben und wurden zu einem Begleiter, der Schutz und Distanz schuf.
Wie gerne hätte er jetzt seinen alten Mentor angerufen. Nun musste er selbst sehen, wie er mit diesem Problem fertigwurde. Sein Mentor hatte ihn unauffällig in diese gewissen Kreise eingeführt, in denen beiläufig Geschäfte gemacht wurden und man sich doch nur über Mittelsmänner kannte. Nichts nachvollziehbar, keine Spuren hinterlassen. Immer auf der Hut vor den staatlichen Behörden.
Er ging zum Telefon und rief einen seiner alten Kontakte an. Er hatte diese Nummer schon lange nicht mehr gewählt und musste das kleine Büchlein aus seinem Wandtresor holen. Die Zahlenkombination war sein Geburtsdatum rückwärts eingegeben. Brillant!
Es klingelte nur einmal in der Leitung, bevor eine Stimme zu hören war. Man stellte sich nicht vor, sondern kam gleich zur Sache.
„Ich benötige Ihre Unterstützung, ich suche in Manhattan Baugrund, idealerweise in der Nähe meines Towers, und würde zu den üblichen Konditionen die Regulierung der Verbindlichkeiten übernehmen.“
Schweigen in der Leitung. Dann die leise, ein wenig kratzende Stimme.
„Ich melde mich morgen wieder bei Ihnen.“ Damit war das Gespräch beendet.
Ronald ging in die Küche und machte sich ein riesiges Sandwich. Mit Bedacht vermied er dabei alles, was nur ansatzweise nach Salat aussah. Hippies und Vegetarier aßen so etwas, er verachtete beide Spezies.
DIe Suche, New York, Sommer 2015
John saß in Marcos Küche und starrte an die Wand mit der Küchenuhr.
Diese Uhr kannte John schon seit Kindheitstagen. Wenn sie nach dem Spielen bei Marco zum Essen waren, schaute John immer auf die Uhr, um ja nicht zu spät nach Hause zu kommen. Es war ein altes Modell, mit römischen Ziffern und einem leicht verbogenen Zeiger für die Stunden.
Heute war es anders. Er fürchtete sich vor diesem Tag. Die Beerdigung sollte als kleine Zeremonie ohne Gäste stattfinden. Er hatte keine Einladungen und keine Karten versendet, er wollte allein Abschied nehmen. Nicht einmal Marco sollte kommen, so war sein Wunsch.
Er allein mit seiner Frau und seinem Sohn, das letzte Mal, für immer.
Die Identifizierung der beiden Toten war das Schlimmste, was John jemals erlebt hatte. Man hatte ihm zwar nur die Gesichter gezeigt und nur für einen kurzen Augenblick, der allerdings hatte genügt, um sich zu übergeben. Die starren Augen und der halb geöffnete Mund von Felix waren seither in sein Gedächtnis eingebrannt.
John zog seine Jacke an und fuhr zum Marble Cemetery, hier wurden seit langer Zeit alle Brockmanns bestattet. Er hatte eine Trauerrede vorbereitet, verbunden mit zwei Versprechen. Er wollte, wenn die Zeit gekommen war, neben ihnen liegen, und er gab das Versprechen, die Leute zur Rechenschaft zu ziehen, die zwei Leben auf so furchtbare Art genommen hatten.
Als John aus dem Taxi ausstieg, begann es leicht zu regen. „Auch der Himmel weint“, dachte sich John und ging zu den Gräbern, wo der Bestatter bereits auf ihn wartete.
Marco war erneut zu Nachforschungen bei seinen alten Freunden unterwegs, um mehr über die Hintermänner in Erfahrung zu bringen und vielleicht doch etwas über den unbekannten Italiener herauszufinden.
John hatte in der Zwischenzeit im Büro angerufen. Seine Assistentin Katie Lopez war voller Mitgefühl und Mitleid, als sie das Gespräch entgegennahm. Sie ließ ihm von seinem Chef ausrichten, er solle zuerst einmal freinehmen, um seine Angelegenheiten zu regeln. Niemand würde erwarten, dass er in den nächsten zwei Wochen im Büro vorbeischaue. Sein Abteilungsleiter für Nutzer mit Prominentenstatus könne die schwierigen Accounts so lange übernehmen.
Ja, es war kein guter Zeitpunkt, die Amtseinführung des Präsidenten war aktuell der News Hotspot, aber jeder hatte Verständnis.
Eine weitere Schlagzeile in der New Yorker Presse war eine mysteriöse Explosion. Die Nähe zu dem bekannten Gebäude des möglichen zukünftigen Präsidenten, dessen Namen es trug, wurden als schlechtes Omen für die Präsidentschaft gewertet. Viele Anwohner der Straße hatten ihre Häuser verkauft, entweder weil sie plötzlich Angst vor Gasleitungen hatten oder weil ihnen gute Angebote gemacht wurden. In den Zeitungen wurde über ein weiteres Großprojekt spekuliert.
John stand auf und packte seine Sachen, er wollte zum Grundbuchamt gehen und herausfinden, wer jetzt als Eigentümer für sein Grundstück eingetragen war. Vielleicht war das eine Spur, der man folgen konnte.
Die Dame im grauen Zweiteiler hinter dem Tresen schaute über die Ränder ihrer Brille, als John an der Reihe war.
„Hallo, ich hätte gern Einsicht in das Grundbuch von Manhattan, Baker Street 13. Wer ist als Eigentümer eingetragen?“, fragte John im süßesten Tonfall, zu dem er angesichts seiner aktuellen Lage im Stande war.
„Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht einfach so sagen, junger Mann. Nur berechtigte Personen dürfen Einblick nehmen“, antwortete die Dame.
„Sehen Sie hier, ich bin dort wohnhaft.“ John zeigte seinen Ausweis. „Und ich bin der eigentliche Eigentümer.“
Die Dame schaute kurz auf. „Das ist eine ungewöhnliche Anfrage, Mr. Brockmann. Wenn Sie selbst der Eigentümer sind, was erwarten Sie, wer im Grundbuch eingetragen ist? Mickey Mouse?“
Mit einem Mal musste die Dame herzhaft lachen, was im völligen Kontrast zu der Umgebung, ihrem Outfit und vor allem zu ihren Gesichtszügen stand. John wusste erst einmal gar nicht, wie er reagieren sollte. Da ihm nichts Besseres einfiel, stimmte er in ihr Gelächter ein. Das zeigte Wirkung. Die Dame bewegte die Maus ihres Rechners und fing an zu klicken. Der Drucker hinter ihr begann zu rattern, und mit einem Schwung, den man ihr nicht zugetraut hätte, reichte sie John ein Blatt Papier mit den Eintragungen der Baker Street Nummer 13 der letzten Jahre.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte die Dame sichtlich immer noch amüsiert. John sah sie lächelnd an. „Danke nein, Sie haben mir sehr weitergeholfen!“ Er strahlte, drehte sich um und verließ das Gebäude.
Er blieb auf dem Fußweg stehen und nahm das Papier in die Hand, das er nur flüchtig beim Rausgehen in seine Jackentasche gestopft hatte.
„Bridgewater and Partner“ stand in der Zeile für den aktuellen Eigentümer, Brooklyn Tillary Street. Eingetragen gestern. Als Verweis ein Dokument mit dem Titel „Kaufvertrag Brockmann/Bridgewater“.
John sprang auf die Straße und hielt wild gestikulierend das erstbeste Taxi an.
„Tillary Street, Ecke Jay Street!“
Der Taxifahrer sagte kein Wort, legte den Gang ein, und sie fuhren über die Brooklyn Bridge direkt nach Downtown Brooklyn.
Als das Taxi anhielt, sah John lediglich ein älteres Geschäftsgebäude mit einem Supermarkt, einem Laden für Hobbybedarf und einen Friseursalon. Dazwischen versteckte sich ein kleiner Eingang mit einigen Klingeln für Wohnungen im Hinterhaus und zwei kleinen Messingtafeln, die alt und schon leicht verfärbt aussahen.
Auf der Obersten stand „Bridgewater and Partner Inc.“
John versuchte die Tür zu öffnen, konnte den Knauf aber nicht drehen. Er drückte auf eine Klingel, an der „Miller“ stand, und hörte kurz darauf ein Summen. Die Tür sprang auf. Durch einen schmalen Gang kam man in ein enges Treppenhaus. Die Treppe teilte sich, und man musste sich entscheiden, welchen Gang man weitergehen wollte. Links hörte John ein „Hallo?“. Das musste Familie Miller sein, also entschied sich John für den rechten Treppenaufgang. Es gab keine Fenster, nur diffuses Licht, einen Schalter konnte er nicht finden. Das alles sah nicht nach einer Firma aus, die mal eben so eine Million Dollar für ein Grundstück hinblättern konnte.
Egal, er stieg bis ganz nach oben. Ein wenig außer Atem stand er vor einer dieser typischen Büroeingangstüren mit Fensterscheibe und der Firmenaufschrift ins Glas geätzt.
Eine Klingel gab es nicht, daher klopfte John an. Nachdem niemand öffnete, rüttelte er an der Tür, als plötzlich ein älterer Mann mit abgetragenem Anzug vor ihm stand.
„Sì, che cosa vuole?“
Völlig überrascht, zum einen, weil die Tür so plötzlich aufging, und zum anderen, weil er auf Italienisch angesprochen wurde, antwortete John:
„Ähm, ja, sorry, ich suche den Inhaber der Firma Bridgewater.“
Der Mann sah ihn von oben bis unten an und sagte: „Sono il proprietario della compagnia. Come la posso aiutare?“
John verstand kein Wort, glaubte aber, einen unfreundlichen Unterton herauszuhören. „Okay. Danke, es scheint sich um ein Versehen zu handeln. Ich habe mich wohl einfach in der Adresse geirrt.“
John drehte auf dem Absatz um und ging zügigen Schrittes die Treppe hinunter. Er hörte er noch, wie ihm jemand hinterherrief:
„Blöde Amerikaner, verstehen nicht mal eine zivilisierte Sprache!“
„Mist! Scheiße! Ich Idiot“, dachte John. Ein wenig mehr Recherche vorher, und mir wäre diese Peinlichkeit erspart geblieben. Er hoffte inständig, dass dieser Typ nicht irgendwen anrief, um Alarm zu schlagen, weil sich Fremde plötzlich für diese bedeutungslose Firma interessierten.
Er sprang in das nächste freie Taxi und fuhr zurück zu Marcos Haus.
Es brannte Licht in der Küche. Von außen konnte man sehen, dass Marco mit einem weiteren Mann am Küchentisch saß und gestikulierte.
Als John klingelte, sprang Marco sofort auf und lächelte John erleichtert an, als er öffnete.
„Mann, ich dachte schon, die Bullen haben dich einkassiert oder Schlimmeres.“
„Nein, das nicht, aber ich habe interessante Neuigkeiten, und danke der Nachfrage, die Beerdigung war würdevoll.“
Marco und John gingen in die Küche, und Marco stellte den anderen Mann vor.
„Das ist Toni. Er war mit mir bei den Special Forces, und er hat ein paar Fähigkeiten, die uns vielleicht nützlich sein könnten. Ich habe ihm von dir erzählt, und aus alter Verbundenheit hat er zugesagt, uns zu helfen. Toni war unser Nachrichtenoffizier in – sagen wir mal in Ländern, in denen sich die USA nicht offiziell engagieren. Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, dem ich sofort mein Leben anvertrauen würde, wäre das Toni.“
John reichte Toni die Hand, während Marco an den Herd ging um, Pasta alla diavola zuzubereiten.
„Toni, zeig John doch mal, was du so alles draufhast“, sagte Marco, während er anfing, Zwiebeln und Knoblauch zu schneiden, Pfannen auf den Herd stellte und den Wein öffnete. John war sich nicht sicher, er hätte auf eine Minestrone als ersten Gang getippt.
Die meisten Gemüsesorten konnte er nicht sicher bestimmen, Cipolla konnte er nicht von Bärlauch unterscheiden.
„Nein, das werden wir schon noch sehen, was wir aus der IT-Zauberkiste wirklich benötigen“, entgegnete Toni.
„Nur so viel, wenn wir Menschen mal durchleuchten müssen oder sowas in der Art, habe ich noch alle Zugänge sowohl zum FBI, zur CIA und zur National Security Agency. Ich bin zwar nicht mehr offiziell aktiv, aber als Berater könnte es jederzeit zu einem Einsatz kommen, in dem ich dann die Datenbanken bräuchte.“
„Mit Datenbanken kenne ich mich auch ein bisschen aus. Was genau benutzt ihr so bei der Regierung?“, fragte John.
Ein Gespräch über Cluster, Zugriffspunkte und Serverstrukturen entspann sich. Marco verstand von all dem nichts und bereitete in der Zwischenzeit die Hauptspeise zu. Es wurden Chilis gehackt und Tomaten geschält.
Beim Essen erzählte John den beiden, was er über das Grundbuchamt und den Besuch bei Bridgewater and Partner herausgefunden und wie dilettantisch er sich angestellt hatte, in seiner Hoffnung, den unbekannten Italiener ausfindig zu machen.
Beide hörten aufmerksam zu. Als John geendet hatte, sagte Toni:
„Okay, ich glaube, ich muss mich um ein paar Geräte kümmern und ein wenig recherchieren. Ich baue das alles in deinem Gästezimmer auf, Marco, wenn ich dort wieder einziehen kann.“
Marco klopfte Toni auf die Schulter. Beide schienen sich lange zu kennen, alles, was sie taten, strahlte eine enge Verbundenheit und blindes Vertrauen zueinander aus.
John bezog das andere Gästezimmer, Marcos altes Kinderzimmer. In dem Moment, als er einschlafen wollte, klopfte es an der Tür. Toni stand davor und winkte John zu, ihm zu folgen. In der Küche saß Marco mit einem Drink in der Hand und wartete bereits auf die beiden. Marco hatte ein paar Cantuccini gebacken, das Aroma von gerösteten Mandeln war köstlich. Die Küche hatte sich völlig verändert. Überall standen technisches Gerät und Monitore. Vor dem Küchenregal stand ein Flipchart, und die beiden hatten schon einige Mindmaps gezeichnet. Nur der Herd musste frei bleiben, damit Marco „denken“ konnte.
Toni begann, auf einem der Laptops Befehle einzugeben, und über einen Beamer, den John nicht einmal bemerkt hatte, wurde eine Projektion an die gegenüberliegende Küchenwand geworfen. Als Erstes tauchte Johns Auszug aus dem Grundbuchamt auf.
„Das war unser Ausgangspunkt“, führte Toni aus. „Wir haben uns die Firma etwas näher angesehen. Eigentümer, Historie, Beteiligungen und die letzten Steuerunterlagen sowie Geschäftsberichte und Konten, in diesem Fall gab es nur eines. Auf den ersten Blick alles unauffällig, würde man meinen. Wir haben solche Untersuchungen schon oft gemacht. Wenn man weiß, wo man suchen muss, findet man aber Erstaunliches. Das Grundkapital besteht aus lediglich 50 000 Dollar, der Eigentümer ist seit 30 Jahren der gleiche, und die letzten Steuerzahlungen gehen nahe null. Die Umsätze der letzten Jahre lagen im niedrigen sechsstelligen Bereich. Der Geschäftszweck ist die Beratung von Transportfirmen im Baugewerbe. Alle Aufträge kommen von nur zwei Firmen, die wiederum alle beide einer der großen Mafiafamilien in New York zugeschrieben werden. Alles gut verschleiert über Zwischenhändler. Wir sind den Geldströmen gefolgt und konnten daher genau herausfinden, wie die Firma das Geld für den Hauskauf zusammenbekommen hat. Sechs Transaktionen je 80 000 Dollar und der Rest in vielen kleinen Chargen. Alle am selben Tag auf dem Geschäftskonto angekommen. Ergeben ziemlich genau die eine Million Dollar. Einfach war es nicht, aber auch nicht zu schwer, weil vier Wochen vorher nichts auf dem Konto passiert ist.“
John war verblüfft, in welcher Geschwindigkeit Toni die Fakten zusammengetragen hatte.
„Absender des Geldes waren eine kleine Baufirma in Jersey und zwei Betonfirmen, ebenfalls in Jersey beheimatet. Beide Firmen gehören der Mafia, würde ich vermuten, angeblich für Beratungsleistungen im letzten Jahr.“
John ließ das auf sich wirken.
„Ihr meint also, Bridgewater and Partner ist nur eine Tarnfirma?“
Marco ging an den Laptop, und nach wenigen Klicks erschien auf der Leinwand ein neues Bild. Es zeigte drei Männer. Einen davon erkannte John sofort, den unfreundlichen, italienischsprechenden Mann aus dem Büro von Bridgewater. Die anderen beiden kannte John nicht, die Namen sagten ihm auch nichts.



