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Wir zahlen und treten die Heimreise an. Die Fahrbereitschaft erwartet uns und wir legen fest, in welcher Reihenfolge wir nach Hause gefahren werden. San-Rah ruft heiser in die Nacht, dass er laufen will und ist bereits ein ganzes Stück vom wartenden Streitwagen entfernt. Er läuft irgendwie unrund und wir glauben zu erkennen, dass sich in seine trunkenen Rufe vom Auswürfeln ein immer stärker werdendes Schluchzen einmischt. Er weint jetzt tatsächlich. Der Würfel ist wohl gefallen. Die Apfelsine anzusprechen, den schönen Abend in eine schöne Nacht zu überführen, habe ich mich dann doch nicht getraut.
5. Kapitel
Die Handlung springt auf eine andere, auf eine höhere Ebene
Albert trinkt seinen Kaffee aus und überlegt, ob er das kleine Makronenstückchen nicht besser auf der Untertasse liegen lassen soll. Seine Blutwerte sind derzeit nicht die besten. Jedes Mal, wenn er mit den von ihm so sehr geliebten Süßigkeiten konfrontiert wird, muss er sich quälen, der Verlockung standzuhalten. Am schwierigsten ist es, Disziplin zu bewahren, wenn selbstgebackene Plätzchen im Angebot sind. Diese liebt er abgöttisch. Dennoch schafft er es heute, das Gebäckstück liegen zulassen, denn er muss eilig zu einem wichtigen Termin in die Bevollmächtigtenkammer. Die Flugbereitschaft der hohen Ebene stellt ihm pünktlich eine Kabine zum Erreichen des Tagungsortes zu Verfügung.
Der Plenarsaal für den Sitzungstermin des Fachausschusses für Erdenangelegenheiten füllt sich allmählich. Alle Bevollmächtigten sollen heute erscheinen. Keine Ausnahmen werden gestattet, denn die Konferenz zu außerordentlichen Entwicklungsfragen der Erdenbewohner wurde von höchster Stelle, nämlich von der Zentrale, direkt und kategorisch angewiesen. Alle sind gespannt, denn derartige Veranstaltungen sind eher selten. Es geht um den Planeten Erde, dessen Bewohner der höheren Entwicklungskategorie immer wieder auf der hohen Ebene für Aufregung sorgen. Die zweibeinige aufrechtgehende Spezies, die sich im evolutionären Wettbewerb mit diversen zellteilenden Konkurrenten durchgesetzt hat, sorgt durch meist unverständliches und sinnloses Tun immer wieder für Kopfschütteln. Der Betreuungsaufwand der Mitarbeiter des zuständigen Fachausschusses für die Erdenbewohner ist immens hoch und wird schon teilweise von der Zentrale kritisch hinterfragt. Normal finden die Besprechungen zum Thema Planet Erde in einem 100-Erdenjahre-Rhythmus statt. Doch derzeit lassen die jüngsten Entwicklungen in Ägypten die Einhaltung dieses normalen Abstandes nicht zu.
Albert hat neben seinem Freund Claudius Platz genommen. Sie begrüßen sich herzlich und erkundigen sich gegenseitig nach ihrem Favoriten beim demnächst anstehenden Talentwettbewerb „Fachausschuss sucht den Superstar“. Claudius berichtet kurz über den Verlauf seines Vorbereitungslehrganges, den er vergangene Woche erfolgreich abschließen konnte. Er soll als Mathematiker im neuen ägyptischen Reich in der Stadt Alexandria erscheinen und eine weitreichende weltbildlich-kosmologische These aufstellen. Diese These entspricht zwar nicht der Realität, aber sie entspricht dem Vorstellungsvermögen der Erdenbewohner in diesem Entwicklungsstadium. Sein Deckname für die Erdmission soll Ptolemäus sein. Claudius soll behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist. Nicht, dass die Erde eine Scheibe hat, wie er im Lehrgang einmal witzelte. Mit dieser These soll er den Erdenbewohnern ein stabiles astronomisches und religiöses Fundament ihrer Weltanschauung geben. Zunächst sollen die Erdenbewohner sich im Zentrum der Welt wähnen. Dies wird ihr Selbstbewusstsein stärken. Dann sollen später Pioniere mit Entdeckergeist auf den Plan treten, die es wagen werden, dieses Weltbild vom Kosmos in Frage zu stellen. Trotz religiöser Verfolgung bis hin zur physischen Vernichtung werden diese Helden des wissenschaftlichen Gewissens der bornierten weltlichen und religiösen Macht die Stirn bieten. Sie werden Geräte und mathematisch physikalische Formeln entwickeln, mit denen sie beginnen können, das Universum mit neuen, anderen Augen zu betrachten. Das ist dann der Moment, wo Albert seinen Auftritt auf der Erde hat.
Albert ist im Fachausschuss anerkannter Experte für das Relativieren von Zuständen. Nur seine Frau, die ständig durch diese Fähigkeit ihres Mannes ihre Ehe gefährdet sieht, kann diesem Talent nichts abgewinnen. Albert ist im Fachausschuss sehr beliebt, auch weil er bescheiden ist. Er ist auserkoren, zu einem gegebenen Zeitpunkt mit einer allgemeinen und speziellen Relativitätstheorie das Universum zu begründen. Auf der Suche nach der Weltformel wird er sich zunächst auf ein mathematisch beschreibbares Universum konzentrieren. Das ist zeitgemäß und wird von einem gut ausgebildeten Teil der Erdenbewohner mehr oder weniger auch verstanden. Erkenntnisse über den Urknall, über schwarze Löcher und die kosmische Dynamik und letztlich auch Rückschlüsse auf die Existenz mehrerer Universen würden die Wissenschaftler überfordern und sind für eine spätere Erdenperiode vorgesehen. Das Installieren der strategischen Achse der Missionen von Newton – Einstein – Hawking ist ein geschickter Schachzug der Verantwortlichen in der Zentrale. Selbst die Irrtümer des begnadeten Wissenschaftlers Oppenheimer bei seiner tragischen Rolle bei der Entwicklung von Atomwaffen gehören zur Strategie.

Es wird nun um Aufmerksamkeit gebeten. Albert und Claudius konzentrieren sich auf die Worte des Leiters der außerordentlichen Beratung.
„Verehrte Herrschaften, kurz und knapp gesagt, Cheops hat es nun doch getan“, beginnt der Redner seine Darlegungen. „Alles wurde getan, ihn davon abzuhalten. Es war sinnlos, wir haben es nicht geschafft. Cheops hat nun doch die Aufträge für ein Bauwerk erteilt, welches in Form, in Material und Dimension überhaupt nicht in diese Erdenzeit passt. Lange werden die Erdenbewohner über dieses Bauwerk sinnieren und es nicht verstehen. Er muss verrückt geworden sein, denn die genaue Funktion dieses Würfelmonumentes ist selbst ihm nicht klar. Er will sich höher und gewaltiger als alle seine Vorgänger präsentieren. Nur das ist sein Ziel. Den genauen technischen Weg dahin, kann er selbst nicht beschreiben. Dazu benötigt er die Hilfe von Abenteurern und windigen Fachleuten, die sich einbilden, die Projektaufgabe stemmen zu können. Ein ganzer Schwarm von Schmeichlern in seinen Behörden und in den überdimensioniert geschaffenen Leitungsebenen soll darüber hinaus das Bauvorhaben ideologisch begleiten. Dass das zutiefst unproduktiv ist, wird nicht erkannt, sondern in Kauf genommen“. Als Beleg für seine Selbstzweifel am Gelingen der Baumaßnahme und für die Hinterhältigkeit von Cheops wird den Teilnehmern der Besprechung nun ein Hologramm präsentiert. Mit den neusten und modernsten Methoden der nicht gekrümmten zeitlichen Beeinflussung von Interferenz- und Kohärenzmöglichkeiten von Lichtwellen sehen nun alle klar und deutlich, wie Cheops in seiner Residenz an seiner Bar rumhängt, in sein leeres Cocktailglas grinst und sagt: „Das schaffen die nie“. „Und das schlimmste ist“, fährt der Leiter der Besprechung fort, „es gibt dort Wahnsinnige, die diesen Auftrag angenommen haben. Das kann furchtbar für die Verantwortlichen der Ausführung enden. Ein Scheitern wird Cheops, obwohl er sich nach außen bescheiden gibt, nicht zulassen. Er muss Pharao Djoser in Sakkara, seinen Vater Snofru in Daschur und König Hammurabi in Babel übertrumpfen. Noch größer soll sein Glanz in die Erdenbewohnergeschichte eingehen und zeitlos heller als die Sonne erstrahlen. So sind die Erdenbewohner nun mal gestrickt. Auf ewig. Da kann man nichts machen. Klar ist aber nun auch, dass für die armen Wahnsinnigen etwas getan werden muss“, beendet der Leiter seine Ausführung. Mit deutlicher Mehrheit wird der Vorschlag angenommen, dass Albert der Mission der Rettung des Bauvorhabens und deren Protagonisten vorstehen soll. Der Würfel ist also gefallen. Da keine Debatte angesetzt ist, steht Albert auf und geht allein in sein Büro. Er muss nachdenken. Er hat verstanden.
6. Kapitel
Lagebesprechung in der Bauabteilung
Wir trauen unseren Augen nicht. Ist das wirklich wahr? Der Besprechungsraumtisch ist geschmückt mit frischen Plätzchen, diesmal aber gebacken in der Form lauter unterschiedlich großer Würfel. Einmal sind die Würfel mit Zuckerguss, andere wiederum mit bunten Streuseln bedeckt. Stolz lächeln Frau Notvertrete und Ihre Cousine in den Besprechungsraum. Dabei tänzeln sie noch im Wiegeschritt der vorabendlichen Tanzdarbietungen. Die beiden haben echt gute Laune.
Meine Sorge ist sofort, dass jetzt Echt-Natron nicht das macht, was sein Name verheißt. Ich beschwichtige ihn mit oft erprobter Körpersprache. Er solle bitte nicht aufbrausen. Die Frauen haben es lieb gemeint und wollten offensichtlich den Schwung von gestern Abend mitnehmen. Echt-Natron lässt sich beruhigen und würdigt grummelnd die Backperformance. Allerdings, so mahnt er an, sollten die Würfel vor dem Erscheinen des Architekten vom Tisch verschwunden sein. In Erinnerung an seine merkwürdigen Auftritte während und nach der Party gestern Abend denken wir, dass der Anblick einer geometrischen Würfelfigur beim Architekten derzeit traumatische Reaktionen auslösen wird.
Die Beratungen werden nach der überaus weinselig fröhlichen Unterbrechung von gestern Abend fortgesetzt. Zunächst intern zwischen Architekt, Bodengutachter und Bauleitung. Später soll die Projektsteuerung hinzukommen, heute unterbrechen sie wohl ihre religiöse Litanei. San-Rah betritt stolzen Schrittes den Raum. Er sieht irgendwie verändert aus. Nach einer kurzen Begrüßung macht er die Arme breit, hebt den Kopf erhaben in Richtung Raumdecke und ruft mit theatralischer Stimme: „Schminken wir uns den Cheopswürfel ab“. Er macht eine dramaturgisch beabsichtigte Pause und fährt bedeutungsvoll fort: „Die Budgetvorgabe von Cheops und den Hohen Priestern reicht nicht. Alle meine Mitarbeiter habe ich nochmals nachrechnen lassen, alle nur denkbaren Modelle bis ins Detail nachgeprüft. Was bleibt, ist die Gewissheit einer Katastrophe“. San-Rah beschwört nochmal das intensive Studium des Vertrages unter dem Punkt Kosteneinhaltung des Budgets. „Aus meinem Verständnis ist da sinngemäß vereinbart, dass bei Kostenüberschreitung das Richtfest einen unangenehmen Ausführungsmodus erhalten kann. Statt Freibier, Lammhaxen und Tanz in allen Räumen obliegt es dem Auftraggeber, mit einem Richtschwert die Schuldigen der Kostenüberschreitung zu bestrafen. Dadurch wird der Name „Richtfest“ in einem neuen grausigen Licht interpretierbar. Makaber formuliert können wir davon ausgehen, dass es in jedem Fall zum Richtfest eine Kapelle geben wird. Je nach Stand der Kostenentwicklung entweder für den Tanz oder für unsere Totenmesse. Also, nach Vertragslage sind wir eigentlich schon tot.“ Der Architekt sackt in sich zusammen und nimmt Platz. Die Stimmung ist natürlich im Keller. Ich versuche einen aufmunternden Scherz und rufe pathetisch in den Raum: „Dann Freunde, schreiben wir die Partitur zum eigenen Requiem oder unternehmen wir eine Party-Tour in das Lokal mit den Musikern um Aladin“. Keiner lacht. Es herrscht bedrückende Stille, sozusagen Totenstille. Wir seufzen uns an und sehen die Hohen Priester kommen. Sie kommen, um das Projekt zu steuern. Der Bodengutachter flüstert: „Die Rampensau mit Frischlingen ist da.“ Frau Notvertrete fragt schweigend mit einem Blick auf Echt-Natron, ob denn die hohe Priesterschaft den Tischschmuck aus Gebäckwürfeln eventuell hübsch finden würde. Das kategorische Nein findet sie im finster schweigenden Antwortblick von Echt-Natron.
Sie kommen zu Fünft. Das ist viel, für das was sie tun müssen. Das Gebäck hätte also sowieso nicht gereicht. Hoch-Hart-Muth, der Anführer der ehrwürdigen Abordnung von Projektsteuerern, formuliert eine lieblose Begrüßungsformel und ergreift das Wort: „Ich fordere lückenlose Aufklärung aller aktuellen planerischen und baustellentechnischen Vorkommnisse.“
Wir schlucken und müssen verdauen, dass unsere Arbeit als Vorkommnis bezeichnet wird. Hoch-Hart-Muth ist der Höchste der Hohen Priester der Projektsteuerung. Sie haben alle vor ihrem Namen den Titel „Hoch“ stehen. Das definiert schon mal ihren besonderen Rang. Hoch-Hart-Muth ist klein, füllig und mit einem imposanten Doppelkinn im insgesamt weichen Gesicht ausgestattet. Das „Hart“ in seinem Namen ist völlig deplatziert. Was bleibt also übrig? Richtig, die beiden Silben „Hoch-Muth“. Diese treffen nun genau seinen Charakter.

Dieser höchste Priester unter den Hohen Priestern wurde als Kind von seinen Eltern auf eine gute Eliteschule nach Uruk, einer altehrwürdigen Universitätsstadt im fernen Mesopotamien geschickt und in einem Internat streng erzogen. Dort unterrichteten ihn die besten Professoren des assyrischen Reiches im Fach Gutes Internationales Wirtschaftsmanagement. Hier lernte er von der Pike auf, was es heißt, die strengen Regeln eines erfolgreichen Business durchzusetzen. Schon in frühster Jugend entwickelte sich bei ihm die Überzeugung, dass eine gesunde Wirtschaft am besten mit krankhaft strebsamen und gehorsamen Mitarbeitern zu erreichen wäre. Das Anreiz- und Belohnungssystem sei so zu steuern, dass die Produktivkräfte wie in einem Hamsterrad nach imaginären und fiktiven Belohnungen hecheln. Die Mechanismen dazu beherrschen die Absolventen derartiger Elitehochburgen aus dem Effeff. Hoch-Hart-Muth hat früh verstanden, dass das Instrument der Glaubensorientierung in den Landesgemeinden ein grandioser Wegbereiter seiner weltlichen Ziele sein kann. Über ein Zusatzstudium an der guten theologischen Fakultät für ägyptische Glaubensangelegenheiten ist er als ausgebildeter Manager ein Hoher Priester geworden. Seine Diplomarbeit mit dem Titel „Fragen zur Mumifizierung führender Leitkader schon vor dem Tod“ verteidigte er mit Auszeichnung. Eine geniale Idee, seine Karriere in der altägyptischen Kurie zu den Gipfeln der Macht zu führen. Nun ist er ganz oben und wurde mit dem Titel „Königlicher Hofprojektsteuerer“ belohnt.
Hoch-Hart-Muth grinst in die Runde und fragt: „Die Damen und Herren, wieder nüchtern? Eure wüste Party von gestern hat sich bis zum Hofe Cheops herumgesprochen. Solche peinlichen Auftritte ließen vermuten, dass die Bauabteilung nicht ausgelastet ist. Meine Wahrnehmung zum Stand des Projektes ist aber eine völlig andere. Wie ist es mit der Verpflichtung, ein vorbildliches Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit abzugeben?“ „Trinkorgien würden diese Verpflichtung konterkarieren“, meint er süffisant. „Nur in Demut und Würde können wir das Projekt stemmen“, klärt er uns weiter auf. „Das Ansehen des Projektes vor dem Steuerzahler dürfe nicht beschädigt werden. Dass die Presse noch keinen Wind davon bekommen hat, grenzt an ein Wunder“, beendet Hoch-Hart-Muth mit zufriedener Mine sein Statement. Seine vier mitgebrachten Kollegen nicken anerkennend und trauen sich nun, Kaffee einzugießen.
Wir spielen ein bisschen Betroffenheit und geloben die Einzigartigkeit des Vorfalls. Jeder macht sich seinen Reim auf den Auftritt des Projektsteuerers und möchte umgehend das weite Feld der Sprechblasen so schnell wie möglich verlassen. San-Rah beginnt den Stand der Projektvorbereitung vorzutragen. Wir tauchen ein in die Welt der Vorkommnisse.
Zunächst wird der Stand der Bearbeitung der Baugenehmigung beim Bauordnungsamt von Gizeh ein wenig gelobt. „Es läuft ganz gut, die Zusammenarbeit funktioniert. Offen seien noch ein paar Bescheinigungen auf Unbedenklichkeit der Versorgungsträger, hier insbesondere vom Amt der unteren Nilaufsichtsbehörde. Es ist beabsichtigt, große Teile der Materialtransporte über den Nil abzuwickeln. Der Bodengutachter wird für das Tiefbauamt in Gizeh eine Unbedenklichkeitserklärung formulieren. Darin soll nachgewiesen werden, dass im Zusammenhang mit den höchsten Pegelständen des Nils während der Überschwemmungszeit eine Wasserhaltung für die Steinbrüche, für die Stichkanäle der Transportschiffe und für die beabsichtigte Unterkellerung des Würfelbaus nicht erforderlich ist. Derzeit planen wir keine Einleitung von technologischem Wasser in den Nil. Bewusst wird hier ein relevanter Kostenfaktor ausgegrenzt. Die Formblattsammlung als Ergänzung zum Bauantrag wird gewissenhaft ausgefüllt und übergeben. Geklärt werden muss beim Amt, welche Farbe die Unterschriften haben müssen und an welcher Stelle in den Formblättern die Stempel gesetzt werden sollen. Dass das Amt immer noch Fluchtwegepläne und Nachweise zur Entrauchung der Hohlräume einfordert, müssen wir schnell klären. Wir werden als Planer unsere Anstrengungen verstärken, dem Amt nochmals die Funktion des Bauvorhabens zu erläutern.“
An dieser Stelle unterbreche ich den Architekten in seinen Darlegungen und frage höflich nach der Funktion des Bauwerkes, die nämlich auch der Bauleitung gänzlich unbekannt ist. San-Rah zögert kurz und fährt fort: „Dass wir das nicht selbst wissen, muss die Behörde ja nicht zwingend merken. Wir halten uns da man besten bedeckt. Können wir so verfahren?“ wendet sich der Architekt an die Gruppe der Projektsteuerleute, die sich etwas zutuscheln und zögernd nicken. San-Rah erläutert weiter: „Es gibt da so einen kleinen Mitarbeiter bei der Behörde, der einfach nicht kapieren will, dass die schrägen Schächte von den Hohlräumen an der Außenseite des Würfels kultische Funktionen erfüllen sollen. Eine Entrauchung ist auf Grund der Brandklassenzuordnung der Kalksteinblöcke nicht erforderlich und wir werden auch darauf keine Zeit mehr verwenden. Das fehle noch, dass eine ungeklärte Entrauchung ein Großprojekt behindert. Falls es auf dem Weg zur Genehmigung diesbezüglich noch Probleme geben sollte, werden wir über den Wesir für Städtebauangelegenheiten direkt beim Amt intervenieren.“ San-Rah setzt sich wieder und erteilt der Projektsteuerung das Wort.
Hoch-Hart-Muth möchte gern festhalten, dass er nicht versteht, warum die Baugenehmigung immer noch nicht erteilt wurde. „Aber Zeit zum Party machen ist wohl vorhanden“, bemerkt er zynisch. Dabei schaut er bedeutungsschwer zu seinen vier stummen Mitarbeitern, die von ihrem Chef begeistert sind.
„Kommen wir zu den Kosten“, verlangt Hoch-Hart-Muth von San-Rah. „Okay“, sagt San-Rah und ruft im Pathos, einer Exekution entgegensehen zu müssen, feierlich in den Raum: „Dass ein Wüstenwürfel in der vorgegebenen Dimension dreimal so viel kosten würde, wie die Auftraggeber zur Verfügung stellen. Ergo, der Cheopswürfel kann deshalb nicht gebaut werden. Basta.“ Der bedeutungsschwere Satz zu den Kosten ist nun ausgesprochen. Stille.
Der Architekt versucht, sich Kaffee einzugießen. Das gelingt nicht, denn seine Hände zittern. Der Strahl des heißen Getränks gelangt nicht in seine Tasse. Ein Zustand der Lähmung und der Schwerelosigkeit erfasst alle an der Besprechung Teilnehmenden. Selbst Frau Notvertrete hält beim Protokollieren inne. „Soll ich das so schreiben“, flüstert sie Echt-Natron zu. „Moment noch“, sagt er in Richtung seiner Chefsekretärin. Er erlangt als Erster die Fassung, wendet sich an Hoch-Hart-Muth und fragt nach dem Grund, weshalb die Projektsteuerung zu fünft gekommen ist.
7. Kapitel
Albert hat gute Laune, beginnt zu rechnen und sinniert über gekünstelte Intelligenz
Allmählich leert sich das Kongresszentrum der hohen Ebene. Die Lichtshow ist beendet. Die Besucher, meist Wissenschaftler, sind vom Vortrag Alberts begeistert und diskutieren noch vereinzelt in kleineren Gruppen über das soeben Dargebotene. Albert ist ebenfalls zufrieden. Er nennt seinen Vortrag scherzhaft „Spektakelanalyse des Lichtes“. Das macht er zur Entspannung. Hauptsächlich ist die Simplifizierung der Welle-Teilchen-Dualität gegenwärtig sein Betätigungsfeld. Für die Erdenbewohner halbwegs verständlich, will er in einem ersten Schritt seine Photonentheorie zum Licht determinieren. Licht ist ein Strom von Energiepaketen. Damit sollen, zum gegebenen Zeitpunkt, die Erdenbewohner konfrontiert werden. Also Schritt für Schritt. Er darf sie nicht überfordern.
Gut gelaunt betritt Albert sein Büro. Er schmunzelt beim Gedanken, ob er nicht mal zum Spaß die Krümmung seines sozialpsychologischem Zustandes der „Guten Laune“ berechnen sollte. Aber eine dringende Nachricht aus der Zentrale hält ihn davon ab. Umgehend soll er in den Empfangsbereich der hohen Ebene kommen. Er hätte Besuch von einer auserwählten Erdenfrau, die im Zusammenhang mit den aktuellen Vorgängen in Ägypten auf die hohe Ebene gebracht wurde. Der Besuch wäre von höchster Relevanz und hätte erdenhistorische Dimensionen. Er überfliegt die präzise formulierte Aufgabenstellung, macht sich auf den Weg und beginnt zu rechnen.
Also, das Volumen des betreffenden Würfels mit einer quadratischen Grundfläche a² berechnet sich aus der Multiplikation mit der Höhe h. Klar und einfach. Jetzt wird es spannend. Es ist aber nur ein Drittel des Geldes für den Würfel da, der aber die ursprüngliche Grundfläche behalten soll. Albert liebt Textaufgaben und hat sofort die Lösung im Kopf. Klar, man drittelt die Höhe und basta. Aber halt, so einfach ist die Textaufgabe nicht. Die Höhe h sollte ebenfalls erhalten bleiben. Bei einem Drittel wäre die Höhe nunmehr bei ca. 49 m. Eine Höhe unter der Höhe der Djoser Pyramide wäre nicht vermittelbar. Auch wäre die gedrittelte Höhe im Kontext mit der Grundfläche viel zu gering. Also, ein Würfel ist das dann nicht mehr. Klar ist, vom Polyeder sind nur das Polygon der Grundfläche und die Höhe konstant. Also muss sich die Mantelfläche des Polyeders dritteln. Das wird erreicht, in dem man die 4 Mantelflächen als Dreiecke ausbildet. Eine angenehme Ästhetik wird dann erreicht, wenn die Dreieckspitzen in einem Höhenpunkt, in dem Fall bei 146 m, zusammenlaufen. Den Begriff Pyramide, so der Name des Polyeders, kennen die Erdenbewohner schon von Sakralbauten im geschichtlichen Ägypten vergangener Epochen. Allerdings sind die bereits bestehenden Pyramiden entweder rot, geknickt oder auch abgestuft. Eine klare ästhetische Form findet sich in diesen Bauwerken nicht. Außerdem sind das Zwerge gegenüber dem von Albert erdachten mathematischen Modell. Ja, so machen wir es, das wird der Zentrale gefallen, denkt sich Albert. Den Unterlagen entnimmt er, dass eine junge Frau aus Memphis von der Zentrale auserkoren wurde, als seine technische Muse zu agieren. Sie hätte eine durchaus ernst zu nehmende emotionale Bindung zum Bauleiter und wäre somit als Bindeglied zwischen den Akteuren des Projektes und der hohen Ebene bestens geeignet.
Die Frau ist von den örtlichen Einsatzkräften der hohen Ebene auf dem Weg in den Südsudan abgefangen worden. Sie wollte in Nubien eine andere, modernere Lebensart ausprobieren und dem stressigen Alltag der ägyptischen Gesellschaft entfliehen. Das wird sie nun verschieben müssen. Gleich vor Ort begannen die Helfer, die Auserwählte vorbereitend zu manipulieren und mittels Suggestion auf den Besuch in den Räumen der hohen Ebene vorzubereiten. Dann wurde sie in den Empfangsbereich der hohen Ebene gebracht. Albert wird sie nun kennenlernen und beginnen, sie für seine Zwecke zu instruieren.
Albert ist von seiner Mission fasziniert. Der Gedanke, dass ein Bauwerk entsteht, welches tausende Erdenjahre faktisch unzerstörbar in der Wüste rumsteht und Albert dabei die große Ehre zu Teil wird, maßgeblich das Gelingen zu beeinflussen, erfüllt ihn mit großer Befriedigung. Er betrachtet seinen gegenwärtigen Einsatz als Aufwärmübung für seine eigentliche Mission, der Schaffung der Grundlagen des Verstehens der historischen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Ereignisse im Universum. Er hat jetzt eine mathematische Lösung des Würfelproblems gefunden und ist selbst gespannt, wie sich die weiteren Abläufe entwickeln werden. Er hat einen Plan und den will er heute beginnen zu verwirklichen.
Die Erdenbewohner werden das Bauwerk als Weltwunder betrachten und staunen, dass es die anderen sechs geplanten Weltwunder bei weitem überragen und überleben wird. Mit Heiterkeit stellt sich Albert vor, wie Heere von Archäologen, Ägyptologen, Ingenieuren und Spinnern ihre Theorien zum Zweck des Bauwerkes und zum Verfahren der Realisierung verkündigen und es z. T. dabei als Wissenschaft verkaufen. Der Bau des Turms von Babel verwirrte die Sprache der Erdenbewohner. Der Bau des Cheops wird den Erdenbewohnern die Sprache verschlagen. Sie werden fassungslos davorstehen und ehrfürchtig von einem Rätsel sprechen. Erst wenn die Erdenbewohner bereit sind, der Vernunft im Denken und Handeln die erforderliche Priorität beizumessen, werden sie mittels schöpferischer Kreativität und wahrhafter Staatskunst die universellen Signale verstehen. Wenn Schwäche als individuelle Chance begriffen wird und die Märchen von gieriger Stärke beendet werden können, wenn die geheuchelten Umarmungen von Zweckbündnissen aufhören, wenn sie das gegenseitige Zufügen von Gewalt beenden, und wenn sie nicht mehr länger intrigant und scheinheilig sein wollen, dann werden die Erdenbewohner begreifen, zu wessen Leistungen eine wahrhaft friedlich vereinte Menschheit fähig ist.