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Leider werden erst allmählich Entwicklungen zur Übereinstimmung von Aussage und Handeln, Denken und Fühlen eintreten. Genau hier ist der Ansatz zum beabsichtigten Eingriff durch die auserwählten Mitarbeiter im Fachausschuss für Erdangelegenheiten. Die werden all ihr Können einsetzen müssen, um das hohe Ziel einer friedlichen und gesunden Welt auf dem Planeten Erde durchzusetzen. Mit dem Bau der großen Pyramide werden sie die Erdenbewohner inspirieren, die wahrhaft großen Zusammenhänge in der Natur und der Gesellschaft zu erkennen. Die Erdenbewohner sollen endlich damit aufhören, sich selbst und ihren wundervollen Planeten zu zerstören. Sie sollen denken lernen und wenn sie schon einen Gott brauchen, dann sollen sie auch auf ihn hören. Kein Gott will, dass sich die Erdenbewohner gegenseitig wehtun, aber sie machen es über tausende Erdenjahre, unablässig.
Albert öffnet jetzt die Tür zum Besucherzentrum, sieht Schi Tot und ist von ihrer Schönheit überwältigt.
8. Kapitel
Nein, hier wohnen nicht die Nubier, liegt Schi Tot richtig
Ein helles leises Bimmeln lässt Schi Tot aufwachen. Sie fühlt sich entspannt. Jetzt hellwach, schaut sie sich vorsichtig in einer fremden Welt um. Nein, das ist nicht das Land der Nubier. Was ist bloß passiert? Alles ist anders. Das Licht ist warm, der Duft des Raumes und die leisen unbekannten Klänge aus der gewölbten Decke, das alles kann sie nicht deuten. Sie ist allein in einem fremden Raum.
Sie versucht sich zu erinnern. Schi Tot sieht ihren traurigen Freund beim Abschied und beginnt zu zweifeln, ob denn die spontane Abreise zu den Nubiern die richtige Entscheidung war. Ihre Reiseerinnerungen sind merkwürdig unklar. Sie erinnert sich nur nebulös, dass sie sich mit einem Leihkamel einer Karawane von Fußballanhängern angeschlossen hatte, die ihre Mannschaft bei einem schweren Auswärtsspiel im Raum Assuan unterstützen wollten. Um die Anstoßzeit nicht zu verpassen, war die Reisegeschwindigkeit der Schlachtenbummler extrem hoch. Schi Tot wollte mithalten, um nicht allein die weite Wüste durchqueren zu müssen. Allmählich wurde sie immer schneller, viel schneller als das schon immense Tempo der johlenden Liebhaber des Rasensports. Die Konturen der vorbeifliegenden Landschaften konnte sie nicht mehr wahrnehmen. Alles geriet zu einer chaotischen Bilderflut. Schi Tot versuchte verzweifelt, ihr Leihkamel zu stoppen. Vergeblich. Es war wie ein Alptraum. Und plötzlich fühlte sie sich, als würde sie schwerelos schweben. Ein angenehmes Schwingen all ihrer Sinne folgte. Die Wahrnehmung faszinierend neuer und fremder Bilder begann sich langsam durchzusetzen. Nein, das hier ist nicht der Südsudan.
Der Raum ist in hellen Pastellfarben gehalten, die seltsam matt leuchten. Der blitzblanke Boden glänzt zurückhaltend und korrespondiert mit den Farben des Raumes. Die Ausstattung ist schlicht und funktional, keinerlei Ornamentik oder Ausschmückung ziert die Möbel.
Schi Tot konzentriert sich nun auf den Mann, der soeben den Raum betritt. Es ist ein freundlich wirkender älterer Herr mit wirren weißen Haaren und mit dichtem Oberlippenbewuchs. Er stellt sich mit dem Namen Albert vor und gibt an, dass sein Markenzeichen der Verstand sei. Dabei lächelt er verstohlen. Normal ist, dass sich sonst ältere Herren immer als Kriegshelden, als erfolgreiche Geschäftsleute oder zumindest als umjubelter Mann der Künste den jungen Damen vorstellen. Nein, nicht so Albert. Der würdigt die Schärfe seiner Denkprozesse. Das macht Schi Tot neugierig. Auf dem Salontisch stehen erlesene Speisen und Getränke bereit, die Schi Tot zwar kennt, aber sehr selten zu sich nimmt. Das Einkommen als Künstlerin ist schmal und der Preis für die dargebotenen Köstlichkeiten sehr hoch. Nur in speziellen Delikatessgeschäften sind diese schmackhaften Lebensmittel erhältlich. Gern nimmt sie das verführerische Angebot an. Sie beginnt die Situation ruhig in sich aufzunehmen. Das fällt ihr leicht, da der ältere Herr eine angenehme vertrauenserweckende Aura versprüht. Sie fragt ihn, wo sie sich denn befinde. Das hier sei ein angenehmer, aber doch merkwürdiger Ort. Albert lächelt ausweichend und bittet Schi Tot, dass sie sich zunächst vorstellt.
Ihr Markenzeichen sei Schmuckdesign und auch ein wenig Wohnraumausstattungen kleinerer Dimension, beginnt sie über sich zu sprechen. In einer ganz gut frequentierten Boutique verkaufe sie diese Dinge, die sie in den hinteren Räumen in einer kleinen Werkstatt selbst entwirft und auch herstellt. Ihre Kundschaft seien meist Frauen aus der Mittelschicht. Schi Tot mag diese Kundschaft, weil sie mit ihrem ästhetischen Geschmack zwischen Krempel und Kunst unterscheiden können. Kunden, die ihre Identität dem Geldbeutel zuordnen, seien nicht ihre Zielgruppe. Deshalb verarbeite sie auch kein Gold, das sei der oberen Schicht vorbehalten. Sie weiß, wie schwer die Goldminenarbeiter im fernen Nubien schuften müssen, um das edle Metall zu gewinnen. Deshalb hat sie Skrupel, Gold zu Schmuck zu verarbeiten. In Mode gekommen sei, dass die Reichen sogar Goldgaben in die Gräber beigelegt bekommen, zumeist prächtige und faszinierende Schmuckstücke. Nein, das sei nichts für sie. Sie verarbeite gern Lederbänder mit den Halbedelsteinarten Türkisen und Amethysten für geschmackvolle Halsketten und Armreifen. Weiterhin verarbeite sie auch gern Schilfrohr für die Anfertigung von leichten Sandalen mit dicken und strapazierfähigen Sohlen. Der Clou in ihrem Geschäft seien allerdings die nach eigenem Geheimrezept hergestellten Pastillen gegen Mundgeruch, eine Mischung aus Bockhornkleesamen, unterrührt mit Weihrauch, Myrrhe, Wachoderbeeren, Harz, Rosinen und Honig. Diese Mischung forme sie zu kleinen schwarzen Kügelchen, die geröstet in einem kleinen hübschen Kästchen aus Zedernholz angeboten werden. Sie lebe bescheiden und finde ihren Lebenssinn in der Kreativität. Dass sie unverheiratet sei, verdanke sie ihrem Drang nach frei bestimmter Individualität. Dass sie ständig umworben werde, sei ihr angenehm und stärke ihr Selbstbewusstsein. Wenn sie denn je eine feste Beziehung einginge, dann vielleicht mit einem verrückten Bauleiter, der sich entschieden habe, ein Bauprojekt zu realisieren, welches noch völlig unklar in der Ausführung sei und deshalb als die Herausforderung seines Lebens betrachtet werden kann. Wie gesagt, ein Verrückter.
Albert sagt nun, dass genau wegen dieses Bauvorhabens sie hierher „gebracht“ wurde. Das ist der Plan. Schi Tot zögert eine Weile, bestätigt zunächst ihre Neugier, dann ihr Einverständnis zur Mitwirkung.
Albert erläutert nun seine Absichten. „In der hohen Ebene sei bekannt, dass Cheops ein Bauprojekt verfolge, welches das Team um den Architekten und der Bauleitung niemals mit den traditionellen Bautechniken bewältigt werden könne. Deshalb müsse ein Weg gefunden werden, dem Ausführungsteam unter die Arme zu greifen. Zunächst sei es wichtig, dem Bauherrn zu vermitteln, dass das zugestandene Budget im Vergleich zum beauftragten Wüstenkoloss in keinem plausiblen Verhältnis stehe. Dieser Größenwahn müsse unterbunden werden. Sie könne hierzu einen wichtigen Beitrag übernehmen, sie sei der Weg.“
Albert schaut Schi Tot nun tief in die Augen. Seine Stimme wird monoton und er verlangsamt das Tempo seiner Ansprache. Die Wirkung auf ihren Fitnesszustand erfolgt prompt, Schi Tot wir schlagartig müde und erstarrt regungslos. Albert legt seine Hände auf die Schläfen der jungen Frau und beginnt die Beschwörung:
„Schi Tot, so erhöre! Ich liefere die Formel, du die kreative Leistung mit der Überzeugungskraft deiner faszinierenden Aura. Du wirst am Hofe des Pharao mit Deiner Ausstrahlung suggerieren können, dass ein Polyeder als ideale Pyramide bei weitem die Ästhetik des geplanten plumpen Würfels übertreffe. Dies entspricht dem Wunsch des Fachausschusses für Erdenangelegenheiten der hohen Ebene.“
9. Kapitel
Luftballons markieren die Trauflinien
Ich hatte Pi-Latus informiert, dass die Bauleitung beabsichtigt, mit dem Architekten und dem Bodengutachter einen Ortstermin auf dem Baufeld durchzuführen. Der Grund hierfür ist, Cheops will in etwa zwanzig Sonnenumläufen (3) mit seinem engsten Stab der Vertrauten das Baufeld der Baustelle besuchen. Er beabsichtigt, sich ein erstes Bild von der Dimension seines geplanten Monumentalbauwerks zu machen. Ich befand, dass es für den Bauherrn von Vorteil ist, durch eine erste Grobabsteckung des Grundrisses die ungeheure Dimension des von ihm in Auftrag gegebenen Bauwerkes zu vermitteln. Ich bat daher den Vermesser, die Baufeldgrenzen und die Hauptachsen des Bauwerkes gemäß Lageplan des Architekten schon vor dem Ortstermin anzulegen. Pi-Latus bestätigte die Erledigung der Absteckung als Selbstverständlichkeit. Wir könnten uns auf ihn verlassen, versprach er.
Ich mag diesen Kerl, diesen furchteinflößenden Titan mit seinen 6 Königsellen (3,14 m) an Körpergröße. Geboren und aufgewachsen ist er in einer abgelegenen Bergregion an der Grenze des Reiches der Hethiter zum assyrischen Staatenbund. Pi-Latus berichtet, dass seine Körpergröße in seiner Heimat nichts Außergewöhnliches wäre. Viele Frauen und Männer hätten seine Statur, nur die Kinder wären niedriger. Deshalb sind die Bauvorschriften, etwa zur Höhe des Wohnraumes, der Türen, der Brüstungen und der Länge der Betten, dort andere als in Ägypten. Schon als Kind galt Pi-Latus in seinem Volksstamm als etwas Besonderes. Wenn seine gleichaltrigen Spielkammeraden sich der Nachahmung berühmter Schlachten widmeten oder Mannschaftsturniere diverser Ballspielarten organisierten, suchte Pi-Latus die Ruhe in der Abgeschiedenheit der Berge. Er streifte mit einem Campingbeutel auf dem Rücken in der Bergwelt umher, stellte sich auf die Gipfel und liebte es, die Entfernung und die Höhe anderer Bergspitzen zu schätzen. Er ersann schon in früher Jugend Messmethoden, um seine Schätzungen nachprüfen zu können. So bastelte er aus alten Hausratgegenständen aus dem Schuppen des Vaters und der Küche der Mutter gut funktionierende Messinstrumente. Über Peilungen konnte er damit in der Regel Übereinstimmungen zu seinen Schätzungen konstatieren. Die kindliche Freude war dann groß.
Aus dieser Neigung entsprang sein Studienwunsch; unbedingt wollte er Geodäsie studieren und als Vermesser arbeiten. Sein Abschlusspatent gelang ihm mit Auszeichnung an der guten geodätischen Universität von Armana. Er ist nach seiner Ausbildung in Ägypten geblieben. Seine Dienste als Vermesser werden hier gern in Anspruch genommen. Der Bauboom hält in Ägypten an und verschafft den in der Bauwirtschaft tätigen Fachleuten derzeit eine sichere Existenzgrundlage. Dass Pi-Latus nicht nur eine prägnante Körpergröße ausweist, sondern auch durch seinen durchtrainierten Körper Aufmerksamkeit erregt, liegt an seinen diszipliniert durchgeführten täglichen Körperertüchtigungsmaßnahmen. Größte Freude bereitet es ihm, wenn die mächtigen Wassermassen des Nil in der Zeit der großen Überschwemmung das Niltal durcheilen und er flussaufwärts mit ausgefeilter Schwimmtechnik gegen den immensen Wasserdruck Widerstand leisten kann. Gegen den Strom zu schwimmen, ist seine große Leidenschaft. Vermesser sind in der Regel sehr zuverlässige Kollegen. Wenn sie gebraucht werden, sind sie da und arbeiten strukturiert die messtechnischen Aufgaben ab. So auch dieses Mal.

Zum verabredeten Ortstermin auf dem Baufeld erscheinen pünktlich San-Rah, Prok-Toor, Echt-Natron und ich. Pi-Latus übergibt uns die Absteckprotokolle und zeigt die fest in den Boden eingetriebenen Absteckpflöcke mit den Achsbezeichnungen und die markierten Gemarkungssteine der Baufeldgrenzen. Zufrieden bedanken wir uns für seine Zuverlässigkeit. Der Vermesser nimmt bescheiden die Würdigung entgegen und lächelt verlegen. Man muss diesen warmherzigen Menschen einfach gernhaben.
Die Lage der Hauptachsen haben gemeinsam der Architekt und der Bodengutachter festgelegt. Zwei Kriterien spielten dabei eine entscheidende Rolle. Zum einen sollte der vorhandene felsige Baugrund die Standsicherheit des Bauwerks garantieren, zum andern sollte eine mystische Projektion der drei Gürtelsterne aus dem Sternbild des Orion auf die Erde die Harmonie zwischen Himmel und Erde symbolisieren. Der große Würfel ist der erste Teil einer Gesamtkonzeption, einer Dreierreihe von Bauwerken, die, wenn nicht von Cheops, dann von seinen Nachfolgern vollendet werden soll. Das nennt man in Fachkreisen „Erst nachhaltiges Denken, dann nachhaltiges Bauen“. Eine faszinierende Reihenfolge, die sich erst allmählich beginnt durchzusetzen.
Zur Animation der Grundfläche des Würfels hat Pi-Latus neben der Absteckung der Achsen auch die Eckpunkte der Grundfläche markiert. Die Festlegung der Höhe der Grundfläche wurde aus dem höchsten gemessenen Pegelstand des Nil abgeleitet. Hier liegen statistische Daten der unteren Flussbehörde vor, die alle als zuverlässig beurteilen. Die 0.00 Höhe ist die Basishöhe des Würfels an allen vier Eckpunkten und darf nur minimal abweichen. Eine für das Bauen durchaus normale Abweichung würde sofort die Geometrie zerstören und für die optische Wirkung der Trauflinien des Würfels verheerende Folgen haben. Hier verlangt der Architekt vom Vermesser allerhöchste Präzision. Alle Messpunkte und Achsen sind in einem Absteckprotokoll dokumentiert, das der Vermesser mit der Bestätigung, dass er sich nicht vermessen hat, unterschreiben und abstempeln muss.
Nur so am Rande, es ist schon merkwürdig, dass der Beruf des Vermessers nach einem Vorfall benannt wird, der auf Baustellen keinesfalls passieren darf. Die Kampfmittelsondierung ist ohne negativen Befund durchgeführt worden. Die Freigabebescheinigung liegt vor. Seltene Lurche wurden auch nicht angetroffen. Die Umweltbehörde ist zufrieden. Die Hauptelemente der zentralen Baustelleneinrichtung, wie die Stichkanäle vom Nil zu den Entlademauern, das Bauschild, die zentralen Baumagazine, das Equipment der drei Kalksteinbrüche, das Arbeiterviertel, die Versorgungsbereiche mit Kornhäusern und der Bäckerei und nicht zuletzt der administrative Bereich für die Architekten mit ihrer Bauleitung, die Palastanlagen des Pharao und der hohen Priester der Projektsteuerung werden später abgesteckt.
Bald also will Cheops mit seiner Entourage den Bauplatz besuchen. Der Besuch soll würdig vorbereitet werden. Als verantwortlicher Bauleiter schlage ich vor, gleich die ganze Dimension des Würfelbauwerks anschaulich zu simulieren und nicht nur die Grundfläche. Hierfür sollen an den vier abgesteckten Eckpunkten 146 m lange leichte Seile befestigt werden, an deren Ende große Luftballons befestigt sind. Die Luftballons würden mit Methan gefüllt und bei idealen Windbedingungen die Eckpunkte der Trauflinien markieren. Somit könne man das unvorstellbare Bauwerk in seiner ganzen Größe erahnen. Methan wird aus dem Dung der Tiere in den höfischen Stallungen gewonnen. Für die Luftballons würden die Schallblasen des männlichen Nilriesenfrosches umfunktioniert. Ich beende meine Ausführungen und beobachte die Wirkung meiner Idee. Begeisterung sieht anders aus. Prok-Toor bemerkt süffisant, dass für das Aufblasen der Ballons Hoch-Hart-Muth zuständig gemacht werden sollte. Echt-Natron ergänzt noch taktisch klug, dass die Umweltbehörde vom Füllstoff der Ballons besser keinen Wind bekommen solle. Er befürchtet Bedenken der Umwelthüter darüber, dass zusätzliches und durch Menschenhand gewonnenes Methan vielleicht unkontrolliert in die Atmosphäre gelangen könne.
„Und wie organisieren wir das mit der erforderlichen Windstille?“, fragt San-Rah. Es folgen ein paar Momente des kreativen Schweigens. Um meine Idee zu verteidigen, schlage ich vor: „Im Falle starker Winde würden wir das Flattern der Ballons als Symbol der Dualität zwischen statischer und dynamischer Prozesse beim Bauen deklarieren. Also, alles ist gut.“
Die Stimmung ist gut. Wir finden, dass wir konzentriert arbeiten und Schritt für Schritt die Baumaßnahme zielorientiert vorbereiten. Nur San-Rahs Gesicht schafft es nicht, gesündere Farbtöne anzunehmen. Er quäle sich sehr beim Gedanken an die bevorstehende Offenbarung zu den Kostendefiziten. Der entscheidende Schritt einer offensiven strategischen Herangehensweise müsse nun schnell vorbereitet werden. Lebensgefährlich ist es so und so, versuchen wir uns zu beruhigen. Mutig beschließen wir nach einer kleinen Pause, Cheops solle reiner Wein eingeschenkt werden.
Apropos, reinen Wein einschenken. Über die plötzliche eintretende Überfunktion meiner Speicheldrüsen erkenne ich, dass es wieder an der Zeit ist, einen köstlichen kühlen Rebensaft in meinem Weinbecher einzugießen und meine Kehle zu erquicken. Den anderen scheint es ähnlich zu gehen. Wir schauen zur Sonne und berechnen übereinstimmend die Tageszeit. Die kleine Bar mit den tollen Musikern wird erst am Abend geöffnet. Wir haben also noch etwas Zeit, vorher in unser Baubüro zu fahren.
Wir betreten das Büro und müssen in eisige Gesichter schauen. Überall nur gruselig eisige Gesichter. Frau Notvertrete räuspert sich zuerst und spricht davon, dass Interna des Büros durch einen Maulwurf nach außen gelangt sind. Die Mitteilung stamme von einem uns wohlgesonnenen informellen Mitarbeiter in der Redaktion der Lokalpresse. Erst nach einiger Zeit des Ringens um Fassung fragen wir vorsichtig, welche Details wohl nach außen gedrungen seien. Frau Notvertrete erinnert uns an die Büroparty im Nachgang unserer Anlaufberatung. Nach reichlichem Genuss von Alkohol hätten wir über Optionen zur Nutzung des Cheopswürfels gescherzt. Vor Lachen hätten wir uns weggeworfen, als die Nutzung als Grabanlage für Cheops ins Spiel kam. „Stellt euch vor, Cheops erfährt von dieser unverschämten Entgleisung. Auch wenn er nur Ansätze der Geschehnisse erfährt, der zerreißt uns alle in der Luft“, warnt Frau Notvertrete. Jetzt haben auch wir eisige und blasse Gesichter. Wer mag wohl der Schurke sein? Unerträglich der Gedanke, dass wir unsere Besprechungen und Feierlichkeiten nicht mehr frei von Misstrauen durchführen können. Dass ab sofort jeder Gedankenaustausch von unsicherer Vertraulichkeit geprägt sein wird. Furchtbar. Wer tut denn so was? Wir legen für Pi-Latus, Prok-Toor, für die Bauleitung sowieso für San-Rah unsere Hände ins Feuer. Verbleiben noch Frau Notvertrete und ihre Cousine? Ist das vorstellbar? Nein! Doch, wer sollte davon Wind bekommen haben? Die Projektsteuerung war nicht anwesend und in der Bar war sie auch nicht dabei. Hatten wir etwa in der Bar total die Kontrolle verloren, so dass die Grabmalsatire nach außen dringen konnte?
10. Kapitel
Wer bin ich und wo war ich, fragt sich die schöne junge Frau
Schi Tot reitet zum Kamelhaus und gibt das Leihkamel zurück. Eigentlich ein einfacher Vorgang, doch es gibt ein bisschen Aufregung. Es hat lange gedauert, der netten Dame am Empfang klar zu machen, dass Schi Tot ihre Reisepläne ändern musste und somit das Leihkamel wieder in der Filiale in Memphis, nicht wie vertraglich vereinbart, im Südsudan abgegeben wird. Aber das ist nicht der Hauptanlass der Aufregung. Vielmehr ist der Zustand des Leihkamels der Anlass einer strittigen Debatte. Das Kamel ist ordnungsgemäß genährt. Die Höcker sind wieder mit Trinkwasser aufgefüllt. Stein des Anstoßes aber sind die Zähne, das Fell und die Hufe des Tieres, die zur Übergabe an die Mieterin in einem miserablen Zustand waren. Dies wurde auch im Übergabeprotokoll vermerkt. Doch jetzt zur Rückgabe, sind Zähne und Hufe in einem vorzüglichen Zustand und das Fell vollständig parasitenfrei. Schi Tot lässt sich nicht anmerken, wie erstaunt sie selbst über diese Sachverhalte ist. Sie kann sich nicht erinnern, sich jemals um das Leibeswohl des Leihkamels gekümmert zu haben.
Überhaupt ist die Erinnerung an die letzten Tage äußerst diffus. Ja, da war so ein netter älterer Herr, der einen vorzüglichen Eindruck bei ihr hinterlassen hat. Ja, da war dieser merkwürdige Raum mit all den angebotenen Köstlichkeiten auf einem durchsichtigen Tisch, die sie sich als Künstlerin nicht leisten konnte und ja, da waren die Gedächtnislücken zur Reise in den Südsudan und zurück nach Memphis. Aber eines wusste sie mit entschiedener Überzeugung. Sie hatte einen Auftrag zu erfüllen. Nämlich den Auftrag, ihren Pharao zu überzeugen, dass ein Polyeder als Pyramide in der Wüste weit ästhetischer sei als ein wuchtiger plumper Wüstenwürfel, der noch nicht mal quadratisch ist. Diese Überzeugungsleistung wird sie mit ihren kreativen Talenten tätigen und als schöne junge Frau Mittel und Wege finden, in den Palast direkt zu Cheops zu gelangen. Nicht mehr und nicht weniger. Staunend nimmt sie wahr, dass sie diese mysteriösen Dinge mit selbstverständlicher innerer Gelassenheit und lockerer Heiterkeit betrachtet. „Was ist zu jetzt tun?“, ordnet Schi Tot ihre Gedanken. Als erstes wird sie ein Konzept zur Vorgehensweise erarbeiten. Ihre Waffen als junge attraktive Frau und ihr Talent zur kreativen Inszenierung sollen die Schwerpunkte in ihrem Plan sein. Mit diesem Verbund glaubt sie, könne sie am besten die beabsichtigte Wirkung bei Cheops und seinem Hofstaat erzielen. Mit modischer körperbetonter Kleidung, betörendem Duft und knalliger Kosmetik wird sie sich eine besonders anziehende Aura verschaffen. Dazu will sie leicht tänzelnde Schrittfolgen einstudieren, die die Männerwelt im Palast in sinnliche Träume versetzt. Als Präsentationshöhepunkt wird sie einen komplexen Körperschmuck kreieren. Mittelpunkt des Arrangements soll eine Pyramidenform sein, die im Verbund mit edlen Metallen und Steinen den absoluten Hingucker darstellt.
Schi Tot genoss eine glückliche Kindheit. Ihre Mutter stellte ihr Leben in den Dienst des behüteten Heranwachsens ihrer Kinder. Als jüngste von drei Mädchen und zwei großen Brüdern war sie das Nesthäkchen der Familie. Vor allem ihr Vater kümmerte sich rührend um Schi Tot. Als Dozent an der Hochschule für gute Formgestaltung in Memphis konnte er schnell das ausgeprägte Talent seiner jüngsten Tochter für die Gestaltung von Formen, Farben und Materialien erkennen. Schon im Vorschulalter bemalte die kleine Schi Tot rohe Keramiken mit Geduld, hoher Präzision und bemerkenswert schöpferischen Motiven. Während gleichaltrige Mädchen Puppen und Puppenstuben geschenkt bekamen, sorgte der Vater dafür, dass die talentierte Tochter zu ihren Geburtstagen ein Gerätesortiment zum Herstellen von Keramiken geschenkt bekam. Schon bald nannte sie eine Töpferscheibe und einen kleinen Kinderbrennofen ihr Eigen. Erfolgreich nahm Schi Tot am jährlich stattfindenden Nachwuchswettbewerb „Jugend töpfert“ teil und erhielt wertvolle Auszeichnungen. Als aus dem jungen Mädchen eine junge Frau wurde, standen berühmte Dozenten verschiedener Kunstakademien Schlange vor ihrem Elternhaus, um der Begabten an ihren künstlerischen Bildungseinrichtungen ein Stipendium anzubieten. Selbst Berater traten auf den Plan, um selbstlos einen erfolgreichen Karriereweg der jungen Künstlerin zu gestalten. Entschieden hat sich Schi Tot jedoch für ein Studium an der Hochschule ihres Vaters. Die väterliche Geborgenheit war ihr wichtig und schon bald stieg sie in den Rang einer Meisterschülerin. Selbstbewusst ob ihrer gradlinigen Entwicklung als Künstlerin reifte der Entschluss, sich nach ihrem Studium selbstständig zu machen. Ihr Traum von einer kleinen bescheidenen Werkstatt mit Verkauf der eigenen Produkte wurde schnell wahr. Sie ist dadurch unabhängig und kann sich einen bescheidenen Lebensstil nach ihren eigenen Vorstellungen leisten. Sie fühlt sich als freier Mensch.
Schi Tot hat ihr Konzept zur weiteren Vorgehensweise abgeschlossen. Sie ist zufrieden und denkt an ihren Freund. Sie weiß, dass er ganz in der Nähe, in dem neu geschaffenen Büro der Bauabteilung ist und sich auf eine kolossale Projektherausforderung vorbereitet. Sie bewundert diesen tollkühnen Mann. Nicht jeder würde sich einer solch abenteuerlichen Herausforderung stellen. Sein Mut, sein Engagement und seine fachlichen Fähigkeiten würdigt sie über alle Maßen. Als sie ihn auf einer Vernissage kennenlernte, hatte er versucht, seine schüchtere Verlegenheit mit mehr oder weniger humoristischen Sprüchen zu überspielen. Das war zwar amüsant, aber nicht zwingend intelligent. Sympathisch war er ihr aber sofort. Man sah es ihm an, dass er ein Mann der Baustelle ist. Bürogänger treten anders auf und kleiden sich in der Regel vorteilhafter. Gefunkt hat es, als er bei ihr verabredungsgemäß zur Bezahlung der roten Perlenbrosche erschienen ist. Ohne Widerstand ließ sie sich danach auf lange Spaziergänge und gemeinsame Restaurantbesuche ein. Sie genoss es, mit ihm zusammen zu sein und hörte aufmerksam seinen Berichten zum Berufsalltag eines Bauleiters zu. Es gefiel ihr, wie er einerseits den Berufsethos des Bauens hervorhob und andererseits äußerst kritisch sich mit den Modalitäten der Verwaltung des Bauens auseinandersetzte. Wie er vom täglichen verzweifelten Kampf um den bürokratischen Alltag berichtete und wie er sich mit der Unbedarftheit der Behörden und Ämter auseinandersetzen muss. Ein Bauleiter ist verantwortlich für die Erfüllung der Funktionsmerkmale eines Bauwerks, für dessen Qualität, die Einhaltung der kalkulierten Kosten sowie des Terminplans. Und das alles ohne wesentliche Entscheidungsbefugnisse. Er sieht darin einen fundamentalen Widerspruch, denn viele Baustellenkonflikte sind dieser Tatsache geschuldet. Schi Tot konnte ihn ein wenig trösten, als sie ihm ähnliche Probleme aus ihrer gewerblichen Tätigkeit erzählte. Auch sie muss sich den Gepflogenheiten der Bürokratisierung selbstständiger Existenzen unterordnen. Die Ämter und das Finanzamt sorgen schon mal für manch bedrückende Stimmung. Es ist durchaus manchmal schwierig, sich als Selbstständige frei zu fühlen.