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Als ich diese Träume verstand, hörten sie auf. Ihre Funktion war erfüllt, sobald sie den allmählichen Zerfall meiner »idyllischen Kindheit«-Illusion einleiteten.
Zu dieser Zeit studierte ich Psychologie, Soziologie und Anthropologie an der Universität. Meine Studien beschleunigten die Auflösung meiner Illusion von meiner »perfekten« Familie. Ich entdeckte eklatante Beweise dafür, dass westliche Erziehungspraktiken seit der Industriellen Revolution kontinuierlich weitergegeben wurden. Schließlich kam ich zu der Überzeugung, dass die meisten amerikanischen Familien das Ideal der perfekten Familie aus der beliebten Fernsehserie The Brady Bunch Lügen strafen.
Meine Ansicht, dass wir unter einer Erziehungskrise leiden, gründet auch auf den Erfahrungen der sechs Jahre, die ich mit oder in der Nähe von Menschen aus nicht industrialisierten Gesellschaften verbracht habe: drei Jahre in Afrika und Asien sowie drei Jahre in der Nähe eines Aborigines-Reservats im Norden Australiens.
Beim Vergleich der vor- und nachindustriellen elterlichen Erziehungspraktiken scheint es offensichtlich, dass westliche Eltern den Kontakt zu ihren emotional geprägten elterlichen Instinkten verloren haben. Allein dieser Faktor verursacht bei den meisten unserer Kinder eine Menge unnötiger und unbeabsichtigter Verletzungen und Entbehrungen. Diese Beobachtung zeigt sich deutlich in der Reaktion der kalifornischen Ureinwohner auf die ersten westlichen Siedler. Sie waren vom mangelnden Mitgefühl der Europäer ihren Kindern gegenüber so sehr betroffen, dass Sie sie verächtlich als »die Leute, die ihre Kinder schlagen« bezeichneten.
Unzählige Erlebnisse machten mich neidisch auf die Beziehungen der Eltern und Kinder in »primitiven« Kulturen. Eltern dieser Kulturen leiten ihre Kinder an und betreuen sie nach dem gesunden Menschenverstand, den wir schon lange aufgegeben haben, so wie viele unserer Gefühle und Instinkte. Alice Miller beschreibt den Erziehungsprozess, der uns unserer Gefühle beraubt, bevor wir uns ihrer bewusst sind und sie zu schätzen wissen:
… (Wir) haben alle die Kunst entwickelt, keine Gefühle zu empfinden, denn ein Kind kann seine Gefühle nur dann erleben, wenn es jemanden gibt, der es voll akzeptiert, versteht und unterstützt. Wenn das nicht gegeben ist und das Kind riskieren muss, die Liebe der Mutter oder ihres Stellvertreters zu verlieren, dann kann es diese Gefühle nicht heimlich »nur für sich selbst« empfinden, sondern überhaupt nicht.
Als ich eines Tages über die Betrachtung von Alice Miller nachdachte, kam mir dieses Gedicht in den Sinn:
Sie stumpfen meine Gefühle ab
Um die Blutung meiner Tränen zu stoppen
Und nun ertrinke ich allein in
Einem Pool, der seit Jahren verblutet ist.
Eltern in nichtindustrialisierten Gesellschaften lieben ihre Kinder auf eine Art und Weise, die jenseits der Fähigkeit der meisten westlichen Eltern liegt. So sehr wir uns auch aufrichtig bemühen, unsere Kinder zu lieben, wir scheitern gewöhnlich kläglich, weil wir von unserer emotionalen Natur getrennt sind. Ängstlich und beschämt über unsere Gefühle und unsere inneren Erfahrungen, haben wir keinen Zugang zu dem Teil unseres Selbst, wo liebevolle Gefühle entstehen.
Es gibt eine Geschichte der amerikanischen Ureinwohner, die den Mangel an Liebe in unserer Kultur hervorhebt. Ein westlicher Anthropologe, der bei den Hopi-Indianern lebte und sie studierte, bemerkte im Laufe der Zeit, dass die meisten Hopi-Lieder vom Wasser handelten. Eines Tages fragte er den Schamanen:
Wie kommt es, dass ihr so viel über Wasser singt? In meiner Kultur ist die Liebe das Thema, das am häufigsten in unseren Liedern zum Ausdruck kommt. Schätzt dein Volk die Liebe nicht?
Der Schamane dieser Wüstenkultur antwortete:
In meiner Kultur sind die Lieder häufig Gebete, und wir singen und beten für die wertvollen Dinge im Leben, von denen wir nicht genug haben. Liebe gehört nicht dazu.
Das Tao der Gefühe skizziert eine Reise zurück zu den Gefühlen und zurück zu authentischen, gefühlsbasierten Liebeserfahrungen. Wenn wir jemals wieder unsere natürliche Fähigkeit, unsere Kinder wirklich zu lieben, wiedererlangen wollen, müssen wir zuerst lernen, uns in all unseren emotionalen Zuständen selbst zu lieben. Wir beginnen damit, so absurd es auch erscheinen mag, indem wir uns selbst und anderen verzeihen, Gefühle zu haben! Wir erreichen dies, indem wir uns weigern, unseren Eltern nachzueifern – und zwar indem wir mit der von ihnen übernommenen Angewohnheit brechen, uns schuldig zu fühlen und uns für die meisten unserer Gefühle, mit denen wir dem Leben begegnen, zu schämen.
Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch helfen wird zu verstehen, dass Sie in der Kindheit schwere Verluste erlitten haben, falls auch Ihre Eltern sich an die Normen und Praktiken der modernen Erziehung gehalten und diese befolgt haben. Ich möchte Sie auf Anhang A hinweisen, der Ihnen helfen soll, eine sachkundigere Bewertung dieser Behauptung vorzunehmen.
Bei meinen Versuchen, mit meinen Emotionen zurechtzukommen, bin ich in vielen Sackgassen gelandet. Ich habe sie verdrängt, runtergeschluckt, in Alkohol ertränkt, bin abgehoben in Hanf-Schwaden, hungerte sie aus, begrub sie unter Nahrung, transzendierte sie in der Meditation, bin ihnen davongelaufen, überlistete sie durch Rationalisierung, exorzierte sie, übergab sie an höhere Wesen, verwandelte sie in etwas, das man nicht ernst zu nehmen hatte, und spürte sie sogar kurz, bevor ich sie in einer dramatischen Katharsis löschte, damit sie endgültig verschwanden.
Ich wurde bei meinen Bemühungen, dauerhafte Linderung von dem mich erdrückenden emotionalen Schmerz zu erreichen, durch eine Fülle von Selbsthilfebüchern, Workshops, praktischen Kuren, psychologischen Lehren und spirituellen Praktiken in die Irre geführt. Die meisten Sackgassen, die ich auf der Flucht vor meinen Gefühlen erforscht habe, hatten eine gemeinsame Eigenschaft: das Versprechen einer ewigen Transzendenz normaler emotionaler Zustände wie Wut, Trauer, und Angst.
Die schädlichsten waren jene, die versprachen, man könne dauerhaft »wünschenswerte« emotionale Zustände wie Glück, Liebe und Frieden erreichen. Ich erinnere mich lebhaft an die klägliche Enttäuschung, die ich erlebte, wenn die kurzlebigen positiven Wirkungen des einen oder anderen Ansatzes so hinfällig wurden, dass ich nicht mehr so tun konnte, als würde ich sie tatsächlich erleben. Immer wieder wurden Versprechungen von dauerhafter Zufriedenheit gebrochen, denn die negativen Emotionen, die eigentlich dauerhaft beseitigt werden sollten, kehrten unweigerlich zurück. Da es mir wieder einmal nicht gelungen war, mein Leiden zu überwinden (wie es anderen zu gelingen schien), begab ich mich – überwältigt von toxischer Scham –, unweigerlich auf eine weitere verzweifelte Suche nach einem neuen Allheilmittel für meine Gefühle.
Wie ungewöhnlich und überraschend, dass ich jetzt meine Gefühle nur noch akzeptieren muss! Manchmal kann ich kaum glauben, wie leicht es ist, sie einfach wahrzunehmen oder ihnen einen liebevollen Ausdruck zu verleihen. Bin ich wirklich die gleiche Person, die vor zwanzig Jahren zu diesen unzähligen Männern gehörte, die keine Ahnung von Gefühlen haben?
Ich möchte nicht behaupten, dass alle oben genannten Ansätze völlig wertlos sind. Einige davon sind nützliche Werkzeuge, sofern sie nicht dazu benutzt werden, Gefühle zu verbannen, und sie werden auch in mein vielschichtiges Konzept der emotionalen Genesung mit einbezogen.
Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch hilft, sich nicht zu schaden, wie ich es getan habe, indem ich mich naiv Lehren und Praktiken verschrieben habe, die dauerhaftes Glück garantierten. Es ist eine Sisyphusarbeit, wenn man auf diese Weise versucht »oben« zu bleiben, und man wird unweigerlich und unnötig unzufrieden mit sich selbst, egal, wie gut gemeint diese Ansätze sind oder wie hilfreich sie für den Moment sein mögen.
Thomas Moore bezeichnet in seinem Buch Der Seele Raum geben: Wie Leben gelingen kann das Streben nach dem Glück als »Erlösungsfantasie«. Sie ist ein verführerischer, nutzloser Umweg in unserer persönlichen Entwicklung. Sheldon Kopp betitelte sein Buch Triffst du Buddha unterwegs, um uns zu ermutigen, diesen Umweg zu vermeiden und uns vor der unnötigen Selbstsabotage des emotionalen Perfektionismus zu retten.
Die motivierenden, emotionalen Auswirkungen jeder Technik oder Lehre im Hinblick auf die persönliche Entwicklung, ganz gleich, wie gesund und gut gemeint sie sind, weichen zwangsläufig normalen, ebenso gesunden Erfahrungen von weniger erhabenen Gefühlen. In solchen Momenten kann es geschehen, dass sich diejenigen, die glauben, sie sollten unerschütterlich fröhlich und transzendent sein, für diese normale Fluktuation der Empfindungen von Glück und Gelassenheit schuldig fühlen, da sie vermeintlich von Natur aus fehlerhaft sind.
Der Mensch wurde nicht geschaffen, um sich im Dauerzustand einer bestimmten Empfindung zu befinden. Niemand wird uns weiter auf die Folterbank des emotionalen Perfektionismus binden. Wir können heruntersteigen und stattdessen realistischere emotionale Ziele anstreben. Ein unerschütterliches Selbstvertrauen, das nicht durch emotionale Schwankungen beeinträchtigt wird, ist etwas, das wir alle auf gesunde Weise anstreben und nach und nach erreichen können.
Es gibt viel zu viele spirituelle Führer und kognitive Verhaltenspsychologen, die uns den Weg in die falsche Richtung weisen, indem sie darauf bestehen, dass wir unangenehme Gefühle beseitigen können und sollten. Viele New-Age-Führer kredenzen fälschlicherweise das Konzept der Erleuchtung, als ob es ein dauerhaft erreichbarer schmerzfreier Zustand wäre. Während meiner fünfundzwanzigjährigen spirituellen Praxis und der zwanzig Jahre, die ich mit psychologischen Studien verbrachte habe, ist mir jedoch noch kein Guru, Therapeut, Lehrer oder Anhänger begegnet, der sich in einem dauerhaft glückseligen Zustand befand und der nicht gelegentlich emotionalen Schmerzen ausgesetzt war. Wie traurig, dass so viele immer noch dieser illusorischen Verheißung nachjagen, und sich weiterhin dafür verachten, dass sie sie nicht erreichen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich möchte in keiner Weise die wunderbaren Möglichkeiten einer effektiven spirituellen Praktik abwerten. Vielmehr versuche ich den Trugschluss deutlich zu machen, eine spirituelle Praktik könne die Notwendigkeiten einer »emotionalen Praktik« aufheben. Wenn wir nicht die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle akzeptieren und erleben, können wir keine gesunden Menschen sein.
Vielleicht bin ich schlecht informiert und vielleicht gibt es einige seltene Seelen, die wirklich permanente Erleuchtung oder unerschütterliches Glück verkörpern. Vielleicht hat der neueste Avatar eines Abkömmlings des EST-Trainings eine Formel entwickelt, um eine wirklich vollständige Beherrschung der emotionalen Natur zu erreichen. Vielleicht beweist das Gehen auf heißen Kohlen ohne Schmerzempfindung, wie es die Teilnehmer in den aktuell populären Wochenendseminaren tun, dass wir in der Lage sein »sollten«, andere, weniger intensive, emotionale Formen des Schmerzes zu transzendieren. Da ich jedoch diejenigen, die für sich behaupten, den Himmel hier auf Erden gefunden zu haben, bisher nur als anmaßend erlebt habe, scheint es mir, dass die Chancen, unerschütterliche Glückseligkeit zu erlangen, extrem gering sind.
Daher bin ich so dankbar, dass ich R.D. Laings weise Äußerung schließlich verstanden habe: »Der einzige Schmerz, der vermieden werden kann, ist der Schmerz, der entsteht, wenn unvermeidlicher Schmerz vermieden wird.« Ich weiß jetzt, dass der Löwenanteil meiner bisherigen emotionalen Schmerzen, über neunzig Prozent, daher rührte, dass ich gelernt hatte, meine Gefühle zu hassen, zu betäuben und vor ihnen wegzulaufen.
Der größte Wendepunkt in meinem Leben geschah, als ich mein Streben nach dauerhaftem Glück und Transzendenz mit der unbeugsamen Bereitschaft ersetzte, für mich selbst in jedem Gefühlszustand da zu sein. Die Belohnung dafür war wundersam. Manchmal sind meine Tränen wie Juwelen, die durch Brechung strahlende Farbigkeit in mein Leben lenken. Meine Wut erlebe ich jetzt als eine sanfte Flamme, die mich mit einer immer größer werdenden Leidenschaft für das Leben wärmt. Meine Angst ist manchmal ein Leuchtfeuer, das mir neue Wege aufzeigt, um eine größere Wertschätzung des Lebens zu erlangen. Mein Neid zeigt mir, was ich in mir noch entwickeln möchte.
Ich habe sogar in Phasen der Depression Wunderbares erlebt. Depressionen führen mich manchmal in die Stille, die mich vom Joch der Zeit befreit; sie laden mich ein zu einem zunehmend intensiver erlebten Ort des Friedens in mir selbst und sie erlauben mir, mich in meinem Körper wohlzufühlen, als wäre er der luxuriöseste Sessel, den man sich vorstellen kann.
Außerdem versetzt mich das Trauern, besonders wenn es intensiv ist, in einen so tiefen Schlaf, dass ich mich wie ein ruhender Samen fühle, der sicher im fruchtbaren Lehm von Mutter Erde geborgen ist und nichts anderes zu tun hat, als darauf zu warten, dass die Sonnenstrahlen ihn wecken.
Die Bereitschaft, ganzheitlich zu fühlen, verleiht uns eine befreiende emotionale Flexibilität. Ich staune immer wieder darüber, wie das Zulassen unangenehmer Gefühle diese Wirkung auslöst und mir viel schneller wieder ein gutes Gefühl verleiht, als es eine Abwehr jemals getan hat.
Unsere Gefühle beleben und bereichern uns in dem Maße, wie wir sie in ihrer Vielfalt zulassen. Jetzt ist es an der Zeit, uns von der lähmenden Treue zu den TV-Helden zu befreien, die uns einzelne monotone Melodien von Härte, Coolness, Nettigkeit oder gekünstelter Leichtsinnigkeit summen lassen. Unsere Emotionen sind unsere eigene Musik, und kein monotones oder Drei-Noten-Liedchen kann in uns die Leidenschaft für das Leben erzeugen. Wir werden zu Sinfonien, wenn wir uns alle Töne der emotionalen Skala zurückerobern.
Ich selbst war auf einer langen Reise zurück zu meinen Gefühlen, ohne die Orientierung einer Karte, und ich hoffe, dass die Karte, die ich Ihnen hier anbiete, Ihnen eine Abkürzung zu Ihrer emotionalen Genesung ermöglicht. Ich hoffe, dass Sie einige der hier beschriebenen Schätze entdecken werden und dass Sie durch eine umfangreichere emotionale Erfahrung des Lebens beseelt werden. Ich bete, dass Sie das Gefühl der Zugehörigkeit und Erfüllung erleben, das durch die emotionale Freiheit Ihrer selbst und mit Ihren Vertrauten entsteht.
Kapitel 1
Die Bedeutung der Wiedererlangung des ganzen Spektrums der Gefühle
Das Gefühl sagt uns, wie und wie sehr eine Sache für uns wichtig ist.
— Carl Gustav Jung
Amerika ist eine Nation emotionaler Waisenkinder … erwachsene Kinder sind ohne wirkliche Eltern aufgewachsen. Unzählige unserer Freunde, Nachbarn, Ehepartner und Liebhaber hatten eine Kindheit, in der ihre Eltern emotional nicht für sie da waren.
— Dennis Wholey
Gefühle und Emotionen sind energetische Zustände, die sich nicht auf magische Weise auflösen, wenn sie ignoriert werden. Ein großer Teil unseres unnützen emotionalen Schmerzes ist der verzweifelte Druck, der dadurch entsteht, dass die emotionale Energie nicht freigesetzt wird. Wenn wir uns nicht um unsere Gefühle kümmern, sammeln sie sich in uns an und erzeugen wachsende Angst, die wir häufig als Stress abtun.
Stress ist nicht nur eine schädliche physiologische Reaktion auf belastende äußere Anreize wie Lärm, Umweltverschmutzung, Pendeln zum Arbeitsplatz, lange Arbeitszeiten oder viel Trubel. Stress ist auch der schmerzhafte innere Druck der angesammelten emotionalen Energie.
Das Trauern, das hier ausführlich untersucht wird, ist der effektivste Mechanismus zur Stressbewältigung, über den die Menschen verfügen. Trauern ist ein sicheres, gesundes Ventil für unsere inneren Druckkochtöpfe der Emotionen. Oft habe ich Gefühle erlebt, bei denen ich glaubte, gleich zu explodieren, und die sich durch ein ausgiebiges Weinen sofort lösten. Fast täglich erlebe ich in meiner Privatpraxis, wie andere dieselbe wunderbare Erleichterung erfahren.
Wenn wir uns nicht auf unsere Gefühle einlassen, hat das viele furchtbare Konsequenzen. Der Preis der Unterdrückung der Gefühle ist eine konstante, verheerende Energieverschwendung, die viele von uns deprimiert und schweigsam macht. Wenn wir auf diese Weise ständig geschwächt werden, versinken wir zunehmend in Apathie und im Gefühl des Überdrusses, »alles schon mal gesehen zu haben, überall schon mal gewesen zu sein und alles schon mal gemacht zu haben«. Wenn dies eintritt, geben wir unsere Bestimmung auf, ausdrucksstarke, das Leben feiernde Wesen zu sein, zu denen wir geboren wurden.
Der Kampf gegen unsere Gefühle zwingt diese, sich gegen uns zu wenden. Ein Großteil unseres überflüssigen Leidens wird durch die Geister unserer getöteten Emotionen verursacht, die durch unser Bewusstsein wehen und uns in Form von verletzenden Gedanken verfolgen. Verleugnete Emotionen trüben unsere Gedanken durch ängstliche Sorge, mürrische Selbstzweifel und wütende Selbstkritik.
Wir riskieren auch, unsere Emotionen unbewusst »auszuleben«, wenn wir nicht bereit sind, sie zu spüren. Sarkasmus, der Hang zum Kritisieren, gewohnheitsmäßiges Zuspätkommen und »vergessene« Verpflichtungen sind häufige unbewusste Äußerungen von Wut. Paradoxerweise lassen uns diese passiv-aggressiven Verhaltensweisen in noch größerem emotionalen Schmerz zurück, weil sie andere dazu bringen, uns zu misstrauen und uns nicht zu mögen.
Die gravierenden Probleme des maßlosen Essens, der Übermedikation und des übermäßigen Arbeitens, die Amerika plagen, wurzeln ebenfalls in der massenhaften Entfremdung von unseren Gefühlen. Wenn wir Angst vor unseren Gefühlen haben, sind wir gezwungen, uns durch stimmungsverändernde Substanzen, Arbeitssucht oder ständige Geschäftigkeit von unseren Emotionen abzulenken. Wie Anne Wilson Schaef in ihrem Buch Im Zeitalter der Sucht: Wege aus der Abhängigkeit zeigt, sind viele von mindestens einer selbstzerstörerischen Substanz oder einem entsprechenden Verhalten abhängig.
Ironischerweise tragen unsere Ablenkungen in der Regel zu dem zugrunde liegenden Schmerz bei, den wir versuchen zu vermeiden. Wenn es zur Gewohnheit wird, fügen sie unserem Körper schließlich schwere Schäden zu. Unser rasendes Lebenstempo und die Verwendung von chemischen Substanzen (verschriebene, illegale oder rezeptfreie) betäuben uns so gründlich, dass wir ihre lähmenden Auswirkungen oft erst dann spüren, wenn wir schwer erkranken.
Wir sind so abwehrend gegenüber unseren Schmerzen geworden, dass wir immer wieder auf der Suche nach neuen Wegen sind, um nicht zu fühlen. Die weit verbreitete Narkotisierung der Hausfrauen mit Valium in den Fünfziger- und Sechzigerjahren war ein Präzedenzfall für die gegenwärtige explosionsartige Betäubung beider Geschlechter mit modernen Antidepressiva. Medikamente wie Prozac, Zoloft und Paxil werden derzeit als »Designerdrogen« verwendet, und viele Allgemeinmediziner mit geringer psychiatrischer Ausbildung verschreiben sie großzügig jedem, der sich schlecht fühlt.
1995 wurde in einer TV-Sondersendung von Frontline über entsprechende Zustände berichtet. Dieses Programm dokumentierte den damals weitverbreiteten Trend zum übermäßigen Gebrauch von Prozac und richtete den Fokus auf einen Psychologen aus dem Bundesstaat Washington, der Prozac allen seinen Klienten verschrieb und neue Klienten nur behandelte, wenn sie bereit waren, Prozac zu nehmen. Vor laufender Kamera sagte er einem potenziellen Klienten: »Sie haben keinen Zugang zu Ihrem wahren Selbst ohne dieses Medikament.« Leider begegne ich immer mehr Therapeuten, die ihren Klienten sofort Prozac verschreiben, ohne zuerst das Trauern als Mittel gegen Depressionen und Stress auszuloten.
In dem Krieg, den unsere Kultur gegen das Fühlen führt, werden Emotionen zu einer gefährdeten Art. Überall werden wir von familiären und gesellschaftlichen Erwartungen bedrängt, »cool« zu sein. Die Haltung, so zu tun, als könne uns nichts verletzen oder beeinträchtigen, ist schleichend zu unserem Vorbild für Gesundheit und Entfaltung geworden. Viele von uns sind so cool, dass sie emotional kalt und abschreckend distanziert geworden sind. Mit den Worten von Robert Bly:
… die Vertuschung schmerzhafter Emotionen in uns … ist in unserem Land zu einer Frage des nationalen und privaten Stils geworden. Wir haben mit überwältigendem Elan das Tier der Verleugnung zum Leittier des Lebens in unserem Land gemacht.
Nirgendwo, weder in unseren privatesten Momenten, noch in der Gesellschaft unserer engsten Freunde, fühlen wir uns sicher, unsere Gefühle zu erkunden. Wut, Depression, Neid, Traurigkeit, Angst, Misstrauen usw. sind alle genauso wichtig für das Leben wie Brot, Blumen und Straßen. Doch diese Gefühle rufen bei uns – sobald sie aufkommen – gewöhnlich Scham und Furcht hervor, selbst bei denjenigen, die allen anderen unvorhergesehenen Lebensereignissen tapfer begegnen.
Wer es wagt, Gefühle auszudrücken, die nicht positiv sind, wird als bemitleidenswert und unreif betrachtet, weil er sich nicht für eine würdevollere Haltung entschieden hat. Welch schrecklicher Verlust der natürlichen menschlichen Neigung, einem verzweifelten Freund Mitgefühl zu erweisen – eine Reaktion, die es in nichtindustrialisierten Ländern immer noch gibt.
Eine Schulter zum Ausweinen und die Erlaubnis, zu jammern und zu klagen, sind in den Industriegesellschaften verschwindende Sakramente. In unserer Kultur bedeutet Empathie, unseren bedrückten Freunden – in bester Absicht – zu raten, »das Positive zu sehen« und daran zu denken, dass »es schlimmer sein könnte«.
Dies steht im Gegensatz zur Stammeskultur von Neuguinea, wo Männer und Frauen gleichermaßen von ganzem Herzen an den jährlichen Trauerfeierlichkeiten beteiligt sind. Den ganzen Tag lang halten sie sich in den Armen und trösten sich gegenseitig über den Verlust ihrer in der Tat glücklichen Kindheitstage.
Uns fehlt die normale menschliche Güte, aus der heraus wir unsere engen Freunde ermutigen, ihre Gefühle zu zeigen, damit sich ihr Schmerz nicht einkapselt und in Angst, Sorge und Selbstverachtung verwandelt.
Von Jahr zu Jahr offenbart sich immer mehr die 1969 vom Psychoanalytiker Rollo May geäußerte Vorhersage:
Ich glaube, dass es in unserer Gesellschaft einen eindeutigen Trend zu einem Zustand der Gefühllosigkeit als Lebenseinstellung, als Charakterzustand gibt.
Hat Gott einen schrecklichen Fehler begangen, als er uns mit der Eigenschaft zu fühlen ausgestattet hat, um uns von Robotern und Androiden zu unterscheiden, denen wir scheinbar nacheifern?
Vielleicht ist Gott dabei, ein neues Gebot zu erlassen: »Du sollst keinen emotionalen Schmerz fühlen oder ausdrücken!« Wenn dem so ist, könnten wir alle in einer Welt enden, die frostig und ohne Gefühl ist. Lesley Hazelton beschreibt in ihrem Buch Dein Recht, dich schlecht zu fühlen. Mit Alltags-Depressionen leben solch eine Welt:
Schizophrene kennen diese Welt. Sie haben sich in sie zurückgezogen, abseits des gesamten Bereichs menschlicher Interaktionen und Beziehungen – in extremen Fällen sogar von der Fähigkeit, physischen sowie psychischen Schmerz zu empfinden. Dies ist ein Zustand schwerer emotionaler Störung. Dennoch kommt er dem derzeitigen Idealzustand, keine »negativen« Gefühle zu haben, sehr nahe.
Schluss mit der Flucht vor den Gefühlen
Menschen greifen nicht millionenfach zu Drogen und Alkohol, um einen Schmerz zu betäuben, den sie erkannt haben und benennen können.
— Dennis Wholey
Wenn ein Kind Gefühle der Traurigkeit, der Wut, des Verlustes und der Frustration nicht ausleben darf, werden seine wahren Gefühle neurotisch und verzerrt. Im Erwachsenenalter wird dieses Kind unbewusst sein Leben so gestalten, dass es dieselben Gefühle wieder verdrängt. Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim beklagt, dass Kindern berechtigtes Leiden nicht zugestanden wird. Er stellt fest, dass sogar die Bücher, die Kinder in der Schule lesen, das Leben als eine Abfolge von Freuden zeigen. Niemand ist wirklich wütend, niemand leidet wirklich, es gibt keine echten Emotionen.
— Susanne Short
Die Krankheit der emotionalen Auszehrung ist eine Epidemie. Millionen von Menschen in den Industrieländern sind emotional verarmt und abgestumpft. Unser breites Angebot von vermeintlich kultivierten Ablenkungen macht uns emotional verletzter und verlorener, als es Menschen jemals zuvor waren. Da wir immer getriebener sind und unter Zwängen leiden, vermögen wir keinen wirklichen Frieden zu finden. Ständige Geschäftigkeit in der Tretmühle des Leitsatzes »es ist nie genug« stresst und erschöpft uns. Wir haben unbewusst Angst davor innezuhalten oder unverplante Zeit zu haben, damit die Gefühle, vor denen wir fliehen, uns nicht erreichen und in unser Bewusstsein dringen.