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Einige der schönsten Dinge des Lebens – Sex, Essen, Sport, Gespräche, Lernen und Arbeiten – verlieren ihre Qualität, weil unser rasendes Tempo es unmöglich macht, sie zu genießen. Selten nehmen wir uns genügend Zeit, um diese Aktivitäten in ihrer ganzen Fülle zu genießen.
Wie traurig ist es, dass wir unseren Frieden opfern, weil wir noch nicht zur Ruhe gekommen sind, um die unverdauten Emotionen, die uns antreiben, zu fühlen, zu erleben und zu verarbeiten, die als Angst in unseren Bäuchen rumoren, die unsere Gedanken als ständige Sorge »vergiften«, die uns rennen lassen, als ob wir die ganze Zeit beim Ausbruch aus unserem eigenen Gefängnis feststecken würden!
Wir können das geistlose Rennen stoppen. Erfahrungen von Frieden und Zufriedenheit liegen unter unseren unverdauten Gefühlen. Wir können lernen, alle unsere Emotionen gefahrlos zu fühlen und auszudrücken und den tiefen Trost erleben, wenn wir unseren Körper ungestört und ganzheitlich bewohnen. Wir können uns wieder von »menschlich Handelnden«, einem von Johannes Bradshaw geprägten Begriff, zurück zu »menschlich Seienden« verwandeln.
Die Anthropologen Eli und Beth Halpern erinnern uns daran, dass Friedlichkeit eine natürliche Eigenschaft des Menschen ist. Sie berichten: Auf Mikronesisch gibt es das Wort kukaro, das kein entsprechendes Wort im Englischen hat. Wenn Leute sagen, sie werden kukaro, meinen sie, dass sie sich entspannen, herumsitzen, abhängen wollen. Sie wollen sein, sie wollen nichts tun.
Viele von uns können sich nicht an das letzte Mal erinnern, als sie unproduktiv waren bzw. nicht getrieben waren, produktiv zu sein. Viele haben vergessen, wie sehr wir uns früher durch solche alltäglichen Wunder wie das Bestaunen eines Spinnennetzes, das Entdecken einer Tierform in den Wolken oder das Erforschen der zarten Komplexität der Stempel und Staubgefäße einer Blume bezaubern lassen konnten.
Es ist an der Zeit, die emotionale Vitalität des Kindes in uns wiederzuentdecken. Unser inneres Kind vermag in einfachen Vergnügungen dauerhafte Befriedigung finden, weil es diese nicht dazu nutzt, einem inneren Gefühlschaos zu entfliehen. Vielleicht motiviert Sie die Vision des emotional vitalen Dichters Walt Whitman, sich wieder mit der Begeisterungsfähigkeit Ihres verlassenen inneren Kindes zu verbinden:
Ich glaube, ein Grashalm ist nicht geringer als die Flugbahn der Sterne,
Und Brombeerranken könnten die Vorhallen des Himmels schmücken,
Und eine Maus ist Wunder genug, um Trilliarden von Ungläubigen
Ins Wanken zu bringen …
Und ich oder du, ohne einen einzigen Cent in der Tasche, können das Kostbarste der Erde erwerben
Und einen Blick aus den Augen zu tun oder eine Bohne in ihrer Hülse zu zeigen bringt die Gelehrsamkeit aller Zeiten durcheinander …
Viele von uns schrecken vor der Idee zurück, ihre Gefühle willkommen zu heißen, weil sie selten gesunde Gefühlsäußerungen erlebt haben. Der kleine Prozentsatz an Menschen, der in unserer Kultur Gefühle zeigt, tut dies oft auf abstoßende Weise, und viele, die »unter Drogeneinfluss« stehen, sind in ihrer ungezügelten Emotionalität mitleiderregend oder verletzend.
Es gibt auch eine kleine, unübersehbare Gruppe in unserer Bevölkerung, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet. Betroffene drücken ihre Emotionen in der Regel strafend und aufbrausend aus. Sie wüten und schluchzen krampfhaft ohne Vorbereitung, oft in einer Weise, die uns das Gefühl gibt, kontrolliert und manipuliert zu werden. Ihre extremen emotionalen Verhaltensweisen überzeugen uns ebenfalls davon, dass wir gut daran tun, unsere Gefühle zu verbergen.
Es gibt einen dritten Typus von Menschen, der Gefühle ins schlechte Licht rückt, indem er hartnäckig an ihnen festhält, bis sie zu verbitterten Haltungen werden. Menschen, die sich ständig hinter Reizbarkeit oder Selbstmitleid verschanzen, lassen uns davon Abstand nehmen, Ärger, Traurigkeit oder was auch immer zu fühlen oder zu zeigen.
Wir müssen uns nicht durch den unverantwortlichen Gefühlsausdruck anderer Menschen von unseren Gefühlen entfremden lassen. Ich glaube zwar, dass wir keine große Wahl haben, was wir fühlen, aber ich weiß, dass wir viele Möglichkeiten haben, wie wir auf unsere Gefühle reagieren können. Das Tao der Gefühle beschreibt den Mittelweg zwischen emotionaler Explosivität und emotionaler Kälte – zwischen schädlicher Launenhaftigkeit und ausgetrockneter »Gefühllosigkeit«. Dieses Buch bietet pragmatische Ansätze für einen nicht-destruktiven Umgang mit schmerzhaften und potenziell störenden Gefühlen.
Wir können lernen, auf gute Weise emotional zu sein. Wir können unsere Emotionen zulassen, ohne an ihnen festzuhalten. Wir können unsere Gefühle mildern und uns in unseren Gefühlen entspannen, ohne sie zu verbannen oder zu zementieren. Wir können unsere Gefühle gehen lassen, wenn sie ihre Funktion voll erfüllt haben.
Es gibt auch Zeiten, in denen es erforderlich ist, Gefühle zu sublimieren oder zu unterdrücken. Sublimierung ist die bewusste Entscheidung, emotionale Energie in andere Formen des produktiven Selbstausdrucks zu transformieren und umzulenken, wie z.B. in Sport oder Tanz. Unterdrückung ist die bewusste Entscheidung, unter nicht passenden Umständen auf emotionalen Ausdruck zu verzichten. Selten nützt es etwas, den Chef anzuschreien oder vor unsensiblen Menschen zu weinen. In solchen Situationen können wir das »Ausleben« unserer Emotionen verschieben, bis wir uns in einem sichereren Umfeld befinden.
Automatische Unterdrückung ist nicht die einzige schlechte Wahl, die wir in Bezug auf unsere Gefühle treffen. Eine schädliche Option, die die meisten von uns ständig wählen, ist auch das Festhalten an einem positiven Gefühl, das wir nicht mehr wirklich empfinden. Wenn wir das tun, ersetzen wir die Authentizität eines Gefühls durch eine leere, leblose Vorstellung davon.
Wenn wir uns dazu zwingen, Gefühle des Glücks oder der Liebe zu zeigen, die wir nicht wirklich empfinden, wirken wir künstlich und betrügerisch wie Plastikblumen oder billiges Parfüm. Gezwungenes Lachen und ein angestrengtes Lächeln erwecken ebenso viel Vertrauen wie unehrliche Politiker und »aalglatte« Gebrauchtwagenverkäufer.
Ohne das ganze Spektrum an Emotionen sind wir keine ganzen Menschen. Wir sind vielmehr wie der Künstler, dessen Palette nur Platz für helle und fröhliche Farben hat. Unser Selbstausdruck ist langweilig und oberflächlich wie die Bilder vom Discounter, die mit ihren faden, zarten Pastelltönen in ästhetischer Hinsicht wenig überzeugend sind.
Die »negativen« Emotionen bringen dunkle Farben auf die Palette des Künstlers. Sie eröffnen eine unendliche Auswahl an Farben, Schattierungen und Nuancen. Ohne Schwarz auf der Palette gibt es keine satten Farben, keine Tiefen, keine Kontraste, keine Feinheiten. Ohne dunkle Farben ist es unmöglich, die unendlich vielfältigen Themen und Landschaften des Lebens einzufangen.
Ohne unsere dunkleren Emotionen gibt es wenig Tiefe und Dimensionalität in unserer Beziehung zu anderen. Wir haben keinen Zugang zu den vielen Wegen und Feinheiten der Kommunikation, die Freundschaften reich und dauerhaft interessant machen. Wenn wir nur Freunde sein können, solange wir glücklich und »gut drauf« sind, dann sind unsere Freundschaften schmerzlich oberflächlich.
Tiefe Einsamkeit ist der schreckliche Preis, den wir zahlen, wenn wir unsere Beziehungen zu anderen Menschen nur unter dem Deckmantel des Wohlbefindens führen. Diejenigen, die nur in guten Zeiten für andere da sind, sind Schönwetterfreunde, denen Loyalität und Vertrauen fremd sind.
Die meisten Menschen mögen sich selbst, wenn sie Liebe, Glück oder Gelassenheit empfinden, doch die Person, die sich in Zeiten emotionalen Schmerzes mit sich selbst anfreundet, besitzt ein stabileres und authentischeres Selbstwertgefühl.
Wenn wir lernen, unsere Gefühle unmittelbar wahrzunehmen, entdecken wir schließlich, dass die Hingabe an die Gefühle die bei Weitem effizienteste – und auf lange Sicht am wenigsten schmerzhafte – Art und Weise ist, auf sie zu reagieren. Wir wissen selbst, dass das Leben nicht schmerzfrei sein muss, um es voll genießen zu können. Wir entdecken, dass neue Erfahrungen von Verlust und Schmerz unser Bewusstsein nicht dominieren oder unsere Begeisterung für das Leben vernichten.
Wenn wir lernen, uns mit unseren Gefühlen anzufreunden, leiden wir immer weniger unter selbstschädigenden Gefühlsfluchten. Wir akzeptieren anstandslos die Realität, dass sich unsere emotionale Natur, wie das Wetter, oft unvorhersehbar ändert, mit einer Vielzahl von angenehmen und unangenehmen Eigenschaften. Wir sind uns bewusst, dass wir genauso wenig ein positives Gefühl dazu bringen können, ewig anzudauern, wie die Sonne gezwungen werden kann, ständig zu scheinen.
Wenn wir uns unseren Gefühlen hingeben und ihnen nachgeben, verbinden wir uns wieder mit den unschätzbaren Instinkten und der Intuition, die wir von Natur aus tragen. Manchmal entdecken wir das Wunder aller sogenannten negativen Emotionen. Ich erlebe, wie andere, die ihre Emotionalität wiedererlangt haben, viele wunderbare Erfahrungen machen, bei denen Traurigkeit zu Trost wird, Wut sich zu Lachen entfaltet, Angst in Aufregung umschlägt, Eifersucht zu Wertschätzung wird und Schuld Vergebung ermöglicht.
Wie Schuldzuweisungen zur Vergebung führen
Denn es ist wahr, oder nicht wahr, dass in unserer Welt
die mit Nektar gefüllten Blütenblätter
und die polierten Dornen ein und dasselbe sind,
dass selbst das reinste Licht
ohne das Gewand der Dunkelheit
ohne Wirkung wäre.
— Mary Oliver
Für die meisten Menschen ist Vergebung ein Prozess. Wenn man tief verwundet wurde, kann der Prozess der Vergebung Jahre dauern. Er wird viele Phasen durchlaufen – Trauer, Wut, Kummer, Angst und Verwirrung …
— Jack Kornfield, Frag den Buddha – und geh den Weg des Herzens
Zurzeit höre ich von vielen gefährlichen und unzutreffenden »Anleitungen« zum Umgang mit Vergebung – insbesondere bezüglich der Vergebung gegenüber Eltern, die missbräuchlich oder vernachlässigend waren. »Du musst dich nur dafür entscheiden zu vergeben« ist ein üblicher Refrain in vielen Genesungs- und New-Age-Kreisen.
Dieser grob vereinfachende Ratschlag zur Vergebung scheint so zweifelsfrei, dass viele Überlebende ihn bedingungslos akzeptieren. Viele entscheiden sich dafür, fühlen sich aber insgeheim furchtbar, weil sie nie wirklich das Gefühl von Vergebung hatten. Andere sind wirklich davon überzeugt, dass sie verzeihen, aber sie fühlen nie die emotionale Qualität ihrer Vergebung.
Das blinde Befolgen des Ratschlags, sich einfach für Vergebung zu entscheiden, schafft die Voraussetzung für eine falsche Vergebung. Sie ist in psychischer Hinsicht wie eine dünne Eisschicht, die unser darunterliegendes Reservoir an wütenden und verletzten Gefühlen aus der Kindheit verdeckt. Leider kann diese zerbrechliche mentale Konstruktion eine emotional tiefe und wirklich intime Beziehung zu unseren Eltern nicht fördern.
Wirkliche Vergebung ist aus der westlichen Kultur so gut wie verschwunden. An ihre Stelle ist ein unauthentisches Ideal der Vergebung getreten, das uns unseren Schmerz vergessen lässt.
Bei denjenigen von uns, die in der Kindheit gravierend verletzt wurden, entstehen selten verzeihende Gefühle gegenüber ihren Eltern, bevor sie nicht durch Trauern ihr Schmerzreservoir geleert haben. Da wirkliche Vergebung, wie wir sehen werden, mit der Vergebung unserer selbst beginnt, hoffe ich, dass dieses Buch Ihnen helfen wird zu verstehen, warum es unfair ist, sich selbst die Schuld dafür zu geben, dass man sich nicht »einfach nur für Vergebung entscheidet«.
Trauer geht der Erlösung voraus
Der Tod ist nicht die Tragödie, sondern die Millionen Male, die wir unsere Herzen betäuben und verschließen, weil die Erfahrung nicht das widerspiegelt, was wir bereit sind zu akzeptieren.
— Stephen Levine, Who Dies
Die Zeit mag alle Wunden heilen oder auch nicht. Es hängt davon ab, wie wir die Zeit nutzen. Wenn wir unsere Trauer verleugnen, vor ihr weglaufen oder hoffen, dass sie von selbst verschwindet, werden wir unglücklich sein. Aber wenn wir uns ihr stellen und unsere Trauer auf gesunde Weise zum Ausdruck bringen, werden wir durch die Trauer selbst verwandelt.
— Hazelden Meditations
Sich zu entscheiden, einfach zu vergeben, ist oft der unbewusste Versuch, unsere Trauer und Wut über die Kindheit in der Vergangenheit begraben zu lassen. Paradoxerweise begräbt diese Entscheidung auch unsere Gefühle echter Vergebung sowie unsere Fähigkeit, vollständig zu fühlen.
Wenn wir unsere gesamte emotionale Natur zutagefördern, müssen wir uns zunächst durch Schichten alter emotionaler Schmerzen wühlen, die sie bedecken. Bei dieser Ausgrabung werden in der Regel die Leichname vieler Kindheitsverluste ans Licht kommen – der Verlust wesentlicher Aspekte unserer selbst –, die wir damals nicht betrauern durften. Wenn wir jetzt trauern, entdecken wir unsere phönixartige Fähigkeit, aus diesen Verlusten vollständig wiedergeboren zu werden.
Trauern ist in unserer Kultur leider weitgehend verboten. Die Psychotherapeuten Jordan und Margaret Paul erläutern, warum wir uns dagegen wehren zu trauern und uns mit unseren schmerzhaften Gefühlen zu »beschmutzen«:
Unsere Schwierigkeiten im konstruktiven Umgang mit Schmerzen beginnen bereits in der Kindheit. Die Bemühungen der Eltern, ihre Kinder vor jeder harten Realität zu schützen – Konflikte in der Familie, der Tod eines Haustiers – berauben sie der Übung im Umgang mit Schmerzen. Wenn Eltern keinen offenen Ausdruck von Schmerz zulassen, egal ob es sich um einen kleinen (wie eine Enttäuschung oder einen Misserfolg) oder großen (wie den Verlust eines Großelternteils) handelt, lernen die Kinder nie, dass sie Schmerz erfahren, tief betroffen sein und trotzdem überleben können. Auf diese Weise lernen wir, wie wir sein müssen oder scheinbar sein sollen, nämlich unberührt.
Trauern ist in unserer Kultur so tabuisiert, dass die meisten von uns nicht einmal bei den Beerdigungen derer weinen können, die sie am meisten lieben. Die wenigen, die es wagen, aktiv zu trauern, werden ermutigt, schnell »darüber hinwegzukommen«, nicht mehr an ihre Lieben zu denken (zu fühlen!), Fotos von den Verstorbenen wegzulegen und vor allem, sich zu beschäftigen. In Loss And Change, der Studie von Peter Marris über den angelsächsischen Zugang zur Trauer, geht er näher darauf ein:
Sich der Trauer hinzugeben wird als krankhaft, ungesund, demoralisierend … stigmatisiert. Die Ablenkung eines Trauernden von seiner Trauer wird als richtiges Verhalten eines Freundes oder Wohlmeinenden angesehen … Trauer wird als Schwäche, Selbstgefälligkeit, verwerfliche schlechte Angewohnheit behandelt, statt als eine psychologische Notwendigkeit.
Wenn wir nicht um den Tod trauern dürfen, wie viel mehr zögern wir dann, andere bedeutende Verluste zu betrauern? Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr wäre ich nie auf die Idee gekommen, den Verlust eines Arbeitsplatzes oder das Ende einer Beziehung zu betrauern. Bis vor Kurzem trauerte fast niemand um einen der größten Verluste – den Verlust des Wohlwollens der Eltern in der Kindheit. Kein Wunder, dass so viele von uns eine ungeheure Last an ungelöster Trauer mit sich herumtragen.
Wie unnötig wir darunter leiden, dass uns die einzigartige heilende Erleichterung vorenthalten wird, die nur durch Trauer möglich ist! Trauer befreit uns wie nichts anderes aus den Fängen der Anspannung und Ablenkung. Wir können uns von ungesunden Bindungen an alte Familienregeln befreien, die es uns nicht erlauben, den Schmerz unserer Kindheit anzuerkennen. Wir müssen unsere Vitalität nicht mehr verschwenden, indem wir unsere Erinnerungen einsperren und aufpassen, dass uns unser Schmerz nicht entwischt.
Viele von uns sind wie Tiere, die so lange eingepfercht waren, dass sie nicht gemerkt haben, dass das Erwachsenenalter uns das Tor zu einem weiten Feld der Freiheit und Möglichkeiten geöffnet hat. Trauern befreit uns aus der Gefangenschaft in einem winzigen Teil unseres Selbst und gibt uns die Freiheit, zu den selbstbewussten, lebensbejahenden Erwachsenen heranzuwachsen, auf die man uns hätte vorbereiten sollen. Ich hoffe, dass dieses Buch Ihre angeborene Fähigkeit freisetzt, Ihren Trauerprozess mit Stolz anzunehmen, und dass Sie anschließend mit den Gaben der Trauer belohnt werden, die in Kapitel 4 näher erläutert werden.
Wie kann ich dir verzeihen, wenn du keine Schuld hast?
Warum möchte mein Papa, dass ich ihm verzeihe, obwohl er mich nicht verletzt hat?
— Maria, eine elfjährige Klientin
Echte Vergebung findet sich am häufigsten im ruhigen Zentrum des Orkans der Anschuldigungen. Dieses Paradoxon ist Teil einer größeren Ironie, die die menschliche Fähigkeit, sich »gut« zu fühlen, untrennbar mit der Notwendigkeit verbindet, sich manchmal »schlecht« zu fühlen.
Wer nie traurig ist, weiß nicht, was Freude ist. Wer nie wütend ist, empfindet selten echte Liebe. Wer ständig vor seiner Angst davonläuft, entdeckt nie seinen Mut. Und wer sich weigert, Anschuldigungen zu erheben, wird niemals wirklich Vergebung empfinden. Ken Wilber, ein moderner Weiser der transpersonalen Psychologie, stellt fest:
Wenn wir versuchen, die Gegensätze zu trennen und an denen festzuhalten, die wir positiv beurteilen, wie Vergnügen ohne Schmerz, Leben ohne Tod … streben wir tatsächlich nach Phantomen ohne die geringste Realität. Wir können genauso gut nach einer Welt von Gipfeln ohne Täler, Käufern ohne Verkäufer, Linken ohne Rechte sowie Innen ohne Außen streben.
Als Gegenteil von Vergebung wird die Anschuldigung in spirituellen und therapeutischen Kreisen weitgehend »pathologisiert«. Die meisten Experten zum Thema Vergebung scheinen die Unterschiede zwischen gesunder und dysfunktionaler Schuldzuweisung zu übersehen.
Wenn wir die Schuldzuweisung leichthin aus unserem Bewusstsein verbannen, entdecken wir nie ihren enormen Wert als Instinkt. Schuldzuweisungen sind wichtige Voraussetzungen, um Nein sagen zu können, Grenzen zu setzen, gegen Ungerechtigkeit zu protestieren und unsere Grenzen zu verteidigen. Wir werden uns nie sicher fühlen, wenn wir keine Vorwürfe erheben wie »Hör auf, du tust mir weh!«, »Beschimpf mich nicht« und »Nein, das kannst du nicht mitnehmen – es gehört mir!« Solche reflexartigen Vorwürfe sind ein wesentlicher Beitrag der Gefühlsnatur zum Instinkt des Selbstschutzes.
Dysfunktionale Eltern unterdrücken gewöhnlich den Instinkt ihrer Kinder, unfaire Elternpraktiken – und damit auch alles schlechte Verhalten – zu kritisieren, sobald es auftaucht. In unserer Kultur erleben Kinder, die ihre Eltern infrage stellen, die extremsten Konsequenzen. Die meisten Notaufnahmen von Krankenhäusern haben täglich mit der Gewalt zu tun, die Eltern an Kindern verüben, die Nein sagen oder widersprechen.
Selbst Eltern, die behaupten, grundsätzlich gegen körperliche Bestrafung zu sein, reagieren manchmal reflexartig auf das Nein ihres Kleinkindes, indem sie es am Arm packen, es in die Luft reißen oder ihm mit voller Wucht auf den Po schlagen. Können Sie sich vorstellen, wie Sie sich fühlen würden, wenn plötzlich jemand, der dreimal so groß ist wie Sie, neben Ihnen auftauchen und Sie so grob behandeln würde?
Viele von uns haben auch Angst, Kritik zu äußern, weil man sich von ihnen in der Kindheit auf traumatische Weise abgewendet hat, wenn sie die elterliche Ungerechtigkeit infrage gestellt haben. Viele von uns haben die typische Strafmaßnahme erlitten, von einem vor Wut schäumenden Elternteil aus der Tür gestoßen zu werden (manchmal mit einem gepackten Koffer), begleitet von den Worten: »Geh mir aus den Augen! Wenn es dir hier bei uns nicht gefällt, dann such dir einen anderen Platz zum Leben!«
Wenn es Kindern nicht erlaubt ist, das schlechte Verhalten ihrer Eltern zu kritisieren, wenden sie sich in der Regel gegen andere und / oder gegen sich selbst. Wenn wir unsere Vorwürfe nicht an der richtigen Stelle loswerden, werden wir oft unbewusst dazu gezwungen, jemand anderen zu kritisieren und zu verletzen. Dr. George R. Bach und Dr. Herb Goldberg beschreiben die Folgen:
Viele der bekannten Formen von verdrängter Aggression – wie das Sündenbock-Syndrom, Schikanierung, Vorurteile und Grausamkeit – sind Nebenprodukte aggressiver Gefühle, die zuerst innerhalb der Familie gefühlt, aber unterdrückt wurden. Jemand anderem Schmerzen zuzufügen beweist zumindest, dass ich auf jemanden schädigend einwirken kann. Wenn ich schon niemanden mögen oder berühren kann, dann kann ich durch emotionale Schmerzen zumindest ein gewisses Leid erregen. So kann ich wenigstens dafür sorgen, dass wir beide etwas fühlen …
Das Sündenbock-Syndrom ist eine Form deplatzierter Schuldzuweisungen. Wilhelm Reich beschreibt in Die Massenpsychologie des Faschismus brillant die Folgen fehlgeleiteter Schuldzuweisungen.
Es gibt viele faschistische Subkulturen in unserer Gesellschaft. Fast jede Minderheitengruppe (einschließlich Kinder) leidet unter grausamen Akten des Sündenbock-Syndroms und unter Vorurteilen. Reich weist darauf hin, dass die Subkulturen in dem Maße faschistisch sind, wie sie eine absolute, bedingungslose Ehrung ihrer Führer erfordern. Ähnlich sind Familien in dem Maße faschistisch, wie die Eltern autokratisch sind. Eltern, die nicht gegen das Fehlverhalten ihrer Führer protestieren können, machen ihre Kinder häufig zum Sündenbock, und Kinder, die ihre Eltern nicht beschuldigen können, verlagern ihre Wut auf die gesellschaftlich anerkannten Zielscheiben ihrer Subkultur.
Ob wir nun unsere Schuldzuweisungen durch das Sündenbock-Syndrom unbewusst ausleben oder nicht, so geben sich doch die meisten von uns zu Unrecht selbst die Schuld für die Defizite, an denen sie wegen ihrer schlechten Erziehung leiden. Wir machen uns selbst zum Sündenbock, anstatt in Erwägung zu ziehen, dass unsere Eltern uns vielleicht gravierend verletzt haben, zumal das Klagen über schlechte Erziehung eines der letzten Tabus unserer Kultur ist.
Der renommierte Psychologe Erik Eriksen weist darauf hin, dass Schuldgefühle zu Scham werden, wenn sie sich gegen das Selbst richten, und viele von uns leiden unter unendlichen Schüben von toxischer Scham, weil unsere nach innen gekehrten Anschuldigungen permanent Selbsthass erzeugen.
Solange wir nicht verstehen, in welchem Ausmaß unser gegenwärtiger Schmerz auf ungeklärte Verluste in der Kindheit zurückzuführen ist, sind wir anfällig dafür, die falsche(n) Person(en) für unsere Probleme verantwortlich zu machen. Kapitel 7 ist ein Ansatz für Schuldzuweisungen, der die Notwendigkeit eines Sündenbocks und der Hexenjagd überflüssig macht und es uns erlaubt, unsere Schuldzuweisungen auf eine Weise zu fühlen und auszudrücken, die uns, unsere Eltern oder Unbeteiligte nicht verletzt.
Wenn Sie einschätzen möchten, ob Sie durch Ihre eigenen Schuldzuweisungen vergiftet wurden, schließen Sie Ihre Augen und nehmen Sie Ihre innere Erfahrung wahr, während Sie versuchen, sich daran zu erinnern, wie Sie Ihre Eltern herausgefordert haben. Vielleicht erinnern Sie sich nicht daran, dass Sie sich ihnen widersetzt haben. Vielleicht hat Ihre ganze »Demütigung« zu einem frühen Zeitpunkt stattgefunden, an den Sie sich überhaupt nicht erinnern können. Trotzdem sind Sie vielleicht im Inneren immer noch verspannt, fühlen sich schuldig oder tadeln sich sogar bei dem Gedanken oder der Vorstellung, Ihre Eltern wegen irgendetwas infrage gestellt zu haben.
Oder vielleicht erinnern Sie sich an Traumata, die sich ereignet haben, als Sie mit Ihren Eltern nicht übereinstimmten. Wenn Sie bei dieser Übung Verlust oder Kummer empfinden, hoffe ich, dass es Sie dazu motiviert, Ihr Verhältnis zu Anschuldigungen gründlicher zu untersuchen.
Vergeben, aber nicht vergessen
Vergebung rechtfertigt oder duldet in keiner Weise schädliche Handlungen. Während Sie verzeihen, können Sie auch sagen: »Nie wieder werde ich dies wissentlich zulassen.«