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„Vermutlich bin ich selbst schuld, weil ich ihm immer alles abnehme“, sagt Daniela selbstkritisch. „Außerdem bin ich froh, dass er das Geld nach Hause bringt. Von der Landwirtschaft allein könnten wir nicht leben.“
Inge nickt. „Da hast du natürlich recht“, gibt sie zu. „Trotzdem solltest du ein bisschen auf dich aufpassen. Lass dir nicht zu viel gefallen! Er wird es dir nicht danken.“
Daniela lächelt müde. „Ich weiß“, sagt sie. Doch dann ändert sich ihr Blick und in ihre eben noch müden Augen tritt ein warmer Glanz.
Inge bemerkt es wohl. „Du liebst ihn“, stellt sie fest, und es klingt fast ein wenig mitleidig.
Daniela nickt schuldbewusst.
Inge seufzt. „Ich habe Alfons auch geliebt.“
Überrascht wendet Daniela den Kopf. „Habe geliebt?“, fragt sie zweifelnd.
Inge zieht die Augenbrauen hoch und denkt nach. „Nein, vermutlich hast du recht. Ich liebe ihn immer noch. Sonst würde ich das Ganze“, sie nickt in Richtung des Wohnhauses, „gar nicht aushalten.“ Nach einer Pause fährt sie fort. „Aber es ist nicht mehr dasselbe“, murmelt sie.
„Weil er nicht mehr derselbe ist?“, will Daniela wissen. Sie betrachtet ihre Schwiegermutter, die reglos in ihrem weißen Plastikstuhl sitzt, voller Mitgefühl, während die über ihre Frage nachzudenken scheint.
Inge schüttelt schließlich den Kopf. „Nein, das war schon früher so. Vor seiner Krankheit“, gibt sie zu.
Erstaunt zieht Daniela die Augenbrauen empor. Inge bemerkt ihren fragenden Blick. Ein grimmig-süffisantes Lächeln malt sich auf ihrem Gesicht. „Er ist fremdgegangen“, klärt sie ihre Schwiegertochter auf.
Vor Schreck verschluckt sich Daniela und muss husten. Als sie sich wieder gefangen hat, fragt sie: „Bist du dir sicher?“
Inge grinst und es wirkt erneut beinahe mitleidig, als sie antwortet: „Ja, das bin ich wohl. Ich habe die beiden erwischt, als es gerade ordentlich zur Sache ging.“ Sie schüttelt den Kopf. „Da gab es nichts mehr abzustreiten“, murmelt sie. Ihr Blick wirkt plötzlich abwesend, als würde sie die betreffende Szene noch einmal vor ihrem geistigen Auge an sich vorüberziehen lassen.
Daniela schweigt betroffen. „Du bist bei ihm geblieben“, stellt sie nach einer Weile fest. Ihre Frage, die bei dieser Feststellung mitschwingt, ist deutlich herauszuhören: Warum hast du ihn nicht verlassen?
Inge versteht, was Daniela wissen will. „Wir waren schon nicht mehr ganz jung, als ich dahinter kam“, antwortet sie. Dann denkt sie nach und ergänzt: „Beziehungsweise, als ich die Augen nicht mehr davor verschließen konnte, dass er mich hintergeht, weil ich die beiden im Kuhstall erwischt habe.“
Daniela ist schockiert. „Wer war sie?“, will sie wissen.
Ihre Schwiegermutter schüttelt abwehrend den Kopf. „Ist nicht so wichtig“, erklärt sie. „Sie war nicht die Erste und nicht die Einzige.“
Danielas Kinnlade sinkt herab. Sie kann nicht glauben, was sie da hört. Beinahe zwanzig Jahre ist sie schon mit Erik zusammen und seit jener Zeit geht sie auch im Haus seiner Eltern ein und aus. Doch in all der Zeit ist ihr niemals aufgefallen, dass etwas in dieser Richtung in der Ehe von Alfons und Inge nicht stimmen könnte. Erik selbst hat nie etwas darüber erzählt.
„Weiß euer Sohn davon?“, fragt sie atemlos.
Inge bricht in schallendes Gelächter aus. Daniela schaut sie verständnislos an, bis ihre Schwiegermutter sich wieder im Griff hat und nur noch vor sich hingniggert. „Klar weiß er davon“, antwortet sie und schließt mit einem „Hihihi“.
Schockiert lehnt sich Daniela in ihrem Stuhl zurück und lässt das Gehörte auf sich wirken. Sie weiß längst, dass sie in solchen Dingen recht naiv ist und es immer als Letzte mitbekommt, wenn irgendwo in ihrem Bekanntenkreis die Karten in Beziehungsangelegenheiten neu gemischt werden. Aber dass sie nicht einmal etwas davon merkt, wenn so etwas in ihrer eigenen Familie geschieht, ist neu für sie. Und erschreckend!
Während sie noch dabei ist, diese Erkenntnis zu verdauen, fährt Inge fort: „Deshalb sag‘ ich ja: Lass dir nicht so viel gefallen! Er wird es dir nicht danken.“ Plötzlich scheint ein Gedanke durch ihren Kopf zu wandern, der sie erheitert. Sie grinst spitzbübisch und lehnt sich vertraulich zu ihrer Schwiegertochter hinüber. „Wenn dir mal alles zu viel wird, kann ich dir nur raten, dir auch ein Verhältnis zuzulegen“, raunt sie.
Belustigt schaut Daniela sie an. „Du hast geraucht“, entgegnet sie gespielt missbilligend.
Inge lacht. „Das auch“, gibt sie zu. „Aber im Ernst: Warum sollen sich Frauen jeden Spaß verkneifen? Ihre Männer tun es doch auch nicht. Und manchmal ist ein kleiner Seitensprung vielleicht das Vernünftigste, was man tun kann, anstatt gleich die ganze Ehe zu zerstören. Du weißt genauso gut wie ich, dass da viel mehr dran hängt als nur Sex und Liebe.“ Inge seufzt.
Daniela wirft ihr einen mitfühlenden Blick zu. Gleichzeitig weiß sie, dass das, was ihre Schwiegermutter andeutet, für sie selbst keine Option wäre. Mit einem Mann zusammenzuleben, der sie hintergeht? Unmöglich. Ihn selbst zu betrügen? Völlig undenkbar!
„Es tut mir leid“, sagt Daniela zu Inge, ohne auf deren Rat einzugehen. Gleichzeitig spürt sie, wie erleichtert sie darüber ist, dass es hier um das Schicksal ihrer Schwiegermutter geht und nicht um ihr eigenes.
Miriam
Miriam schließt das niedrige Gartentor hinter sich, während ihre beiden Hunde, ein kurzhaariger Chihuahua und ein kaum größerer Kleinspitz, dessen rassespezifisches langes Fell seltsam unregelmäßig geschoren ist, um ihre Beine herum Fangen spielen und sich gegenseitig ankläffen.
„Zeus! Apollo! Wollt ihr euch wohl benehmen!“, herrscht Miriam die beiden an. Mit einem kräftigen Ruck, der den Hunden beinahe den Boden unter den Füßen entzieht, strafft sie die Leinen und bringt ihre Kläffer damit zum Schweigen. Kurzzeitig.
„Brav, meine Schatzis“, säuselt sie sanft, was der Chihuahua sogleich zum Anlass nimmt, mit dem Kläffen fortzufahren. Miriam beugt sich ganz tief zu ihm hinunter, bis ihre Nasenspitze fast die seine erreicht, und bedenkt ihn mit einem finsteren Blick. Sofort verstummt das Tier. Anschließend richtet sich Miriam wieder auf, schüttelt ihr glänzendes rotes Haar, setzt ein selbstzufriedenes Lächeln auf und stolziert in ihrem langen roten, eng taillierten Wollmantel mit dem schwarzen Kunstpelzkragen im Vintage-Style und auf ihren pechschwarzen Wildlederstiefeln mit Pfennigabsätzen die ruhige Wohnstraße des idyllisch gelegenen Gifhorner Stadtteils Winkel entlang.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stutzt ein Ehepaar, beide in den Siebzigern, eine hohe Buchenhecke, die ihr Grundstück zur Straße hin vor neugierigen Blicken schützt. Der Mann, ein ehemaliger Betriebsratsvorsitzender mit zerzaustem grauen, schütteren Haar, bekleidet mit einer zerschlissenen alten Barbour-Jacke, einem dicken grauen Schal und einer ausgeleierten Cordhose, lässt unwillkürlich die elektrische Heckenschere in seiner Hand sinken und starrt Miriam mit offenem Mund hinterher. Seine Frau, eine ehemalige Lehrerin, die mit einer dicken dunkelblauen Weste und einer beigefarbenen Stoffhose bekleidet ist, harkt den Heckenschnitt zusammen. Als sie bemerkt, wie die laufende Schere dem Bein ihres Mannes gefährlich nahe kommt, macht sie ihn zischend darauf aufmerksam. Dann folgt ihr Blick dem ihres Gatten. Miriam grüßt die beiden mit einem vornehm verkniffenen Lächeln. Die Frau beantwortet Miriams Gruß mit einem kurzen Nicken. Ein scheeler Seitenblick auf ihren Mann zeigt ihr, dass er sich immer noch nicht wieder vollständig in der Gewalt hat. Sie schüttelt den Kopf und seufzt missbilligend, sagt jedoch nichts. Auf einmal fängt sich ihr Gatte wieder. Er klappt seinen Unterkiefer hoch und grüßt Miriam ebenfalls, als die sich schon längst abgewendet hat, um ihren Weg fortzusetzen. Ihre beiden Köter, die erneut aneinandergeraten sind und sich gegenseitig angiften, schleift sie hinter sich her.
„Wann erschießt sie die Biester endlich?“, murmelt die Frau, während sie sich bückt, um die zusammengerechten Zweige aufzuheben und in den PopUp-Gartensack zu stopfen.
Ihr Mann kann seinen Blick noch immer nicht von Miriam lösen. Er sieht ihr nach, während sie mit federleichtem Schritt und wiegendem Gang die Straße hinabschwebt. „Als ich letzte Woche die Schrotflinte aus dem Schrank geholt habe, weil die Biester wieder einmal kein Ende fanden mit ihrer Kläfferei, hast du mich genau davon abgehalten“, erwidert er vorwurfsvoll.
Seine Frau sieht auf und stellt fest, dass ihr Gatte immer noch der schönen Nachbarin hinterherstarrt. Mit rollenden Augen fährt sie fort, abgeschnittene Zweige in den Korb zu stopfen. „Du weißt, wie die Leute heutzutage sind. Vermutlich hätte sie die Polizei gerufen und dich angezeigt. Diese Scherereien sind die Viecher nicht wert. Außerdem hätten mir die Kinder leidgetan.“
Endlich gelingt es ihrem Mann, seinen Blick von Miriam zu lösen und sich seiner Frau zuzuwenden. Erstaunt blickt er sie an. „Wieso das?“, fragt er.
Seine Gattin richtet sich stöhnend auf und massiert sich das Kreuz. „Die Zwillinge hängen an den Biestern. Gott allein weiß, warum. Vielleicht, weil sie auf diese Weise wenigstens ein bisschen Nestwärme zu spüren bekommen, wenn sie mit den Drecksviechern herumtoben und kuscheln können. Auf so eine Idee würden ihre Eltern ja nicht kommen.“
Ihr Gatte schnaubt verächtlich. „Pah! Das wüsste ich aber, wenn den beiden Gören etwas an den Kötern läge! Das Mädchen hat letztens versucht, die nackige Teppichratte im Vogelhäuschen einzusperren und der Junge hat dem Spitz Harz ins Fell geschmiert, um ihn anzuzünden. Der Vater ist im letzten Moment dazwischen gegangen.“
Die Frau nickt vielsagend mit dem Kopf. „Da siehst du es! Die Kinder betteln um Aufmerksamkeit. Was erwartest du, wenn sie in einem Elternhaus aufwachsen, wo sich niemand wirklich für sie interessiert?“
„Um Aufmerksamkeit betteln?“, ruft ihr Mann entgeistert.
Seine Gattin zischt ihn an und bedeutet ihm mit Blick auf die benachbarten Häuser, dass er seine Lautstärke reduzieren möge.
„Um Aufmerksamkeit betteln?“, wiederholt ihr Mann, nun in einem durchdringenden Flüsterton. „Die Gören sind der beste Grund dafür, Abtreibungen bis mindestens zum zwölften Lebensjahr zu erlauben. Verzogen bis zum Gehtnichtmehr und grausam gegenüber allem und jedem, der schwächer ist als sie selbst. Eine furchtbare Brut!“
„Wen wundert‘s?“ entgegnet seine Frau. „Die Kinder können doch nichts dafür, dass die Eltern ihnen jeden Luxus in die kleinen Ärsche stopfen, um zu kompensieren, dass sie sich die Bälger eigentlich nur zu Repräsentationszwecken zugelegt haben. Hauptsache, die Schulnoten stimmen und sie können die Gören der staunenden Öffentlichkeit geschniegelt und gebügelt in Edel-Klamotten präsentieren. Jeder soll glauben, alles sei bestens im Hause der perfekten Familie Witt“, schimpft sie. Empört schüttelt sie den Kopf. „Ich bleibe dabei: Es sind arme Kinder!“
Ihr Mann brummt: „Trotzdem sollte man sie erschießen.“ Er blickt auf die elektrische Heckenschere in seiner Hand. Plötzlich scheint er sich daran zu erinnern, wozu er eigentlich mit seiner Frau zusammen auf dem Gehweg steht. Er schaltet das Gerät wieder ein und setzt seine Arbeit an der Hecke fort.
Währenddessen hat Miriam mit ihren Hunden im Schlepptau bereits eine weitere Straße des beschaulichen Viertels hinter sich gelassen. Sie spaziert vorbei an Architektenhäusern auf großzügig geschnittenen Grundstücken mit hohen Bäumen in gepflegten Gärten. In der Einfahrt eines hellgelb verputzten Hauses, das im Stil einer italienischen Villa erbaut wurde, steht eine Frau neben einem makellos sauberen schneeweißen SUV der neuesten Generation aus Ingolstadt und unterhält sich mit einer Bekannten, die auf ihrem Spaziergang bei ihr vorbeigekommen ist. Als sich Miriam den beiden nähert, unterbrechen sie ihre Unterhaltung. Mit undurchdringlicher Miene schauen sie ihr und ihren Hunden entgegen, die sich gegenseitig anknurren und nach einander schnappen. Dabei kommen sie Miriams spitzen Absätzen immer wieder gefährlich nahe, was die jedoch ignoriert.
„Hallo Beate, hallo Ewa“, grüßt sie höflich lächelnd.
„Hallo Miriam“, antworten die beiden im Chor.
Die Blicke von Beate und Ewa folgen Miriam, während sie an ihnen vorbeistolziert. Kaum treffen sie auf ihren Rücken, wispert Ewa: „Hast du gehört? Unsere fromme Arztgattin soll ein Verhältnis haben.“
Beate lässt einen abschätzigen Grunzlaut hören. „Das kann ich mir kaum vorstellen! Die lässt doch keine Gelegenheit aus, aller Welt aufs Brötchen zu schmieren, was für eine gute Christin sie ist und wie sehr sie sich in ihrer Kirchengemeinde engagiert. Ihr guter Ruf bedeutet ihr alles!“
Ewa schüttelt den Kopf. „Na, ich weiß nicht. Wo Rauch ist …“
Der restliche Satz geht im Geklapper von Miriams Absätzen unter. Sie selbst hat wohl gehört, was die beiden über sie sprachen, doch es stört sie nicht. Im Gegenteil. Ein überlegenes Lächeln malt sich auf ihren Lippen. Miriam weiß selbstverständlich um ihre Wirkung auf Männer. Das war schon immer so und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Ihre Figur ist trotz ihrer neununddreißig Jahre genauso makellos wie ihre Haut, ihr Haar und ihre Kleidung. Alles an ihr wirkt perfekt. Sie versteht es, ihre Reize durch figurbetonte Outfits zur Schau zu stellen, doch sie tut es mit Stil und stets in untadeliger Form. Sie weiß, was sich gehört, und sie kleidet sich immer so, dass sie jederzeit, ohne Aufsehen zu erregen, ein Gotteshaus betreten könnte: Reizvoll und ihrer Figur schmeichelnd, aber ganz bestimmt nicht billig. Das ist unter ihrer Würde.
Es ist der Neid der Besitzlosen, sagt sie sich im Stillen als Antwort auf den Klatsch, der hinter ihrem Rücken ausgetauscht wurde. Selbstbewusst reckt sie ihren Kopf, der auf einem langen, wohlgeformten Hals ruht, noch ein Stückchen weiter aus dem schwarzen Kunstpelzkragen heraus. Außerdem haben die beiden Damen durchaus recht mit dem, was sie sagen, überlegt sie. Mein tadelloser Ruf ist mein Kapital. Niemals würde ich ihn aufs Spiel setzen!
Miriam weiß, dass ihr Mann das auch nicht tolerieren würde. Philipp Witt, Schönheitschirurg mit eigener Privatklinik, entstammt einer erzkonservativen, alteingesessenen Gifhorner Familie. „Sein“ bedeutet in seinen Kreisen nichts, „Schein“ dafür alles. Das wusste Miriam vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an und das hat sie fasziniert. Sie war ehrgeizig und wollte den gesellschaftlichen Aufstieg. Allerdings wäre ihr nie in den Sinn gekommen, selbst hart dafür zu arbeiten oder sich in einem Unternehmen hochzubuckeln. Es wäre ihr auch zu ungewiss gewesen, sich auf eine Ausbildung oder ein Studium, den eigenen Fleiß und die nötige Portion Glück zu verlassen. Sie suchte sich lieber ein picobello hergerichtetes Nest und setzte sich hinein. Mit ihrem Aussehen, ihrer Intelligenz, ihren Umgangsformen und weil sie jederzeit wusste, was von ihr erwartet wurde, eroberte sie sich ihren Platz an Philipps Seite und damit in der besseren Gifhorner Gesellschaft. Mit der Geburt ihrer Kinder sicherte sie sich ihre Position endgültig. Darüber hinaus ist sie ihrem Mann eine in fast allen Lebenslagen untadelige Ehefrau, die die Fassade des perfekten Familienglücks aufrecht und ihm alle lästigen Privatangelegenheiten vom Hals hält. Das weiß er zu schätzen und dafür zeigt er sich erkenntlich, indem er ihr alle Freiheiten lässt, die sie begehrt, und alle Wünsche erfüllt, die er sich leisten kann.
Das Lächeln auf Miriams Gesicht wird eine Spur kälter. Unwillkürlich zieht sie den Kragen aus schwarzem Kunstpelz dichter an ihren Hals heran. Es ist wirklich ganz schön kalt geworden, denkt sie bei sich. Vielleicht hätte ich mir doch etwas Wärmeres anziehen sollen! Das nächste Mal nehme ich den Daunenmantel, wenn ich bei diesen Temperaturen vor die Tür gehe, überlegt sie.
Doch glücklicherweise hat sie es jetzt nicht mehr weit. Sie wirft einen schnellen Blick über ihre Schulter, überquert die Straße und biegt kurz darauf links ab. Dann hat sie ihr Ziel erreicht. Es liegt hinter einem dunkel gestrichenen Jägerzaun, der die Verlängerung einer Hecke aus riesigen Koniferen bildet. Miriam folgt der mit Betonplatten ausgelegten Einfahrt, deren Ende das breite graue Tor einer Doppelgarage bildet. Die Garage selbst geht nahtlos über in ein klobiges weiß verputztes Haus mit schwarzer Tür, schwarzen Fensterahmen und ebensolchen Fensterläden. Der tadellos kurz gehaltene Rasen, auf dem kein Blatt und nicht einmal eine Nadel von einer der umstehenden Kiefern zu liegen scheint, sowie die ordentlich eingefassten, gerade geschnittenen Beete an der Hauswand entlang vermitteln einen fantasielosen Eindruck, den die Besitzer augenscheinlich durch einen übergroßen Ordnungssinn bis hin zur Pedanterie wettzumachen suchen. Wobei in diesem Haus seit einiger Zeit kein Paar mehr wohnt, sondern nur noch ein alleinstehender älterer Herr von achtundsechzig Jahren. Es ist der Kirchenvorstand von Miriams Gemeinde. Seit dem Tod seiner Frau führt er ein zurückgezogenes Leben und scheint einzig und allein für die Belange der Kirche und die seines Gartens zu leben. Jeder in der Gemeinde weiß, dass Miriam es als ihre christliche Pflicht erachtet, ab und zu nach dem Rechten zu sehen. Sie selbst weiß, dass ihre Besuche ihm guttun, auch wenn er es nicht direkt sagt. Aber er zeigt es ihr – auf seine Weise – und er hat sie noch nie enttäuscht.
Für einen Moment flackert in Miriams Augen eine Gefühlsregung auf, die nicht ganz zu der kühlen, untadeligen Arztgattin zu passen scheint. Schnell hat sie sich wieder im Griff. Während sie den schmalen Weg auf den sorgfältig gekärcherten Betonplatten entlangstolziert, die von der Einfahrt bis zur Haustür führen, herrscht sie ihre zankenden Hunde an, gefälligst still zu sein, und tatsächlich gehorchen sie. Dann betätigt Miriam die Klingel. Im Inneren des Hauses hört sie Schritte und einen Moment später wird die Tür von einem großen, schlanken Mann mit grauen Schläfen und hellblauen Augen geöffnet. Für sein Alter hat er sich gut gehalten und er ist unbestreitbar attraktiv. Gleichzeitig hat sein Auftreten etwas Autoritäres und Abweisendes, das die Menschen normalerweise davon abhält, ihm näher zu kommen. Alle, bis auf Miriam.
Als der Mann sie erkennt, nimmt sein Blick einen wissenden Ausdruck an. „Was kann ich für dich tun?“, fragt er. Sein kühler, strenger Blick scheint sie zu durchbohren.
„Ich möchte beichten“, antwortet Miriam und senkt beschämt den Kopf. „Doch vorher werde ich sündigen.“ Sie knöpft ihren Mantel auf und öffnet ihn. Darunter ist sie splitterfasernackt.
Nephele
Nephele schließt die Tür zu ihrer Vierzimmer-Eigentumswohnung auf und schiebt die schweren Einkaufstaschen in den Flur. Normalerweise ist das Geräusch, das der Schlüssel in der Wohnungstür verursacht, das Signal für ihren sechzehnjährigen Sohn, aus seinem Zimmer herauszustürmen und ihr dabei zu helfen, die Einkäufe in der Küche zu verräumen. Doch heute rührt sich nichts in der Wohnung. Dabei weiß Nephele, dass Ilias da ist, denn sie hat vom Parkplatz hinter dem Mehrfamilienhaus aus gesehen, dass Licht in seinem Zimmer brennt. Sie wirft die Tür hinter sich ins Schloss, lässt ihren Schlüsselbund in die Schale auf der Kommode unter dem goldgerahmten Spiegel fallen, zieht ihre Schuhe aus und schlüpft aus ihrem Mantel, den sie an der Garderobe aufhängt.
„Ilias?“
Sie lauscht, doch aus der Wohnung ist immer noch kein Laut zu hören. Vermutlich hat er wieder die Stöpsel seiner Kopfhörer in den Ohren, denkt Nephele, und eigentlich ist sie froh darüber. Nichts wünscht sie sich nach dem Trubel, der fast immer in ihrem Lokal herrscht, mehr als Ruhe. Weil sie außerdem schon diverse Diskussionen mit ihrem pubertierenden Nachwuchs darüber führen musste, in welcher Lautstärke Musikhören auch für Mitbewohner und Nachbarn erträglich ist, findet sie, dass es eindeutig das kleinere Übel ist, die Einkäufe ohne seine Hilfe einzusortieren. Darüber hinaus läuft ihr regelmäßig ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie die oftmals menschenverachtenden Textzeilen der Songs mit anhören muss, die Ilias Idole des Gangsta-Rap verbreiten und sie würde ihrem Sohn am liebsten verbieten, so ein Zeug zu hören. Da sie jedoch selbst einmal jung war und weiß, dass ein Verbot die Sache für ihn nur interessanter machen würde, lässt sie es bleiben und ist froh, wenn sie nichts davon hören beziehungsweise wissen muss. Nephele hofft, dass sich der Musikgeschmack ihres Sohnes ganz von selbst ändert, wenn er aus dem Gröbsten raus ist. Denn eigentlich weiß sie, dass er das Herz auf dem rechten Fleck hat. Davon ist sie überzeugt und darauf ist sie sehr stolz, denn sie weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Es hätte auch anders kommen können, schießt es ihr durch den Kopf. Sie schaudert.
Nephele geht ans Ende des Flures und klopft an die Tür mit dem Schild „Ich Chef, du nix.“. Sie horcht, doch sie kann keine Reaktion dahinter vernehmen. Sie klopft noch einmal an das Holz – dieses Mal energischer – doch noch immer rührt sich nichts. Nephele drückt die Klinke hinunter und öffnet die Tür einen Spalt breit. Ob ihr Sohn schläft?
Zuerst entdeckt sie nur seine bestrumpften Füße auf dem Bett. Nephele schiebt ihren Kopf durch den Türspalt und sieht nun ihren ganzen Sohn. Er sitzt vollständig angekleidet auf seinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Wider Erwarten hat er keine Stöpsel im Ohr. Seine Augen sind geöffnet und starren ins Leere. Er scheint in seinen Gedanken so weit weg zu sein, dass er seine Mutter nicht bemerkt.
„Ilias?“, fragt Nephele irritiert. Besorgt reißt sie die Tür weit auf und tritt ins Zimmer. In diesem Moment wendet Ilias ruckartig den Kopf und schaut sie böse an. Wie angewurzelt bleibt Nephele stehen. So hat ihr Sohn sie noch nie angesehen. „Was ist los?“, fragt sie erschrocken. In ihrem Inneren fühlt sie eine kalte Hand nach ihrem Herzen greifen. Plötzlich hat sie Angst. Irgendetwas ist mit Ilias geschehen und das kann nichts Gutes sein.
Nepheles Verhältnis zu ihrem Sohn war immer gut, sie würde es sogar als eng bezeichnen. Sie weiß, dass das bei einer alleinerziehenden Mutter und ihrem Sohn nichts Ungewöhnliches ist. Natürlich haben sie auch mal Meinungsverschiedenheiten und streiten sich, allerdings geschieht das äußerst selten. Und selbst in jenen Momenten spürt sie zu jedem Zeitpunkt eine enge Verbundenheit zwischen Ilias und sich, das unbedingte Vertrauen zu- und die Fürsorge füreinander. Daran kann auch der Gangsta-Rap nichts ändern. Mit einem Mal jedoch ist Nephele sich dessen nicht mehr sicher. Ein Schauer jagt ihren Rücken hinunter. Unwillkürlich fragt sie sich, inwieweit nicht nur körperliche, sondern auch psychische Dispositionen vererbbar sind und ihr wird beinahe schlecht vor Angst. Reiß dich zusammen, ermahnt sie sich. Du bist seine Mutter, also benimm dich auch so! Sie strafft die Schultern und bemüht sich, ihrer Stimme eine entspannte Färbung zu geben. So, als könne es sich bei dem, was augenscheinlich zwischen ihnen steht, nicht um mehr handeln als ein Lieblings-Kleidungsstück, das versehentlich in die Kochwäsche geraten und deshalb im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr tragbar ist. „Ich höre?“
Etwas raschelt in Ilias‘ Hand. Erstaunt blickt Nephele auf das gefaltete karierte DIN A4-Blatt, das er ihr wortlos entgegenstreckt. Was soll das, fragt sie sich verwundert. Was soll auf einem ganz normalen Zettel von einem Abreißblock schon Großartiges stehen, das das Verhalten ihres Sohnes erklären könnte?
Jetzt schon etwas gefasster, macht Nephele einen Schritt auf ihren Sohn zu. Mit einer energischen Handbewegung greift sie nach dem Blatt Papier und faltet es auseinander. Sie sieht die eng beschriebenen Zeilen und einen Moment später erkennt sie auch die Handschrift. Ihr wird schwindelig. Rasch geht sie ein paar Schritte zur Seite und lässt sich auf Ilias‘ Schreibtischhocker plumpsen. Dort verharrt sie, das Blatt Papier in der Hand, doch sie schaut nicht darauf. Stattdessen starrt sie vor sich auf den Boden, wo sich ein tiefer Abgrund auftut. Nephele schließt die Augen und hofft, dass dieser Moment vorübergehen möge und danach alles wieder ist wie vorher. Gleichzeitig weiß sie, dass das nicht funktionieren wird. Es kostet sie alle Kraft, die sie aufzubringen in der Lage ist, ihren Blick auf das Papier, dieses vermaledeite Blatt Papier, diesen gewöhnlichen karierten Zettel zu richten und zu lesen, was darauf steht.