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Das Gespräch drehte sich jetzt um Schiffe und Passagiere und wurde hauptsächlich von Frank Cameron und Jim geführt.
Margot war außerordentlich ruhig und nachdenklich, so daß es Cecile schließlich auffiel.
»Aber Margot, du beteiligst dich ja gar nicht an der Unterhaltung – was ist denn los?«
Margot schrak aus ihren Träumen auf.
»Ach, es ist doch schlimm, daß du auch alles gleich merkst«, entgegnete sie lachend. »Es ist fast wie mit den Schiffsmaschinen. Wenn die auf der Fahrt plötzlich anhalten, wacht man auch auf. Wenn ich offen sein soll, bin ich ein wenig traurig gestimmt, daß ich diese Gegend hier verlassen soll.«
Frank sah von seiner Schwester zu Jim hinüber und lächelte.
»O ja, das verstehe ich schon«, sagte er dann.
»Ich glaube, ich werde vor der Zeit alt«, meinte Margot. »Seit einiger Zeit mag ich nicht mehr sooft meinen Aufenthaltsort wechseln.«
»So geht es mir auch«, erklärte Frank. »Aber einer von uns beiden muß nach den Staaten hinüberfahren, Margot. Wir müssen die Angelegenheit mit dem Landsitz von Tante Martha regeln.«
Er sah, daß Jims Augen aufleuchteten und grinste.
»Das klingt, als ob wir nur kurze Zeit drüben bleiben und bald wiederkehren würden. Aber wenn ich einmal nach den Staaten hinüberfahre, dann muß ich auch die Minen besuchen, für die ich mich interessiere. Und den Winter muß ich in Kalifornien zubringen.«
Jim seufzte.
»Nun, Sie werden mich, wenn Sie zurückkommen, wieder hier finden mit allem, was zur Stadt gehört. Und wenn Sie dann zurückkehren, habe ich inzwischen Tafeln an all den verschiedenen Gebäuden angebracht zur Erinnerung an Ihren Aufenthalt hier. Ich werde eine recht traurige und einsame Zeit erleben.«
»Vielleicht kommt ein Zirkus und bringt Ihnen ein wenig Zerstreuung«, neckte ihn Margot.
»Mir bleibt nur zweierlei übrig«, sagte Jim feierlich. »Entweder eröffne ich eine Farm für Schafe oder ich werde ein Räuber, plündere die Depots unserer Bank und knalle alle Leute nieder, die mir in den Weg treten. Zur Zeit lohnt es sich schließlich auch noch, einen solchen Einbruch zu versuchen«, sagte er und nickte nachdenklich. »Die schöne Mrs. Markham hat ja ihre Diamanten bei uns deponiert.«
»Warum sagen Sie immer ›die schöne Mrs. Markham‹? fragte Margot ein wenig gereizt.
»Weil mir nichts Besseres einfällt.«
»Nun, ich würde Ihnen aber den Rat geben, nicht eher mit Ihrer verbrecherischen Laufbahn zu beginnen, als bis wir die Stadt verlassen haben«, sagte Frank und reichte Cecile die leere Tasse zurück.
»Ach, was für ein wundervoller Ring«, bemerkte Jim plötzlich und sah auf die Hand von Mrs. Cameron, die errötete.
»Ist er nicht schön?« fragte Frank. »Ich möchte ihn Bartholomew einmal zeigen.«
Sie zögerte einen Augenblick, zog ihn dann vom Finger und gab ihn dem Gast. Es war ein breiter, goldener Reifen, gehämmert und handmodelliert. Die besondere Form hatte Bartholomews Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Er trug den Ring zum Fenster und prüfte ihn aufmerksam. Es waren drei Schlangen mit Frauenköpfen, herrlich ausgearbeitet, obwohl die Gesichter kaum drei bis vier Millimeter groß waren.
Bewundernd betrachtete er, wie sich die Schlangenleiber ineinander verflochten. Dann brachte er den Ring Mrs. Cameron zurück.
»Die Töchter der Nacht«, sagte er. »Ein wundervolles Stück Goldschmiedearbeit!«
»Die Töchter der Nacht?« Mrs. Cameron runzelte die Stirn. »Ja, es sind die drei Furien, die römischen Göttinnen, die die Verbrecher bestrafen.«
»Ich habe noch nie gehört, daß man sie die ›Töchter der Nacht‹ nennt«, sagte Cecile Cameron langsam, während sie den Ring wieder an den Finger steckte.
»Die Töchter der Nacht!«
»Meine mythologischen Kenntnisse sind auch nicht die besten.« Jim lächelte. »Auf die Bezeichnung kann ich mich jedoch noch sehr genau besinnen. Aber ganz abgesehen davon, es ist ein wirklich ausgezeichnetes, prachtvolles Stück.«
»Sie haben Glück, daß Sie den Ring sehen«, meinte Frank. »Meine Frau trägt ihn nur an einem Tag im Jahr, und zwar an dem Datum, an dem ihr Vater starb. Stimmt das nicht, Liebling?«
Mrs. Cameron nickte.
»Mein Vater hatte zwei gleiche Ringe, einen gab er meiner Schwester, einen mir. Er war ein großer Spezialist und Kenner in diesen Dingen und hat den Ring nach einem Original kopiert, das sich jetzt im Louvre befindet. An den Ring selbst knüpfen sich unangenehme Erinnerungen, aber mein Vater war sehr stolz darauf. Einmal im Jahr, an seinem Todestag, trage ich ihn zur Erinnerung.«
Sie erwähnte ihre verstorbene Schwester nicht, aber Jim vermutete, daß das die unglückliche Erinnerung bedeutete.
»Der Ring ist wertvoll«, bemerkte er, »denn Sie werden wohl erfahren haben, daß das Original im Jahre 1908 aus dem Museum gestohlen wurde. Und dann wären dies die einzigen Kopien, die davon existieren.«
Margot hatte sich erhoben, ging zu dem Flügel und spielte leise. Jim war regelmäßig ein andächtiger Zuhörer, und auch jetzt nahm er seinen Stuhl und setzte sich neben sie.
»Spielen Sie doch etwas, damit meine aufgepeitschten Nerven zur Ruhe kommen«, sagte er.
»Sie haben gar kein Recht, hier aufgepeitschte Nerven zu haben. So ein junger Mann wie Sie!« erwiderte sie und schwieg dann plötzlich. »Wo werden wir nur nächste Woche alle sein?« fragte sie nach einer Weile nachdenklich.
»Mit welchem Dampfer fahren Sie denn?«
»Mit der ›Ceramia‹.«
»Ach so, mit dem modernen, schönen Dampfer. Das ist ja ein merkwürdiger Zufall! Der alte Stornoway ist der Kapitän, und der alte Smythe der Chefingenieur an Bord.«
Sie drehte sich in dem Stuhl um.
»Was mögen das für alte Herren sein, Frank!« rief sie über die Schulter. »Komm doch einmal her und höre, welche alten Tapergreise Mr. Bartholomew zu Freunden hat.«
»Sie müssen nicht denken, daß das alte Männer sind«, erklärte Jim. »Im Gegenteil, es sind Freunde von mir. Während des Krieges habe ich bei der Marine gedient und alle möglichen Posten bekleidet, ich habe sowohl Heizer gespielt als auch Offizier des Nachrichtendienstes. Stornoway war damals Kommandant von B 75, einem Torpedobootszerstörer für besondere Zwecke, und ich war Nachrichtenoffizier an Bord. Wir fuhren Patrouille an der Küste bis zur äußersten Nordspitze von Schottland. Smythe war damals unser Chefingenieur, und so lernten wir uns sehr gut kennen. Und als wir dann aufgefischt wurden –«
»Was meinen Sie denn damit?« fragte Margot.
»Nun sehen Sie, wir wurden an einem kalten Februartag torpediert, und da waren wir drei zwölf Stunden lang im Wasser, und unter solchen Umständen wird man wirklich gut miteinander bekannt. Da lernt man sich gegenseitig kennen.«
Margot lachte.
»Haben Sie Ihre Freunde aus dem Wellengrab gerettet?« fragte sie etwas ironisch. »Oder wurden Sie von ihnen gerettet?«
»Das kann man nicht so genau sagen. Wir haben uns wohl gegenseitig gerettet.«
Sie vermutete gleich hinter diesen etwas zögernden und schüchternen Erklärungen eine Heldentat und nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Stornoway auszufragen.
Jim wäre zum Abendessen geblieben, aber er mußte einen langen Bericht schreiben, den er am nächsten Morgen abgeben sollte, und so verabschiedete er sich. Margot begleitete ihn bis zum Parktor.
»Sie werden also unter die Bankräuber und Verbrecher gehen, wenn ich jetzt abreise?« fragte sie.
»Warum denn nicht?« protestierte er energisch. »Die Sache ist furchtbar leicht, und Sie wissen doch, Margot, daß ich eine kriminalistische Veranlagung habe.«
»Ich habe Sie im Verdacht, eine gewisse Schwäche und Zurückhaltung zu besitzen. Von einer verbrecherischen Veranlagung habe ich noch nichts bemerkt. Aber ich vermute, daß –«
»Aber wieso haben Sie denn Schwäche bei mir feststellen können?«
»Ich glaube, Sie sind nicht tatkräftig genug, und Sie haben nicht genügend Selbstvertrauen.«
»Ich dachte, ich wäre sehr energisch und wüßte ganz genau, was ich wollte.«
»In mancher Beziehung mag das ja zutreffen. Manchmal sind Sie sogar etwas zu sehr von sich überzeugt, aber in anderer Beziehung –«
Er sah sie groß an und unterbrach sie.
»Aber jetzt müssen Sie mir wirklich sagen, wieso ich mich vergangen habe. Lassen Sie mich nicht in England, in diesem gesegneten Landstrich, zurück – denn heilig ist das Land, das Ihre Füße berührt haben – ohne mir zu sagen, inwiefern ich gefehlt habe.«
»Nun, ich meine, Sie sind eben zu sehr Engländer und zu schüchtern?«
»Wollen Sie damit sagen, daß ich verschroben bin? Sie werden mir doch keinen Vorwurf daraus machen, daß ich Engländer bin? Ich gebe ja gern zu, daß die nicht so smart sind wie die Amerikaner.«
Sie lachte.
»Ich glaube nur, daß Sie zu verschlossen und zu zurückhaltend sind, das ist alles.«
»Ach, ist es das?« fragte er ironisch, aber dann wurde er ernst. »Vielleicht ist es meine Absicht, so zu sein. Glauben Sie, ich wüßte nicht, daß der größte Schatz, den die Welt bieten kann, in meiner Reichweite ist?« Seine Stimme zitterte leicht. »Wenn ich nun tatsächlich wüßte, daß jemand so großzügig und so unendlich gut ist, daß er sich mir schenken möchte – mir, der gerade nur Geld genug hat, um zu fühlen, wie arm er ist?! Wenn ich das alles überschaute und in meinem Herzen den Entschluß faßte, um Ihres und meines Glückes willen mich erst weiter in der Welt hinaufzuarbeiten, würden Sie dann auch noch sagen, daß ich nicht genügend Selbstvertrauen hätte?«
Sie erwiderte nichts darauf und legte nur ihre Hand in die seine. Schweigend gingen sie bis zum Tor.
»Ich sehe Sie morgen noch«, sagte sie schließlich, ohne ihn anzuschauen. »Wollen Sie nicht nach Southampton an den Dampfer kommen und Abschied von mir nehmen?«
»Eine glänzende Idee. Es wird mir zwar sehr schmerzlich sein, aber – ja, ich komme bestimmt. Ich fahre mit dem Zug hin.«
»Warum wollen Sie uns nicht im Auto begleiten?« .
»Das ist mir leider nicht möglich. Ich muß Sonnabend morgen in London sein. Aber ich fahre noch mit dem Zug um Mitternacht zur Hauptstadt, sehe dann ganz früh unseren Generaldirektor und nehme den Spezialzug zur Abfahrt des Dampfers. Gute Nacht.«
Er reichte ihr die Hand, und sie sah sich um.
Hinter ihnen stand der Reitknecht, der Jims Pferd am Zaum führte.
»Gute Nacht«, sagte sie dann. »Aber bringen Sie morgen nicht Ihr Pferd mit.«
»Kommen Sie mit Ihrer Schwägerin in die Stadt?« fragte er.
»Das wäre möglich.«
Er schwang sich in den Sattel, und Margot rieb die Nase seines Pferdes.
»Jim«, sagte sie plötzlich, »wenn – wenn Sie ein großes Vermögen verdienen ... dann wollen Sie wohl irgend etwas Plötzliches, Unvorhergesehenes unternehmen?«
Er neigte sich vor und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie schaute zu ihm auf.
»Ja, es wird irgend etwas sein, woran kein Mensch denkt.«
3
Mr. Stephen Sanderson hatte einen dicken, umfangreichen Brief mit der amerikanischen Post erhalten und die halbe Nacht darüber gesessen und geschrieben. Er hatte die einzelnen Notizen verglichen, die er von Frank Camerons Freund erhalten hatte, und trug nun die einzelnen Daten in die Tabellen ein, die schon recht stattlich waren.
Eine lange, mühselige Arbeit, aber es war nun einmal seine Liebhaberei. Er hatte Tausende von Zeitungen durchgelesen und Ausschnitte gesammelt, die sich mit Verbrechen befaßten, sowohl in England und Frankreich als auch in anderen Ländern. Vor allem kam es ihm darauf an, die Einbruchsmethoden der einzelnen Leute mit Verbrechen zu vergleichen, die noch nicht aufgeklärt waren, und nun hatte er eine Fülle neuen Materials aus New York erhalten. Er hatte so lange gearbeitet, bis der Morgen graute. Vor ihm lagen etwa ein Dutzend Photographien von Männern und Frauen auf dem Schreibtisch ausgebreitet, und er suchte alle möglichen Einzelheiten zusammen, um die große Reihe von Verbrechen aufzuklären, die miteinander in Zusammenhang standen. Nur eine oder zwei Tatsachen fügten sich noch nicht ins Ganze ein.
Nachdem er vier Stunden geschlafen hatte, erhob er sich mit der Zuversicht, daß es ihm in Zukunft doch gelingen würde, die Sache ganz aufzuklären. Jim kam um zehn Uhr ins Büro und fand seinen Assistenten etwas übernächtig und bleich am Schreibtisch. Aber Sandersons Augen leuchteten, und er war so munter, wie ihn Jim noch nie gesehen hatte.
Nach der Begrüßung wollte Jim ihn schon etwas fragen, aber er unterließ es, denn er betrachtete seinen Assistenten jetzt mit mehr Achtung.
»Gibt es heute morgen etwas Besonderes?« erkundigte er sich, als er seinen Hut ablegte und seinen Mantel aufhing.
»Nein, nichts. Das Geld für Mrs. Cameron und Mrs. Markham habe ich bereitgelegt.«
»Gut. Aber sie hebt doch nicht etwa ihr ganzes Konto ab?«
»Doch, aber ihr Guthaben ist gerade nicht sehr groß. Etwa zweitausend Pfund. Eine Kleinigkeit läßt sie stehen, weil sie wiederkommt. Ich erwarte Mr. Winter jeden Augenblick. Wollen Sie ihn auch sprechen?«
»Wer ist denn das? – Ach, richtig, der Butler. Nein, ich möchte ihn nicht sprechen«, erwiderte Jim gleichgültig. »Wenn er mich sehen will, bin ich ja in meinem Büro.«
Er ging in sein Zimmer, und Sanderson fuhr mit seiner Arbeit fort.
Gleich darauf klopfte es.
»Mr. Winter ist da«, meldete ein Angestellter.
»Bitten Sie ihn herein.«
Ein untersetzter, schwarzhaariger Herr mit freundlichem Blick trat ein, reichte dem Bankbeamten die Hand und setzte sich Sanderson gegenüber. Dann nahm er ein rotes Formular aus seiner Brieftasche und gab es Sanderson. Dieser prüfte es eingehend.
»Nun, Mr. Winter, ich glaube, Ihre Lady ist in ziemlicher Aufregung wegen dieser Reise nach Amerika?«
»Nein«, entgegnete Winter lächelnd, »deswegen regen wir uns in Tor Towers nicht besonderes auf. Das Leben hier war gerade nicht sehr kurzweilig. Soweit war ja alles in Ordnung, ich meine mit dem Essen und der Bequemlichkeit, aber man bekam nichts zu sehen, es war furchtbar tot.«
»Wann werden Sie aufbrechen?«
»Heute abend fahren wir im Auto bis Bournemouth und gehen dann morgen früh an Bord.«
»Nun, Sie haben jedenfalls eine sehr interessante Reise vor sich, Mr. Winter.«
Der Butler rieb nachdenklich sein Kinn.
»Das ist möglich, es kann aber auch anders kommen«, erwiderte er vorsichtig. »Ich bin noch niemals außerhalb Englands gewesen, und ich weiß nicht, wie ich mich mit diesen Amerikanern vertragen werde. Natürlich ist Mrs. Markham sehr gut; wenn sie alle so wären, ginge es vorzüglich. Aber ich bin noch niemals an Bord eines Schiffes gewesen – und da weiß man doch noch nicht so recht Bescheid wegen des Seegangs und so – ich bin ein wenig nervös.«
»Ach, daran werden Sie sich bald gewöhnen.«
Sanderson klingelte und reichte dem Angestellten den Scheck von Mrs. Markham. »Bringen Sie bitte den Betrag herein und zahlen Sie ihn in meinem Büro aus.«
»Ich möchte Sie noch um einen Gefallen bitten«, sagte Mr. Winter mit leiser Stimme und lehnte sich über den Tisch vor. »Mrs. Markham ist ein wenig nervös und ängstlich wegen der Juwelen, die sie Ihnen zur Aufbewahrung übergab, und sie bat mich, daß ich mich überzeugen sollte, ob sie auch richtig eingepackt sind. Ich kann Ihnen gegenüber ja ganz offen sein – sie möchte wissen, ob sie tatsächlich noch hier auf der Bank sind.«
Sanderson mußte lächeln.
»Darüber braucht sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Die Juwelendiebstähle in der letzten Zeit haben sie wahrscheinlich ängstlich gemacht.«
»Ja, das stimmt. Mylady sagt, daß sie schon einmal bestohlen wurde, während sie sich in den Vereinigten Staaten aufhielt, und das hat sie vorsichtig gemacht.«
»Nun, da kann sie sich beruhigen.« Sanderson erhob sich und ging zur Stahltür an dem einen Ende seines Zimmers.
Er machte sich mit zwei Schlüsseln daran zu schaffen; gleich darauf sprang die große, schwere Safetür auf, und er verschwand in der Stahlkammer.
Wenige Augenblicke später kam er mit einem kleinen Paket in braunem Papier zurück.
»Wollen Sie, daß ich es vor Ihren Augen öffne?« fragte er und zeigte auf die unverletzten Siegel.
»Nein, das nicht. Sie läßt Sie bitten, das Papier ein wenig aufzureißen, so daß ich hineinsehen und mich überzeugen kann, ob die Juwelen noch in dem Glaskasten sind.«
»Der Glaskasten war übrigens eine gute Idee von Mrs. Markham.«
Sanderson riß eine Ecke des Papiers vorsichtig ein, so daß man den länglichen Glaskasten sehen konnte. »Hier sind sie.«
Mr. Winter beugte sich vor und sah respektvoll auf die Lücke, in der ein kleiner Teil des Diamanthalsbandes sichtbar wurde. Die Steine glänzten in den Lichtstrahlen, die darauf fielen.
»Das wäre also alles in Ordnung«, sagte der Butler.
»Hier ist ein neues Siegel von Mrs. Markham.«
Er reichte ihm eine gummierte, runde Papierscheibe, auf der mit Tinte das Datum und ›Stella Markham‹ geschrieben war.
»Wozu soll das sein?« fragte Sanderson überrascht.
»Sie ist geradezu großartig, sie denkt auch an alles. ›Winter‹, sagte sie zu mir, ›wenn Mr. Sanderson das Packpapier eingerissen hat, dann kleben Sie dieses Siegel auf die beschädigte Stelle damit man deutlich sehen kann, daß die Hülle nach der Inspektion wieder geschlossen worden ist.‹« Er feuchtete das runde Papier an, indem er sich bei Sanderson entschuldigte, und drückte es auf die eingerissene Stelle.
»Da unten geht gerade ein Herr vorbei, den Mrs. Markham nicht leiden mag«, sagte er dann und zeigte mit dem Kopf nach dem Fenster, durch das man auf die High Street sehen konnte.
Sanderson folgte mit den Blicken der angegebenen Richtung und sah den Rücken einer untersetzten Gestalt. »Wer ist denn das?« fragte er.
»Der Farmer Gold, ein sehr unangenehmer Mensch. Er hat Mylady neulich von seinen Feldern verwiesen, als sie eine kleine Landschaftsskizze machte.«
»Das wundert mich. Er ist für gewöhnlich sehr nett. Also, ich werde das Päckchen wieder in die Stahlkammer bringen, und Sie können Mrs. Markham die Versicherung geben, daß ihre Juwelen vollkommen in Sicherheit sind.«
In dem Augenblick kam der Angestellte mit dem Geld. Mr. Winter zählte es vorsichtig nicht ein-, sondern dreimal nach, bevor er es einsteckte, dann erhob er sich, um zu gehen. Aber Sanderson hielt ihn zurück.
»Ich möchte Sie noch in einer besonderen Angelegenheit sprechen, Mr. Winter, wenn Sie fünf Minuten für mich Zeit haben. Sie reisen nach Amerika. Sind Sie in der Lage, einige Informationen für mich zu sammeln, besonders während Sie an Bord des Dampfers sind?«
»Wenn ich nicht seekrank werde. Davor habe ich jetzt schon Angst.«
»Ach, so schlimm wird das nicht gleich werden. Auf jeden Fall können Sie umhergehen«, protestierte Sanderson lachend. »Mr. und Mrs. Cameron werden mit Ihnen zusammen an Bord sein.«
»Cameron?« fragte Winter erstaunt.
»Ja.«
»Sind das Leute vom Lande? Kenne ich sie?«
»Ich weiß nicht, ob Sie mit ihnen bekannt sind, aber sie wohnen hier in dieser Stadt.«
»Ach ja, die Amerikaner!« Winter nickte. »Jetzt weiß ich, wen Sie meinen.«
Und nun sprach Sanderson längere Zeit vertraulich mit ihm. Es dauerte auch länger als fünf Minuten, denn er mußte den Butler, um alles erklären zu können, ins Vertrauen ziehen. Jim hörte, daß sich Sanderson lange mit jemand eifrig unterhielt; als er durch die Glastür sah, bemerkte er das ernste Gesicht seines Assistenten und lächelte.
Er schloß den Brief, den er eben geschrieben hatte, und ging in die äußeren Büroräume.
»Ist Mrs. Cameron schon hiergewesen?«
»Nein«, entgegnete der Angestellte. »Mr. Winter, der Butler von Mrs. Markham, ist drüben in dem anderen Büro.«
»Dann bestellen Sie Sanderson, daß ich in zehn Minuten wieder hier bin«, sagte Jim und ging auf die High Street hinaus.
Er war unruhig und ungeduldig, denn er sehnte sich so sehr danach, noch einmal in Margots Gesicht zu schauen, die sobald abreisen wollte, und die er vielleicht nie wiedersehen würde. Er ging in der Richtung auf Camerons Haus durch die Stadt und war auf sich selbst ärgerlich, daß er so unvernünftig war. Als er die Hälfte des Weges nach Moor Hill zurückgelegt hatte, sah er ein großes Auto, das ihm langsam entgegenkam. Er hob den Arm, und der Wagen hielt.
Cecile Cameron winkte ihn heran.
»Wohin gehen Sie denn schon so früh?« fragte sie.
Neben ihr saß Margot, die wohl ahnte, warum Jim den Hügel hinaufstieg. Sie war sehr gespannt, welche Ausrede er gebrauchen würde.
»Ich kam, um Sie zu sehen«, entgegnete Jim, öffnete die Tür des Wagens und ließ sich auf einem der hinteren Sitze nieder.
»Und Margot wollten Sie nicht besuchen?« fragte Cecile leichthin.
»Ja, Margot auch«, erwiderte er ohne Verlegenheit. »Ich weiß, daß es recht dumm von mir ist, was ich sage, aber ich bin ganz traurig und niedergeschlagen, daß Sie wegreisen.«
»Ich glaube, wir würden alle sehr gern bleiben«, sagte Cecile, »selbst Margot.«
»Ja, selbst Margot«, wiederholte die Schwägerin gerade nicht sehr freundlich.
»Können Sie denn nicht einen Vorwand finden, daß Sie uns nach drüben begleiten? Kommen Sie doch mit uns«, sagte Cecile scherzend.
»Einen Grund wüßte ich schon seit langem«, erklärte Jim.
Margot sah starr in die Gegend; allem Anschein nach interessierte sie sich für alles andere mehr als für den jungen Mann, der neben ihr saß und heimlich und leise seinen Fuß neben ihren gesetzt hatte.
»Es ist möglich, daß ich eines guten Tages dort auftauche, wenn Sie nicht schnell zurückkommen«, scherzte Jim. »Eines guten Tages, wenn Sie in Ihren fürstlichen Zimmern im neunundzwanzigsten Stock des Goldrox-Hotels sitzen und nach dem Kellner klingeln, tut sich die Tür auf und unversehens tritt herein – Jim Bartholomew. Aber ich hatte keine Ahnung, daß ich erst einen so kurzen Weg gegangen war.«
In diesem Augenblick hielt der Wagen vor der Bank. Sanderson stand in der Tür und sprach noch eifrig mit Winter.
»So, und jetzt wollen wir auch einmal die Angelegenheiten auf der Bank erledigen«, sagte Jim.
»Ich –«
Er brach plötzlich ab, als er das Gesicht von Mrs. Cameron sah. Sie war bestürzt und erschreckt.
Als Jim der Richtung ihrer Blicke folgte, sah er Sanderson im Eingang, der sich eben von Mr. Winter verabschiedet und sich weiter nicht um die Ankunft des Wagens gekümmert hatte. Jim schaute erstaunt wieder zu Cecile hinüber, die zitterte, als ob sie einem Zusammenbruch nahe wäre.
Sanderson war wieder in die Bank zurückgegangen.
»Was ist dir, liebe Cecile? Um Himmels willen, was ist geschehen?« fragte Margot und stützte ihre Schwägerin.
»Nichts, nichts.«
Jim wußte nicht, was das alles zu bedeuten hatte, und war selbst betroffen.
Sanderson! Wie kam es, daß diese sonst so weltgewandte Dame vor diesem Mann derartig erschrak? Daß es sich um seinen Assistenten handelte, bezweifelte er keinen Augenblick. Er sprang aus dem Wagen und half Mrs. Cameron beim Aussteigen.
»Ach, es ist nichts. Es ist dumm von mir, daß ich mich so gehenlasse«, sagte sie mit schwacher Stimme, während Jim sie in sein Büro geleitete.
»Es ist irgendein Ohnmachtsanfall – ich habe das öfter –, verzeihen Sie bitte, Mr. Bartholomew.«
»Aber was hast du nur«, fragte Margot ängstlich.
»Nichts, es ist wirklich nichts.« Mrs. Cameron zwang sich zu einem Lächeln. »Margot, du kannst dich darauf verlassen, es ist schon vorüber. Ich hatte einen Schwächeanfall. Wollen Sie bitte meine Angelegenheit erledigen, Mr. Bartholomew, ich –«
Jim war nur zu gern bereit, selbst die Sache in Ordnung zu bringen. Er trat in Sandersons Zimmer. Sein Assistent schien selbst kaum zu wissen, welchen Eindruck er auf Cecile gemacht hatte.
»Ich werde die Sache mit dem Konto von Mrs. Cameron selbst ordnen, Sanderson.«
»Sehr wohl«, entgegnete der andere, ohne aufzuschauen. »Ich habe eben das Guthaben von Mrs. Markham ausgezahlt.«
In wenigen Minuten kehrte Jim schon mit dem baren Betrage in sein Büro zurück; inzwischen hatte sich Cecile wieder vollkommen erholt und war ruhig geworden.