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Walther
Aufgreifen

Rudolf Walther
Aufgreifen, begreifen,
angreifen
Historische Essays, Porträts, politische
Kommentare, Glossen, Verrisse
Essay 17

© 2011 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung
des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster www.oktoberverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Monsenstein und Vannerdat
Umschlag: Thorsten Hartmann
Umschlagmotiv: Chiara Mangia
unter Verwendung mehrerer Fotos von alex-mit, Bliznetsov, garysludden, Okea,
sololos/www.istockphoto.com
Herstellung: Monsenstein und Vannerdat
ISBN: 978-3-941895-17-1
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
INHALT
Vorwort
I Historische Essays
1. Wem das Posthorn bläst – zur Konstruktion und Konjunktur des Nationalen
2. Was keiner versteht, ist »nationale Identität«
3. »Nationale« Selbstbestimmung – der Stimmungsmacher im Schlachthaus
4. »Zivilisation« – ein Rettungsring mit Löchern
5. Geopolitik oder: Man braucht Platz
6. Aufgeklärter Pazifismus und Friedensschwärmerei
7. Brockhaus: fast die ganze Welt im Bücherregal
8. Die Encyclopédie von Diderot, D’Alembert und Jaucourt wird 250 Jahre alt
9. Globalisierung: Universalismus der Reichen
II Porträts gegen das Vergessen
1. Ulrich Bräker – Aufklärung von unten
2. Louis Philippe, juste milieu, Geldherrschaft sans phrase
3. Rudi Dutschke – einer wie keiner
4. Niklaus Meienberg. Ein unschweizerischer Schweizer Journalist und Schriftsteller
5. Casimir Ulrich Boehlendorff. Ein hoffnungsloses Dichterleben
6. Carl Albert Loosli. Der Philosoph und Dichter aus Bümpliz
7. Reinhart Koselleck. Sozialgeschichte als Begriffsgeschichte
8. Günther Anders – Philosoph des Atomzeitalters
9. Hans-Georg Gadamer. Philosophische Hermeneutik lehrt begreifen
10. Wolfgang Abendroth – »Partisanenprofessor im Land der Mitläufer«
11. Ernst Jünger – Gegen die Vergesslichkeit: politische Publizistik 1920-1933
12. Friedrich Engels – zum hundertsten Todestag des Grandseigneurs des Sozialismus
III Politische Kommentare
1. Bürgerkrieg im Supermarkt? Enzensberger irrt.
2. Der Dokumentarfilm als Propaganda: Claude Lanzmanns »Tsahal«
3. Ernstfall Friede: Kants »Zum Ewigen Frieden«
4. 1945 – Kontinuität und Neubeginn
5. Die Schweiz im Zwielicht
6. Alles Krieg? Zu Paul Virilio
7. Flegelei und Lümmelei im deutschen Feuilleton
8. Asymmetrische Kriege und Barbarei des Luftkriegs
9. Toleranz – Einwanderungsgesellschaft – Rechtsstaat
10. Antiamerikanismus – oder die Theologie der Leerstelle
11. Der Fernsehphilosophiker Sloterdijk flunkert munter drauf los
IV Glossen
1. Dichter unter Diktatoren: Durs Grünbein
2. Wendelin Wiedeking hat Benzin im Hirn
3. Toxische Positionen
4. Stadelmaiers Privatreligion
5. Ohne Vertrauen auf Vertrauen
6. Zeitfenster
7. Angesagt
8. Frankfurter Allgemeiner Küchenmoses: Küchenlatein (1)
9. Walser schaut Fernsehen
10. Eine Blase voller Kultur
11. Zürich – von DADA zu Gaga
V Verrisse
1. Schnelldenkerei à la mode: Norbert Bolz
2. »Heldenprüfung« voller Peinlichkeiten: Jürgen Busche
3. Hubertus Knabe jagt Dunkelmänner
4. Alle reden vom Klima, wir auch : Leggewie/Welzer
5. Ein deutscher Mythenbastler erzählt: Herfried Münkler
6. Ferndiagnostische Spekulationen über 68: Christian Schneider et al.
7. Aufgeblasenes und Ressentiments: Dirk Schümer
8. Plumper Flachsinn über Faschismus: Georg Seeßlen
9. Auf den Hund gekommener Konservatismus: Wolfgang Sofsky
10. Kaschmirbehaglichkeit: Stephan Wackwitz
VI Texte in eigener Sache
1. Triviale Laufmaschine
2. Post vom Sozialstaat oder wie Ludmilla gegen die Bürokratie siegte
3. Der 21. August 1968 als Geschichtszeichen
4. Wassertrinker und Instant-Soziologen von Ulrich Beck bis Michael Rutschky
Nachweise
Der erste Band meiner Arbeiten umfasst – wie die beiden folgenden Bände – Texte aus den letzten 18 Jahren meiner Tätigkeit als Publizist, Kolumnist und Sachbuch-Kritiker. Bei der Auswahl der Texte konzentrierte ich mich in allen drei Bänden auf solche Arbeiten, die ohne Anmerkungen verständlich sind, dem tagespolitischen Handgemenge also nicht zu nahe stehen. Die Daten der Erstveröffentlichung verweisen auf die historischen und politischen Kontexte.
Die Anlässe für die Essays und Porträts diktierte das journalistische Gewerbe mit seiner etwas seltsamen Vorliebe für runde Geburts- und Todestage, wobei die gnadenlose Konkurrenz der Organe häufig dazu führt, dass die Geburtstage und runden Jubiläumstage groteskerweise kalendarisch vorverlegt werden, weil jedes Organ das Erste sein möchte in einem öden Wettlauf.
Die politischen Kommentare für die »Tageszeitung« und für den »Freitag« beziehen sich zwar auf die tagespolitische Aktualität und entstanden in der Zusammenarbeit mit den beteiligten Redakteuren, aber ich habe nur solche Kommentare aufgenommen, die über das Tagespolitische hinaus ins Grundsätzliche gehen.
Dadurch entstehen inhaltliche Ligaturen zu Themen, die in den historischen Essays und Porträts dargestellt werden. Im Nachhinein erweisen sich manche Essays und Porträts als Vorarbeiten für politische Kommentare. Meiner Ansicht nach nicht zu deren Nachteil, da die Stringenz und Haltbarkeit von Argumenten und Kommentaren nicht von der Stärke der darin vertretenen Meinungen zehren, sondern von historischem, sozialwissenschaftlichem, philologischem und philosophischem Wissen, auf denen sie beruhen. Thematische Überschneidungen sind dabei nicht zu vermeiden.
Dies in Kauf zu nehmen, erschien mir weniger gravierend, als die Texte nachträglich in starre Rahmen von kalendarisch oder thematisch geordneten Blöcken zu pressen, die noch gar nicht existierten, als die Texte geschrieben wurden. Die Grenzen zwischen den einzelnen Textsorten sind fließend und immer auch willkürlich. Die meisten Texte entstanden aus äußerlichen Zwängen des Kulturbetriebs, aus situativen Intuitionen sowie als subjektive Reaktion auf den laufenden sprachlichen und politischen Schwachsinn – also aus zufälligen Anlässen, die sich gegen eine systematische Ordnung sperren. Damit soll auch das Moment von Spontaneität der Reflexion und der Reaktion, das ich mit dem Titel andeute, betont und erhalten bleiben. Jede Behauptung eines »roten Fadens«, dem die Texte folgten, liefe auf eine alberne Selbstinterpretation hinaus. Den durchgehenden Faden zu erkennen oder zu bestreiten, ist Sache der Leserinnen und Leser.
Die Glossen sind zum größten Teil auf der Wahrheitsseite der »Tageszeitung« erstmals erschienen. Dieses Forum bietet die in der deutschen Presselandschaft einmalige Chance, den sprachlichen und politischen Zumutungen im Fernsehen und in der Presse mit sprachlichen Mitteln heimzuleuchten.
Ein großer Teil meiner Arbeiten besteht aus Besprechungen politischer, historischer und sozialwissenschaftlicher Bücher. Ich habe aus der Fülle der Rezensionen nur einige exemplarische Verrisse ausgewählt. Diese Auswahl beruht nicht auf einem atavistischen Willen, Autoren und ihren Büchern oder den Verlagen zu schaden. Selbst wenn ich das wollte, schaffte ich dies als Sachbuch-Rezensent nicht, denn alle diese Bücher werden von Vielen besprochen und bewertet. Und ultimativ oder verheerend »päpstlich« auftretende Urteilende gibt es unter den Sachbuchkritikern – im Unterschied zu einigen in der Literaturbranche – nicht. Verrisse sind mir deshalb wichtig, weil das redaktionelle Gewerbe sie gar nicht schätzt und dafür uneigennützig und freiwillig dabei mithilft, restlos überflüssige – sogar ausgesprochen liederliche – Bücher auf gute Plätze in Sachbuch-Bestenlisten zu hieven. Dabei nicht mitzuspielen, gehört zum Ethos von Kritik, die sich von redaktionellen und verlegerischen Kalkülen nicht beeindrucken lässt. Man macht sich dadurch nicht immer Freunde bei Verlagslektoren und Autoren, aber das ist das Risiko jedes autonom Urteilenden.
Der journalistische Betrieb hat sich durch die Konkurrenz mit dem Internet in den letzten Jahren stark verändert. Die Ausnahme, zum Beispiel Nachrufe ganz schnell liefern zu müssen, ist jetzt zur Regel geworden. Neben Vorteilen hat die enorme Beschleunigung des Betriebs und die Vermehrung der Plattformen auch einige Nachteile – die gravierendsten sind boulevardesk-personalisierende Oberflächlichkeit und der Verlust an intellektueller Substanz, der in vielen Feuilletons mit Händen zu greifen ist.
Zumutungen wie diejenige, ein 800 Seiten starkes Buch innerhalb von ein paar Tagen zu besprechen, sind an der Tagesordnung, die Resultate auf den Rezensionsseiten zu besichtigen: Festangestellte Redakteure verhandeln auch schon mal vier Bücher mit zusammen 3500 Seiten auf weniger als 200 Druckzeilen. Den euphemistisch »Freie« genannten Mitarbeitern bleibt die Wahl zwischen solcher Instant-Schreiberei oder prekärer Auftragslage, über die hinwegzuhelfen jedoch nach wie vor verantwortungs- und qualitätsbewusste Redakteurinnen und Redakteure bereit sind, indem sie die Rahmenbedingungen für seriöses Arbeiten sichern. Ich nenne deren Namen nicht, um sie nicht in Konflikt zu bringen mit den maschinenmäßig produzierenden Kollegen.
Die Texte sind in sechs Blöcke eingeteilt, die unterschiedliche Textsorten enthalten: Historische Essays (I.), Porträts gegen das Vergessen (II.), politische Kommentare (III.), Glossen (IV.), Verrisse (V.). Am Schluss stehen Texte in eigener Sache (VI.).
Einige Texte sind mehrfach oder in gekürzten und redaktionell mehr oder weniger stilsicher bearbeiteten Versionen erschienen – nach einem Wort Günter Ohnemus’ in »kannibalisierten Fassungen«. In gravierenden Fällen habe ich deshalb meine ursprünglichen Textversionen den von fremder Hand zugerichteten vorgezogen und mache dies durch das Kürzel UTV (ursprüngliche Textversion) in der Liste der Erstdruckorte am Ende des Buches deutlich. Bloße Druckfehler und kleine Irrtümer (z. B. falsche Jahreszahlen und Vornamen) habe ich stillschweigend korrigiert. Inhaltlich habe ich die Texte nicht verändert und biete sie als durchaus zeitgebundene den Leserinnen und Lesern zur Beurteilung an.
Mein Dank gilt Michael Billmann und Roland Tauber vom Verlag für die Hilfe bei der Organisation der Texte sowie für das Angebot, die Texte in drei Bänden zu publizieren. Ich widme das Buch Eva-Maria in Dankbarkeit und Bewunderung. Sie hat alle Texte als Erste gelesen und korrigiert. Mit Hinweisen, Ratschlägen, fulminanten Verweisen und ultimativen Vetos am Textrand hat sie mich in vielen, zuweilen turbulenten Diskussionen vor etlichen Abwegen und Irrtümern bewahrt. Die verbliebenen gehen auf mein Konto.
Frankfurt am Main, Juli 2011 Rudolf WaltherI Historische Essays
1 Wem das Posthorn bläst – zur Konstruktion und Konjunktur des Nationalen
Wiederholt sich die Geschichte? 1917/18 – nach der revolutionären bzw. militärischen Beseitigung des zaristischen Reiches, der Donaumonarchie und der letzten Reste des osmanischen Reiches auf dem Balkan – erschien der Nationalstaat als Zauberformel: jedem Kind einen Lampion und jeder Nation ihren eigenen Staat. Das deckt sich mit der »Burlesken Träumerei« des unvergleichlichen Erik Satie: »Ich finde, dass alle Franzosen, die auf französischem Gebiet geboren sind, von französischen Eltern oder solchen, die diesen Anschein erwecken, ein Anrecht auf eine Anstellung bei der Pariser Post haben sollten.« Mit der Post hat der moderne Begriff Nation immerhin so viel zu tun, dass er von Paris aus seine Reise antrat und dass Lenin außer für »nationale« Selbstbestimmung für die deutsche Post schwärmte.
Wenn man die Reaktionen auf den Untergang der Sowjetunion durchsieht, so scheint es, als hätten die Kommentatoren nicht Post aus Paris, sondern aus Washington erhalten. Haben sie Woodrow Wilson persönlich zum ghost-writer erkoren? »Nationale Selbstbestimmung« und »National«staat, die sich als Volksvorurteile in den Hirnen festgefressen haben, gelten auf jeden Fall wieder einmal als erstrebenswerter globaler politischer Normalzustand. Die abenteuerliche Prognose, die Völker der ehemaligen Sowjetunion würden jetzt gleichsam normalisiert und in die europäische Tradition des vermeintlich selbstverständlichen und demokratischen Nationalismus zurückgeholt, müsste der Redlichkeit halber die Tribute nennen, die die Menschen in Europa seit etwa 200 Jahren entrichtet haben für derlei Normalität.
Wohin man heute zwangsläufig gerät, wenn man noch einmal versucht, die Welt nach Nationen, Nationalstaaten oder der Fiktion des nationalen Selbstbestimmungsrechts einzurichten, führen die politischen und militärischen Eliten im ehemaligen Jugoslawien praktisch vor, und große Teile der deutschen Presse sowie das Stammtischgerede begleiten das Geschehen mit wohlfeilen, also serbenfresserischen Kommentaren. Allen voran trabt die FAZ. Schon am 12.12.1990 entdeckte J. G. Reißmüller bei den Serben eine Spezialität, die es ihm so angetan hat, dass er nun bald täglich darauf zurückkommt: »die uneuropäische Politik des Unterdrückens anderer Völker«. Im Baltikum genauso: »die ganze Unterdrückungsaktion in Litauen ist uneuropäisch« bzw. »asiatisch«, vulgo: »sowjetisch« (15.1.1991). Wem das alles irgendwie bekannt vorkommt, ist auf der richtigen Spur. Was authentisch europäisch ist, hat Treitschke längst beschrieben: »Wenn die Engländer ... die Hindus vor die Mündungen der Kanonen banden und sie ›zerbliesen‹, daß ihre Körper in alle Winde zerstoben, so kann man das, da doch der Tod sofort eintrat, nicht tadeln. Daß in solcher Lage Mittel des Schreckens angewendet werden müssen, ist klar.« Bei Reißmüller ist auch alles klar – im Namen des »nationalen Selbstbestimmungsrechts« klagt er die nationale »Anerkennung« ein, deren Verweigerung ebenso unterhalb des »europäischen« Standards liegen soll wie die Skepsis gegenüber dem »nationalen Selbstbestimmungsrecht«, das nun als Krone der »europäischen Rechtskultur« (FAZ 17.7.91) herhalten muss.
Nation – in jeder Hinsicht ein Gemachtes
Mangels tragfähiger Grundlagen in der Gegenwart wichen die Ideologen des Nationalstaats immer auf die Geschichte aus. Die fehlende Kohärenz des Prinzips sollte sich angeblich aus menschlicher Natur, gemeinsamer Abstammung, gemeinsamer Sprache, Geschichte und Kultur ergeben. Schon bei oberflächlicher Betrachtung erweist sich jedoch das Nationale als ein in langen und komplizierten Prozessen entstandenes historisch-politisches Konstrukt und nicht als quasi-natürliche Gegebenheit.
Bei Licht besehen, ein Gebirge von papierner Vergeblichkeit, denn für die Begriffe Volk und Nation sieht die Bilanz in der kritischen Forschung trübe aus. Für kein einziges Großvolk kann man ein hohes Alter, ungebrochene Kontinuität oder gar – liebstes Kind der Nationensucher und Nationalitätenbastler – ethnische Homogenität belegen. Und was die Anfänge, Wiegen und Geburtsstunden von Großvölkern und Nationen betrifft, so liegen sie nicht im geheimnisvollen mythologischen Dunkel, im Kyffhäuser, auf den Schlachtfeldern vor Troja, beim Merowinger Häuptling Chlodwig im Frühmittelalter, sondern ganz profan zwischen Buchdeckeln bzw. auf der platten Hand: »In einem gewissen Sinne sind es die Historiker, die die Nationen schaffen« (Bernard Guenée 1971).
Verkürzt und vereinfacht: Am Anfang stand nirgendwo ein großes Volk und schon gar nicht eine ethnisch oder sprachlich homogene Nation, sondern eine Vielfalt von »bunten« gentilen Verbänden. Diese Verbände Stämme zu nennen, verbietet die Tatsache, dass mit dem Begriff Stamm immer noch die legendäre gemeinsame Abstammung, Sprache und Kultur verbunden wird. Genau das war jedoch nicht der Fall. Die gentile Entwicklungsphase ist überall gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Siedlungsformen, inneren sozialen Beziehungen, Herrschaftsverhältnissen und ethnischen Mischungsverhältnissen. Erst relativ spät bilden sich gentile Verbände zu Völkern und Großvölkern, wobei deren einzelne Bestandteile in Sprache, Kultur und Sitten sehr lange resistent bleiben gegenüber den vereinheitlichenden (»Nationalisierungs«-)Tendenzen.
So ist es z. B. nichts als ein Gerücht, die Franken seien das Urvolk und die Begründer Frankreichs. Der Anteil eingewanderter (!) Franken am bunten Völkergemisch aus Römern, Galliern, Kelten, Bretonen, Normannen, Burgundern etc., aus dem zwischen Mittelalter und Neuzeit, von dem kleinen Gebiet der Île de France ausgehend, Frankreich heranwächst, ist minimal. Einzig im Seinebecken dürfte der Anteil der Franken im 6./7. Jahrhundert um zehn Prozent betragen haben, sonst bedeutend weniger (Karl Ferdinand Werner 1984). Nicht die Franken ethnischer Herkunft bilden Frankreich, sondern Herrschergeschlechtern und sozialen Eliten mit zum Teil fränkischen Vorfahren ist es im Laufe der Jahrhunderte gelungen, die anderen in »Frankreich« siedelnden, einwandernden und sich vermischenden gentilen Verbände, Völkerschaften und »Stämme« sowie deren herrschende Schichten zu einem Gemeinwesen zu formen. »Unterwerfung gegen Schutz vor inneren und äußeren Feinden« lautete die Formel, nach der im Laufe der Jahrhunderte so etwas wie ein Staat im modernen Sinne und nationaler Zusammenhalt geschaffen wurden; dieser »nationale« Zusammenhalt umfasste jedoch in Frankreich bis zur Revolution explizit nur die oberen Stände. Von der nachrevolutionären Nation unterscheidet sich dieser Begriff grundsätzlich, obwohl ihm dasselbe Wort zugrunde liegt. Das einfache Volk dagegen blieb, was es war: normannische, acquitanische, gaskognische, elsässische Magd, Bäuerin oder Handwerkersfrau; provenzalischer, bretonischer, burgundischer etc. Bauer, Knecht oder Handwerker; und genauso redeten sie vielerlei Sprachen, nur nicht Französisch. »Frankreich« erschien dem menu peuple noch bis ins 18. Jahrhundert hinein als ein ebenso unverständliches und künstliches Produkt wie die dazugehörige Hochsprache Französisch: eine Sache der weltlichen und kirchlichen Herren, mit der das gemeine Volk nichts zu schaffen hatte. Bei den anderen europäischen Großvölkern und Nationen verhielt es sich nicht anders.
Ludwig XIV.: »Die Nation ist kein Staatsstand (corps d’état) in Frankreich«, und »die Nation ist vollständig in der Person des Königs verkörpert«. Keine hundert Jahre später wird Emmanuel Joseph Sieyes seinen fulminanten Traktat mit dem Satz beginnen: »Der dritte Stand ist eine vollständige Nation« (Abbé Sieyes 1789). Das war keine empirische Beschreibung, sondern ein bürgerlich-revolutionäres Programm – in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zwischen Emanzipation und erneuter Ausgrenzung derer, die man zur Nation nicht, nicht mehr oder noch nicht zählen mochte. Die Französische Revolution schuf den modernen, der Tendenz nach demokratischen Nationsbegriff. Die Beziehung zwischen moderner Nation und moderner Demokratie ist zwar genetisch unbestreitbar, aber praktisch lose und extrem provisorisch, theoretisch irrelevant und juristisch kriminell.
Anachronistische Rückprojektionen: »Deutschland«
Es ist ein fast unauflösbares Volksvorurteil und ein Anachronismus, im Blick auf Frankreich von einer »alten« Nation zu reden, obwohl sich diese über fünf Jahrhunderte langsam und mit Rückschlägen entwickelte und erst in und nach der Revolution von 1789, vor allem in den Kriegen gegen das aristokratisch-monarchische Europa regelrecht geschaffen wurde. Carnot, der Kriegsminister, gilt nicht nur als »organisateur de la victoire«, sondern auch als einer der Schmiede der modernen Nation, als deren Kinderstube Schule und Kaserne fungieren (»die Schule wird zum Vorraum der Kaserne«, Hippolyte Taine 1893). Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz, denn es dauerte noch eine ganze Weile, bis der französische Zentralstaat mit seinen Präfekten, Offizieren und Schulmeistern als nationalen Rasenmähern die überkommenen sozialen, kulturellen und sprachlichen Gewächse einheitlich zurechtgestutzt und zur Grande Nation (uni-)formiert hatte. Dazu mussten die Volkssprachen und Dialekte systematisch herabgesetzt werden, bis in der Öffentlichkeit nur noch das akademisch normierte Hauptstadtidiom Französisch aufzutreten wagte; dazu mussten vor allem die allgemeine Schulpflicht und mit ihr eine verbindliche Nationalsprache »eingeführt« werden; »eingeführt« verharmlost die Brutalität, mit der der Pariser Zentralismus regionale Sprachen und Dialekte buchstäblich ausrottete.
Es ist schon ein schwieriges Geschäft, nachzuzeichnen, wie die französische Nation in Schule und Kaserne herangezüchtet, von national eingestellten Intellektuellen herbeigeschrieben und wie die französische Hochsprache staatlich verordnet wurde; für das Deutsche ist das noch etwas dornenreicher, weil man es nicht nur mit nationalistisch eingefärbten Anachronismen zu tun hat, sondern seit Beginn der deutschen Geschichtswissenschaft mit einer militanten Ideologieproduktion, die sich – pragmatisch entschärft – in Teilen der deutschen Mediävistik und Rechtsgeschichte bis heute durchhält.
Der Beginn der deutschen Historiographie fällt zeitlich zusammen mit der Wahrnehmung nationaler, nationalstaatlicher Defizite in den Staaten des Deutschen Bundes gegenüber dem nachrevolutionären Frankreich. Das sollte kompensiert werden mit einer programmatisch deutschnationalen Lesart der mittelalterlichen Quellen: Die Probleme der Gegenwart bestimmten die Wahrnehmung und Aufbereitung der Vergangenheit.
Der »deutschen Nation«, einer geschichtsphilosophischen und politischen Konstruktion par excellence, verliehen national gesinnte Historiker den Charakter eines Naturtatbestandes, indem sie »Germanen« und »Deutsche« nicht nur gleich-, sondern als »von Anfang an« vorhandenes, homogenes Großvolk voraussetzten, das im mittelalterlichen Kaiserreich eine »deutsche Einheit« angeblich verwirklicht hatte und dann fahrlässig (»Italienpolitik«) verspielte. Die richtige Voraussetzung, dass gentile Verbände, Völkerteile, Völkerschaften, »Stämme« und Völker älter sind als »Staaten«, »Reiche« und »Nationen«, verlängerte die deutsche Historiographie und Rechtsgeschichte zur Vorstellung eines immer schon existierenden »deutschen Volkes«, das eben nur Pech gehabt habe mit seinen von Italien berauschten Herrschern und herrschsüchtigen Päpsten und deshalb in punkto Staatlichkeit und Nationalität gegenüber »Frankreich« (das es damals so wenig gab wie ein »deutsches« Kaiserreich) ins Hintertreffen geraten sei.
Germania und Gallia waren von der römischen Antike bis ins Mittelalter und die Neuzeit hinein geographische Begriffe. Der Rhein bildete die Ost-West-Grenze. Das Wort Germania in mittelalterlichen Quellen zielt immer auf diese geographischen Grenzen und nicht auf die ethnische Abstammung der Bevölkerungen oder politische Substrate. Die nach Gallien gewanderten Franken waren ebenso Germanen wie die diesseits des Rheins verbliebenen. Als »Deutsche« bezeichneten sich freilich weder die einen noch die andern.