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Anders verhält es sich mit der Sprachenbezeichnung; »deutsch« bzw. »theodiscus«, gebildet aus althochdeutsch diot (Volk), meint alle nicht-romanischen Volkssprachen. Die nationes theodiscae umfassen z. B. nicht-romanisch sprechende Franken in den heutigen Ländern Flandern, Deutschland und Frankreich, Sachsen in England, Goten und Langobarden in Italien; hier heißen Franken, die nicht-romanisch reden, deshalb teutonici oder tedeschi, und umgekehrt nennen diese die romanische Sprachen verwendende Umgebung »Welsche«. Nicht-romanisch sprechende Sachsen in England oder Franken in Flandern bzw. Italien tauchen in den Quellen als nationes theodiscae auf, können jedoch nicht »deutsche Stämme« oder gar »Deutsche« gewesen sein, da sie niemals dem politischen Gemeinwesen angehörten, das – 962 als ostfränkisches Reich gegründet – erst im 11. Jahrhundert gelegentlich als regnum Teutonicum (1073) auftaucht. Die anderen Franken, Sachsen usw. gehören selbstverständlich zu den konstituierenden Bestandteilen der anderen im Entstehen begriffenen Großvölker in »England« bzw. »Frankreich« (K. F. Werner 1992).
Mit regnum meinen die mittelalterlichen Quellen einen sekundären Herrschaftsverband; man erklärt sich dessen Entstehung aus sesshaften gentilen Verbänden, die sich eben durch diese Sesshaftigkeit kulturelle, rechtliche und politische Strukturen schaffen und dabei die zu verschiedenen Zeiten eingewanderten wie die »eingeborenen« gentilen Verbände assimilieren. Diese Teilreiche (regna oder auch patriae) umfassten also immer Verbände unterschiedlicher Herkunft und Abstammung: Gothia, Burgundia, Francia, Saxonia, Lotharingia, Baioaria, Alemannia, Italia, Provincia sind keine homogenen Gebilde wie die anachronistischen Begriffe »Stamm« oder »Stammesherzogtum« suggerieren, sondern über lange Zeit entstandene melting pots. Die deutsche Übersetzung für regnum ist in der Regel rich oder lant regnum Baioariae, Baiernlant. Für eine Mehrzahl von regna auf dem Territorium des ostfränkischen Reiches existiert vor dem 16. Jahrhundert für »Deutschland« ganz selbstverständlich und logisch nur der Plural »deutsche Lande«. Der Alemanne, Sachse oder Baier existierte nicht von Anfang an, sondern entstand in einem geschichtlichen Prozess im Zuge der Vermischung und Verbindung von gentilen Verbänden zu Teilreichen/regna; gleichzeitig als Baier und Deutscher oder Sachse und Deutscher konnte man erst ab dem 11. Jahrhundert bezeichnet werden – gut 500 Jahre nachdem Alemannen, Baiern, Sachsen, Franken usw. belegt sind. Wie unwichtig das »Deutschsein« neben der faktischen Zugehörigkeit zu einem regionalen Teilreich und seiner Herrschaft (regnum, patria) blieb, beweist die Tatsache, dass der politische Begriff »deutsches Volk« erst nach der Französischen Revolution und in Anlehnung an die revolutionäre Terminologie vom souveränen »peuple français« nachzuweisen ist (K. F. Werner 1992).
Das »Deutsche Kaiserreich«, angeblich 962 von Otto dem Großen gegründet, gehört zu den Fiktionen der nationalstaatlich imprägnierten Historiographie des 19. Jahrhunderts, die bis heute in schlechten Schulbüchern und im common sense fortleben. Ottos Imperium Romanum (erst seit 1157 mit dem Zusatz Sacrum und erst seit 1442 mit der Präzisierung »nationis germanicae«, also: »Heiliges Römisches Reich germanischer (!) Nation« und erst seit dem Kölner Reichsabschied von 26.8.1512 und bis zum Untergang des Reiches (12.7.1806) hieß es offiziell und adjektivisch »Heiliges römisches Reich deutscher (!) Nation«, war nicht eines der »Deutschen«, womöglich gar der »deutschen Nation« im modernen Sinne, sondern jenes der Franci et Saxones (Franken und Sachsen). Diese beanspruchten die Erbschaft des »Sacrum Imperium Romanum« für sich. Franci et Saxones musste man allerdings geographisch näher bezeichnen, um sie z. B. von den französischen bzw. englischen Sachsen und Franken abzugrenzen – deshalb der spätere Hinweis auf die rechtsrheinisch gelegene Germania im Zusatz »nationis germanicae«, nicht etwa »teutonicae« oder »theodiscae«. Näherhin meinte Otto der Große mit den Franci et Saxones, in deren Namen er auftrat, nicht Völker im modernen Sinne, sondern den in Kirche und »Staat« Macht und Herrschaft ausübenden Adel (zusammengefasst in der Formel: regnum Francorum et Saxonum). Diese weltliche und kirchliche Elite fungiert in den mittelalterlichen Quellen unter dem Begriff populus/ Volk, das allein die Kirchenoberen und die Könige wählte bzw. absetzte. Mit Volk war also – im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch – ausschließlich das Kirche und Staat lenkende Volk gemeint, eine Oberschicht aus Kriegern, Adligen, Klerikern (K. F. Werner 1992).
Zu welchen Konfusionen es in Sachen »deutsch« und »Nation« trotz dieser relativ einfachen und eindeutigen Zusammenhänge nach wie vor kommt, soll an einem Beispiel gezeigt werden. Der ebenso verdienstvolle wie konservative Sozialhistoriker Werner Conze schrieb drei Jahre vor seinem Tod einen Aufsatz unter dem Titel: »Deutschland« und »deutsche Nation« als historische Begriffe (Werner Conze 1983).
Hochideologisierter Ramsch wie der Begriff »Stammesnationen« erscheint darin, aber kein einziger eindeutiger Beleg für das Titelwort »deutsche Nation«. Das ist handwerklich gesehen ein Defizit und faktisch das Eingeständnis, dass es frühe Belege für diesen Begriff in politischen Kontexten nicht gibt, weil man sich noch für sehr lange Zeit zwar als »Deutscher« (d. h. deutschsprachiger Bayer, Sachse etc.) bezeichnen konnte, der Ausdruck »deutsche Nation« aber immer die Verbindung zum »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation« herstellte, also gerade – modern gesprochen – ein supranationales Gebilde meinte, dem selbstverständlich Ungarn, Kroaten, Norweger, Böhmen, Luxemburger, Spanier etc. mit angehörten. Das handwerkliche Defizit gerät Conze jedoch unter der Hand zum peinlichen Lapsus, wenn er als »Beleg« den Abschied des Augsburger Reichstags vom 25.9.1555 heranzieht. Conze suggeriert, hier stünde bereits »die Teutsch Nation, unser geliebt Vaterland« in einem modernen Sinne, d. h. als ein explizit und exklusiv auf ein nationaldeutsches Substrat abzielendes Subjekt zur Debatte. Das ist natürlich nicht der Fall, und Conze konnte das auch wissen, denn er zitiert nur die obenstehenden Worte, aber nicht den klaren Kontext, aus dem hervorgeht, dass auch 1555 »deutsche Nation« nur auf die Titulatur des Reichsverbands abhebt, nicht auf eine nationale Abgrenzung, einen nationalen Staat im heutigen Sinne: »Darauf Wir uns Gott dem Allmächtigen zu Lob und zu Ehren und Jhr Liebd. und Kayserlicher Majestät zu freundlichem und brüderlichem Gefallen, auch des gnädigen, milden Willens und Vorhabens des Heil. Reiches Teutscher Nation, Unsers geliebten Vatterlands, Unser und des heiligen Reichs gemeiner Stände und Untertanen Nutz, Wolfahrt, Gedeyen und Aufnehmen zu befördern ...«; an anderer Stelle heißt es »im Reich Teutscher Nation«. Und wo ausnahmsweise von der »Teutsch Nation, unser(m) geliebt Vatterland« die Rede ist, liegt die gegen Conze sprechende Pointe genau darin, dass es im zu stiftenden Religionsfrieden darum geht, »Zertrennung und Untergang« einzelner Reichsteile zu verhüten«, also gerade nicht Teile des Reichsverbandes zu modernen, andere Gebiete ausschließenden »Nationen« zu machen.
Überhaupt musste Conze, dem Wissenschaftler, bewusst sein, was Conze, der Nationale, vergaß: Gens und natio können in mittelalterlichen Texten in einem einzigen Satz Familien, Adelsgeschlechter, regionale Gruppen und supragentile Verbände bezeichnen, aber nicht »Nationen« im modernen Sinne, woraus nüchterne Mediaevisten schon seit geraumer Zeit den notwendigen Schluss ziehen, »dass von diesen gentes kein gerader Weg zu den europäischen Nationen führt« (Horst Beumann 1986).
Das angeblich nationalstaatliche Jahrhundert
Nationen im modernen Sinne, Nationalismen und Nationalstaaten sind also eine europäische Erfindung – und eine späte obendrein. Sie entstehen, grob gesagt, erst mit der Zerstörung der agrarischlokal bestimmten Gesellschaften im Zuge der ökonomischen Modernisierung und Industrialisierung. »Der Tatbestand, eine Nation(alität) zu besitzen, ist kein inhärentes Attribut der Menschlichkeit, aber er hat diesen Anschein erworben« (Ernest Gellner). Es handelt sich, bei der meistens staatlich mitgestalteten und mitgetragenen nationalen Territorialisierung im Augenblick des realen Substanzverlusts der Differenz zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft um eine Form von »invented traditions« (Eric J. Hobsbawm): Hymnen, Feste, Folklore, Fahnen, Kasernendrill, Erziehungsrituale – Instrumente im nationalen Baukasten. Im großen Schatten des Nationalen lassen sich sehr vielseitige Geschäfte abwickeln. Der Verdacht, dass hier in der Regel ziemlich Trübes geschieht, wenn man richtig hinsieht, ist für eine aufklärerische und kritische Position unverzichtbar.
Im Falle Deutschlands sind die teutonisierenden Konstruktionen geradezu grotesk: Als staatsrechtlich relevanter Begriff taucht »Deutschland« überhaupt erst im 19. Jahrhundert auf – in der Deutschen Bundesakte vom 8.7.1815. Vorher ist die vermeintliche Nation zwischen dem 16. und 19. hauptsächlich adjektivisch und in den Köpfen einiger Intellektueller vorhanden. Zu den objektiven Determinanten des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und – nur ansatzweise – staatlichen Zusammenlebens der Menschen zwischen Mittelalter und 18. Jahrhundert konnte die Nationalität schon allein deshalb keine wichtige Rolle spielen, weil diese Gesellschaften und Staaten, die ihre Truppen oft und gerne aus »Ausländern« rekrutierten, um den eigenen Bevölkerungsbestand zu schonen, in einem strikten Sinne a-national waren. Die Oberschichten, allen voran Adel und Klerus, orientierten sich an gesamteuropäisch generierten Handlungskodizes, Kulturmustern und Moden; oft sprachen sie die Sprache »ihres« Volkes nicht oder nur unzureichend. Für das Volk, für die Unterschichten also, hörte die Welt buchstäblich am Dorfrand auf. Sie waren nach Sprache, Sitten, Kultur, sozialen Beziehungen und wirtschaftlichen Verflechtungen während Jahrhunderten lokal, allenfalls regional geprägt. Und die Angehörigen der sehr dünnen Mittelschicht, die allein Nationalität als Abgrenzungs- und Anerkennungsmerkmal hätte ausbilden können, verkehrten untereinander als Gelehrte lateinisch und als Händler kommerziell – auf jeden Fall eher nach kosmopolitisch-universalistischen Standards als nach nationalen (K. F. Werner 1992).
Auch die Sprache bildet – entgegen dem naiven, national getrimmten Denken des 19. Jahrhunderts – dort kein objektives Abgrenzungskriterium mehr, wo Mehrsprachigkeit die Norm abgibt und es mithin nur vom Willen der Individuen oder den mehr oder weniger zufälligen Einflüsterungen, denen sie ausgesetzt sind, abhängt, welcher (Sprach-) Nation sie angehören wollen. Als Mitglied der polnisch-deutsch-litauisch versippten Oberschicht z. B. konnte man sich sprachlich, kulturell oder politisch je nach Opportunität an mindestens drei Sprach-»Nationalitäten« positiv orientieren – an der polnischen, der deutschen oder der litauischen; und negativ besetzt blieben wenigstens zwei, die jüdische und die russische; für die östlichen Teile der ehemaligen Habsburger Monarchie gilt Ähnliches, ebenso wie für große Bereiche des Balkans. Der US-Soziologe W. B. Pittsburg stellte schon 1882 fest: »Der einzige Weg, um zu entscheiden, ob ein Individuum zu einer oder der anderen Nation gehört, ist, es zu fragen.«
Im angeblich nationalstaatlich dominierten 19. Jahrhundert gab es genau einen Staat, den man ohne größere Vorbehalte als homogenen Nationalstaat bezeichnen konnte: Portugal (Hobsbawm). Richtig ist freilich, dass es sich zum Teil um ein von nationalistischen Ideologien beherrschtes Jahrhundert gehandelt hat, was notorisch verwechselt und zusammengeworfen wird.
Der Nationalstaat war vor allem der ideologische Panzer, den sich (bis 1914 fast ausschließlich) jene mittleren sozialen Klassen und Schichten gegen die Bedrohung überzogen, die sie als die gefährlichste am Horizont aufgehen sahen: die internationalistische und sozialistische Arbeiterbewegung. Den Höhepunkt erreichte der Nationalismus jedoch nicht im 19., sondern erst im 20. Jahrhundert – nach dem epochalen Bruch von 1917, d. h. dem Eintritt der USA in den bislang europäischen Krieg und dem Ausbruch der Oktoberrevolution. Der Nationalismus und der national definierte Staat bot jenen mittleren sozialen Klassen und Schichten vor allem in der zerfallenen Donaumonarchie einen Schutz gegen die drohende soziale Revolution; den siegreichen Alliierten erschien die Zerschlagung des Habsburger Imperiums in Kleinstaaten als probates Mittel, das kriegerische Potential aufzusplittern und zu neutralisieren. Wenn die Gelehrten-Floskel vom Pyrrhussieg je zutraf, dann auf die Geschichte und die Praxis des 1918 durch die Sieger proklamierten Prinzips des »nationalen Selbstbestimmungsrechts«.
Literatur
Beumann, H. (1986): Zur Nationenbildung im Mittelalter, in: Nationalismus in vorindustrieller Zeit, hg. v. O. Dann, München.
Bluntschli, J. C.; Brater, K. L. (1862): Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 7, Artikel Nation und Volk, Nationalitätenprinzip, Stuttgart, Leipzig.
Bubner, R. (1991): Staat und Weltstaat, NZZ vom 5.7.1991.
Busche, J. (1991): Des Deutschen Vaterland, in: Kursbuch 104.
Conze, W. (1983): »Deutschland« und »deutsche Nation« als historische Begriffe, in: Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart, hg. v. O. Büsch u. J. J. Sheehan, Berlin 1985.
Forrest, A. (1988): Art. La révolution et l’Europe, Dictionnaire de la révolution française, éd. F. Furet, M. Ozouf, Paris.
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Guenée, B. (1971): L’occident aux XIVe et XVe siècles. Les États, Paris.
Hobsbawm, E. J. (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt.
Lansing, R. (1921): Die Versailler Friedensverhandlungen, Berlin.
Resolutionen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker (1990), hg. v. J. Schulz, K. Mann (= Die Vereinigten Nationen und ihre Spezialorganisationen. Dokumente, Bd. 3, Tl. 2, Berlin).
Rothfels, H. (1952): Zur Krise des Nationalstaats, in: ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959.
Rougemont, D. de (1962): Europa. Vom Mythos zur Wirklichkeit, München.
Schlesinger, W. (1965): Die Auflösung des Kaiserreiches, in: Ausgewählte Aufsätze 1965-1979, Sigmaringen 1987.
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Sieyes, E. J. (1789): Was ist der dritte Stand? in: ders., Politische Schriften, hg. v. E. Schmitt u. R. Reichardt, Darmstadt, Neuwied 1975.
Taine, H. (1893): Les origines de la France contemporaine, Tl. 3, Bd. 3, Paris 1921.
Vossler, K. (1913): Frankreichs Kultur und Sprache. Geschichte der französischen Schriftsprache von den Anfängen bis zur Gegenwart, Heidelberg 1929.
Wenskus, R. (1961): Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln, Graz.
Werner, K. F. (1984): Histoire de France, t. 1: Les origines, Paris. Werner, K. F. (1986): Artikel »Deutschland«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, München, Zürich.
Werner, K. F. (1992): Artikel »Volk, Nation«, in: Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Bd. 7.
Zeumer, K. (1913): Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, hg. v. K. Zeumer, Tübingen.
2 Was keiner versteht, ist »nationale Identität«
1993 verabschiedete sich der Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem Satz in den Urlaub, bei der »nationalen Identität« handle es sich um eine »Notwendigkeit im guten Sinne«. In folgendem Herbst eröffnete der Historiker Kohl den Historikertag mit einer Rede über »nationale Identität« in Europa. Der Verteidigungsminister fuhr bis nach Kasachstan, um die »kasachische Identität zu stärken« (Frankfurter Rundschau 23.8.93). Während es die taz (29.9.93) noch mit dem Neuling »bosnische Identität« hält, bescheidet sich Antje Vollmer mit Häuslichem, »einer neuen Identität der deutschen Intellektuellen«, denen sie in ihrer Konfirmanden-Pädagogik-Sprache die Hausaufgabe aufträgt, »einen neuen Gesellschaftskonsens vorzubereiten«, kurzum »das Anti« zu vergessen und positiv, friedlich und pfadfindermäßig willig zu werden wie eine koalitionsbereite Stammtischrunde zwischen den Kopflosen und den nur Hirnlosen (Der Spiegel 15.1.1993). Die endgültige Zubereitung des von Antje Vollmer & Co. Vorbereiteten, von dem Peter Sloterdijk die »Paläopolitik« (»das Mutter-Kleinkind-Feld neben der sichtbaren Feuerstelle« als »inspirierendem Fokus aller altmenschlichen Gruppen«) bis zum Kalten Krieg und der Keyboard-Philosoph Norbert Bolz den Rest seelsorgerisch betreut, übernimmt dann nach dem Muster institutionalisierter Denkerei das grüne Oberkonsistorium. Das Wort »Identität« hängt seit geraumer Zeit am Schwungrad, und weniger Behende wie Niels Kadritzke (Wochenpost 29.7.1993) werden von der Hektik, mit der sie sich ins Identitäts-Theater einklinken, glatt erwürgt: Er hechelte uns 1993 eine Parallele mit 1933 vor, um doch nur beim probaten Universalputzer zu landen: »es ist zu schaffen« – self-fucking-ignorance, die sich akademisch auch als vierfach gepufferter Weichspüler anbiedert, in der Version eines Neonationalen als »Arbeits-Platz-Sicherheits-Identität«. Da es wieder einmal ums ganz Alte geht, brauchen wir jetzt angeblich »eine neue Identität« (K. O. Hondrich) oder wenigstens schwarz-rot-goldene Socken.
Die Anleihen bei der Wilflinger Landserprosa, beim Plettenberger Mannsdeutsch oder beim Todtnauberger Gestammel sind zwar offensichtlich, aber der Begriff »Identität« bekommt trotzdem Fahrt und der aufgeklärte Leser Beklemmung. Seit einiger Zeit finanziert unter dem Beifall der rechten Intelligenz und der populistischen Presse ein Landmaschinenhändler, der sich in einer rundum passenden Formulierung als »Wurzelgeber« bezeichnet, die »berlinische Identität« mit einer Schloss-Attrappe aus Plastik. So viel zum Boden, aus dem »Identitäten« sprießen. Das wurde nicht immer so krass einfältig gedacht.
Als die Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« 1976 ein Kolloquium über »Identität« veranstaltete, beschäftigten sich die Wissenschaftler mit vielen Aspekten des Themas. Die politisch-historische Seite spielte keine Rolle, der Begriff »nationale Identität« tauchte nur vereinzelt auf. Für die Wissenschaft handelte sich um keine »Notwendigkeit« in irgendeinem Sinne. Odo Marquards Beitrag endete 1976 mit der These, »die Identität ist ... eine Art Zweckmäßigkeit ohne Zweck. ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹: das aber ist ... eine Strukturformel Kants fürs Schöne«. Das mag zutreffen für jenen Teil der Identitätsdiskussion, der die Produktion von Identitäten aus life-style-Klim-Bim und psychologischen Rollenspielen ableitet.
Inzwischen hat sich die Diskussion über Identität längst als alles andere als zwecklos herausgestellt. Aus der Frage nach der Identität ist jene nach der Nation geworden. Die Verpuppung des Marginalen zum Wesentlichen geschah im Zuge der »geistigmoralischen Wende«. Danach ging es zügig abwärts, und schon 1985 konnte der »modische Begriff auf eine beispiellose Karriere zurückblicken« (Lothar Baier). 1986 warnte der Historiker Karl Dietrich Bracher vor dem »Modewort Identität« und dem »künstlichen Ton« in vielen »Identitätsbeschwörungen« (FAZ 9.8.1986). Sein Zunftkollege zur Rechten, Michael Stürmer, hatte drei Jahre zuvor mächtig in die Saiten gegriffen: »Geschichte verspricht Wegweiser zur Identität, Ankerplätze in den Katarakten des Fortschritts« (Neue Zürcher Zeitung 31.5.1983). Der »Ankerplatz« Geschichte erscheint hier, einem von Reinhart Koselleck entdeckten Sprichwort zufolge, als »der unversiegbare Dorfbrunnen, aus dem jeder das Wasser des Beispiels schöpft, um seinen Unflat abzuwaschen«. Eine prächtige Kostprobe dafür bot Claus Leggewie am 23.8.1994 im Hessischen Rundfunk. Ein runder Geburtstag musste dafür herhalten, das subalterne Geschwätz der Pariser Fernseh-Philosophen über Herder als den vermeintlichen Urheber nationalistischer Ansprüche und Irrwege mit den dem mittelhessischen Normalisierungsspeak über »kollektive Identität« zu synchronisieren: nichts außer anachronistischer Projektionen auf das 18. Jahrhundert, vermengt mit dem medialen Schaum (»wir«, »Europa«, »Kroatien«, »Sarajewo« und »multikulturell« sowieso).
»Nationale Identität« bahnte sich ihren Weg von den Kathedern durch die Feuilletons bis zur rechten Wand; eine rechtsradikale Postille verschrieb sich, die französische Nouvelle Droite kopierend, mit ihrem Untertitel »nationaler Identität«. Heute gehört es zur national bis post-links eingefärbten Geschäftsgrundlage, »kollektive«, speziell »nationale Identität« als normal, selbstverständlich und notwendig hinzustellen. »Das für viele europäische Nachbarstaaten prägende historisch-affektive Bezugsfeld der Nation steht nun als ein mögliches Angebot auch in Deutschland wieder zur Verfügung. Langfristig kann dies zur Befriedigung kollektiver Identitätsbedürfnisse beitragen« (W. Weidenfeldt/K.-R. Korte 1991). Die Autoren haben eine »plural angelegte, offene nationale Identität« im Auge, was man nicht einmal einen Euphemismus nennen kann, denn noch jedes bekannte Streben nach »nationaler Identität« war immer und zuerst ein Kampfprogramm gegen innere und äußere Feinde. Für Pluralität und Offenheit war darin so viel Platz wie für Argumente in der Kriegspropaganda. Sich der »nationalen Identität« zu versichern, lief immer auf die rechtliche Zurücksetzung, die soziale Isolation, die Vertreibung oder die Ausrottung der Anderen und Fremden hinaus. Die Ausnahmen bestätigen nicht einmal die Regel, weil sie so selten sind.
Martin Walser mag das Wort »nationale Identität« nicht, setzt aber einen drauf, wenn er Nation mit Geschichte gleichsetzt: »Ich könnte statt Nation auch einfach Geschichte sagen. Nation ist Ausdruck des durch Geschichte Form und Wirklichkeit Gewordenen. Gesellschaft genügt nicht. Gesellschaft ist etwas international Vergleichsnotwendiges; aber in der Gesellschaft ist zu wenig das Geschichtliche enthalten« (taz 11.9.1993). Walser mag auch »Meinungen« nicht; sein Verständnis von Nation und Geschichte zeugt eher von schlichter »Einfalt«.
Die Sehnsucht nach »kollektiver Identität« entsprang seit Napoleons Kriegen, mit denen die Revolution zum Exportartikel gemacht wurde, den Schlachtfeldern und Schützengräben. Die Blutspur des Nationalismus ist die Matrize für den Hang zu kollektiver Gefühligkeit: »Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht« (Ernst Jünger). Ein Freicorps-Mann beschrieb den Kern des Kults um Männer, »die ihre Sache auf nichts gestellt haben« als »kollektive Identität« (Erich Müller): »Denn das, was in uns, in uns allen aufblühte damals, da wir, die Knarre in der Hand, durch Deutschland irrten, das war nicht so ohne weiteres unser eigen Wesen, das war durch mystische Mächte in uns hineingepflanzt, wir wirkten nicht, es wirkte in uns« (Ernst von Salomon). »Kollektive Identitäten« haben mit Aufklärung und Selbstbewusstsein nichts, mit Feindabgrenzung und Gemeinschaftsträumen viel zu tun. In der Jägersprache, die die wilhelminische Gesellschaft und Carl Schmitts Begriff des Politischen als Unterscheidung von Freund und Feind prägte, läuft Identitätsstiftung auf die Landser-Weisheit hinaus: »den Feind schussrecht kommen lassen« (Otto von Bismarck). Carl Schmitt hat den Feind in seiner Demokratiekritik dingfest gemacht. 1933 nannte er ihn beim Namen: »Der Andersdenkende, Andersempfindende und Andersgeartete, das Andersdenken als solches«, das als »Dialektik der Andersheit ... das völkische Empfinden« untergräbt. Schmitt hat die Begriffe »Homogenität« und »Identität« in die Staatsrechtslehre eingeführt und je nach den Zeitläufen völkisch akzentuiert. Das Programm blieb: Staatliche Gewalt sollte unberechenbare Demokratie zur »Volksgemeinschaft« säubern. In der FAZ (9.3.1994) wachsen heute daraus Identitäts- bzw. »Einheitssorgen« und deshalb »nicht mehr Angst vor dem Staat, sondern um ihn«. Wacker.
Was könnte »kollektive« bzw. »nationale Identität« bedeuten? Wo von ihr die Rede ist, bleibt alles finster. Wer stiftet sie wem, wie und wozu? Niemand vermochte bislang darzutun, wie das funktioniert, aber viele reden davon. Frei nach Nestroy: Was keiner versteht, ist »kollektive Identität«. Wenn man weiß, wie Nationen erfunden und konstruiert werden mussten, fällt es nicht schwer, sich den Prozess vorzustellen, wie »kollektive Identitäten« von den Schreibtischen der Ideologen und Professoren in die Köpfe der Bürger gelangen. Viele gestehen das indirekt ein, indem sie nicht von »nationaler Identität«, sondern bescheiden von Vorstellungen in der Preislage »nationaler Gefühle« reden. Unter den Gesichtspunkten von Redlichkeit und Rationalität müsste das ausreichen, um das Thema »nationale Identität« für erledigt zu halten, bis Substantielles vorliegt. Da damit nicht zu rechnen ist und die Identitätswelle weiterrollt, soll geprüft werden, ob und wie man sich unter »kollektiver Identität« etwas Bestimmtes vorstellen kann.